Streiflichter von Andreas Becker
„Unermüdlich bietet sich Papst Franziskus weiterhin als Friedensvermittler an“, schreibt der Vatikanist Sandro Magister. Hat Franziskus aber im Ukrainekonflikt seine Glaubwürdigkeit als neutraler Vermittler verspielt? Wenn ja, wem gelingt es dann, in diesem Krieg die notwendigen Friedensinitiativen zu setzen, um Moskau und Kiew, oder wie manche sagen, besser Moskau und Washington an einen Verhandlungstisch zu bringen?
Franziskus hielt sich, zur Mißstimmung westlicher Staatskanzleien und Meinungsmacher von voreiligen Verurteilungen fern, um für alle Konfliktparteien ein möglicher Ansprechpartner zu sein. Hinter den Kulissen bemüht sich die vatikanische Diplomatie mit großem Einsatz, Dialogmöglichkeiten auszuloten. Inoffiziell steht das Angebot von Franziskus im Raum, im Vatikan als neutralem Boden Friedensverhandlungen zu führen. Der Papst ist die ranghöchste westliche Autorität, die eine einseitige Schuldzuweisung an Rußland ablehnte und der NATO, sprich Washington, eine Mitschuld am Ausbruch des Krieges zuschrieb. Im Mai hatte er in einem Interview gesagt, die NATO habe zu laut vor Rußlands Türen gebellt und Moskau provoziert. Er hatte ebenso angeprangert, daß der Krieg ein Produkt des Waffenhandels sei, um Waffen verkaufen und neue Waffen testen zu können. Er beharrte darauf, nicht von einem russisch-ukrainischen Krieg zu sprechen, sondern von einem neuen Weltkrieg. Auch das ein Hinweis, daß die Interessenlage bei weitem über das hinausgeht, was es auf den ersten Blick scheint. Franziskus ging soweit, in Frage zu stellen, daß es überhaupt einen „gerechten Krieg“ geben könne. (Siehe dazu Roberto de Mattei: Ist Krieg immer ungerecht?)
In den vergangenen zehn Tagen könnte sich jedoch einiges verändert haben, folgt man einigen Kommentatoren. Hat sich auch Franziskus aus dem „Rennen“ um den Frieden genommen wie zuvor schon reihenweise europäische Politiker? Hilft die bedingungslose Frontbildung auf dem Weg zum Frieden, oder verhindert sie dieser vielmehr?
Aus Moskau waren zuletzt erstaunlich harte Worte in Richtung Santa Marta zu hören. Anlaß waren Äußerungen von Franziskus gegenüber der US-amerikanischen Jesuitenzeitschrift America. (Siehe dazu Hackerangriff gegen den Vatikan – wer steckt dahinter?) Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, empörte sich:
„Das ist nicht einmal eine antirussische Haltung, sondern eine unerhörte Verdrehung der Wahrheit.“
Der russische Botschafter beim Heiligen Stuhl, Alexander Awdejew, mit dem es bisher von vatikanischer Seite engen und freundlichen Umgang gab, reagierte „empört“ und sprach von „Unterstellungen“.
Rußlands Außenminister Sergei Lawrow hielt sich zunächst zurück, meldete sich dann aber auch zu Wort, um die Aussagen von Franziskus gar als „unchristlich“ zu brandmarken:
„Der Vatikan hat gesagt, daß sich so etwas nicht wiederholen wird und daß es sich wahrscheinlich um ein Mißverständnis handelt, aber das trägt nicht dazu bei, die Autorität des Kirchenstaates zu stärken.“
Die Vertreter des vatikanischen Staatssekretariats hatten den Brand zu löschen versucht und sich auf höchster Ebene um Beruhigung bemüht.
Die Klugheit und ein Fauxpas
Was aber hatte Franziskus gesagt, das in Rußland solche Empörung auslöste? Franziskus hatte im Interview mit America auf den westlichen Druck verwiesen, Rußlands Präsidenten Wladimir Putin und die russische Regierung zu verurteilen, und erklärt, warum es nicht klug sei, jene, die man an den Verhandlungstisch bringen will, ständig zu verurteilen.
Dabei unterlief dem Papst aber ein diplomatischer Fauxpas, falls es nicht Absicht war: Um die von ihm angemahnte Klugheit walten zu lassen, aber dennoch westlichen Erwartungen entgegenzukommen, sprach Franziskus Verurteilungen aus, allerdings der dritten Reihe und das unkonkret verallgemeinernd. Er erklärte, „viele Informationen über die Grausamkeit“ der russischen Truppen in der Ukraine zu haben. Dem nicht genug, legte der Papst noch nach:
„Die Grausamsten sind im allgemeinen vielleicht jene, die aus Rußland kommen, aber nicht aus der russischen Tradition, wie die Tschetschenen, die Burjaten und so weiter“.
In seinem Versuch, niemand namentlich zu nennen und zahlenmäßig auf Spatzen zu schießen – die Tschetschenen machen ein Prozent, die Burjaten nur 0,3 Prozent der Bevölkerung Rußlands aus –, bekam seine Kritik einen rassistischen Zungenschlag. Darauf mußte die russische Führung reagieren, um den inneren Zusammenhalt der vielen Völker, Volksgruppen, Rassen und Religionen nicht zu gefährden. Die Tschetschenen im Nordkaukasus sind Muslime, die Burjaten in Sibirien sind buddhistische Mongolen.
Kommunikationsfehler sind alles andere als ausgeschlossen. Franziskus spricht häufig spontan und gibt zahlreiche Interviews. Vor allem aber versucht er auf seine jeweiligen Gesprächspartner einzugehen, und das waren US-Amerikaner. Das macht die Gratwanderung schwierig.
Als kurz nach der Veröffentlichung des America-Interviews ein Hackerangriff auf die offizielle Internetseite des Heiligen Stuhls stattfand, wurde im Westen sofort mit dem Finger auf „die Russen“ gezeigt. Doch Zurückhaltung ist die Mutter der Klugheit. Franziskus sagte in dem Interview zahlreiche andere Dinge, die im Westen wenig Freude ausgelöst haben.
Schewtschuks Besuch in Rom
Die Frage ist seither, ob es sich um ein Mißverständnis handelte oder ob Franziskus nach bald zehn Kriegsmonaten eine Kursänderung vollzogen hat. Dagegen spricht einiges. Franziskus ist für sein Beharren auf einen einmal eingenommenen Standpunkt bekannt. Bekannt sind auch die Grundzüge seiner geopolitischen Vorstellungen. Noch weniger glaubwürdig ist, daß er einen Krieg bis zum „Sieg der Ukraine“, sprich, der Niederlage Rußlands wünscht.
Es ist daher ein Blick auf das notwendig, was in den Tagen vor dem Interview geschehen ist. Das America-Interview fand am 22. November statt und wurde am 28. November veröffentlicht. Am 7. November hatte Franziskus Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk von Kiew-Halytsch der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche in Audienz empfangen.
Es hieß zuletzt oft, Franziskus und Schewtschuk, die sich noch aus Buenos Aires kennen, hätten ein enges, freundschaftliches Verhältnis. Das stimmt aber nur bedingt. Als es 2016 auf Kuba zum historischen Treffen zwischen dem Papst und dem russisch-orthodoxen Patriarchen von Moskau kam, waren aus der mit Rom unierten griechisch-katholischen Kirche der Ukraine lautstarke Töne einer ernsten Verstimmung zu hören. Franziskus sah sich gedrängt, besondere Gesten zu setzen, um die Unstimmigkeiten einigermaßen auszuräumen.
Es ist vielmehr ein gewisses ukrainisches Mißtrauen, das seither die Stimmung prägt. Schewtschuk bemühte sich in der Audienz intensiv, Papst Franziskus für die ukrainische Sache zu gewinnen, womit nicht die humanitären Aspekte gemeint sind, sondern jene einseitige politische Unterstützung, die Franziskus bisher nicht in der Weise gewährt hatte, wie sie die Achse Kiew-Brüssel-Washington wünscht. Wie es heißt, zog Schewtschuk dabei zahlreiche Register und erreichte, daß sich Franziskus mit einem Brief direkt an das ukrainische Volk wandte. Dieser Brief, sehr bewegend verfaßt, wurde am 24. November veröffentlicht und geht nicht nur auf eine Anregung des ukrainischen Großerzbischofs zurück, sondern erinnert in Sprache und Stil so deutlich an dessen eigene Stellungnahmen, daß die Autorenschaft im wesentlichen Schewtschuk zuzuschreiben ist.
Franziskus kam den Wünschen, die durch den unierten Kirchenoberen im Namen der Ukrainer an ihn herangetragen wurden, in hohem Maße entgegen. Auf Schewtschuk geht auch zurück, daß Franziskus in diesem Brief des Heiligen Vaters an das ukrainische Volk, sondern schon bei der Generalaudienz am 23. November, beim Angelus am 27. November und am 28. November im America-Interview den Holodomor, in dem 1932/33 Millionen von Ukrainern verhungerten, als „schrecklichen Völkermord“ bezeichnete. Der Papst sprach von einer „Ausrottung durch Verhungern“, die von Stalin, dem kommunistischen Diktator, durch eine „künstlich herbeigeführte“ Hungersnot erzielt wurde.
Das entspricht der Diplomatie von Franziskus: Er spricht von einem historischen Ereignis, um dem ukrainischen Volk beizustehen, ohne im heutigen Ereignis direkt Partei zu ergreifen. Dabei ging Franziskus soweit, von einem „historischen Präzedenzfall“ zu sprechen.
Im Gefolge von Schewtschuks Besuch und dem päpstlichen Brief erhöhten sich die medialen Bemühungen, Franziskus für das antirussische Boot zu reklamieren. Die Kursänderung wird allerdings von interessierter Seite mehr herbeigeschrieben. Die Wortwahl von Franziskus gegenüber der US-amerikanischen Zeitschrift bezeichnete eine Quelle im vatikanischen Staatssekretariat als „unvorsichtig“. Nach dem Geschmack des Staatssekretariats habe Franziskus Schewtschuk etwas zu stark die Hand führen lassen. Von einer Kursänderung sei jedoch keine Rede.
Nicht Schewtschuk hat die Linie des Vatikans gefährdet, sondern die Spontaneität von Papst Franziskus.
Nein zu Waffenlieferungen und Sieben-Punkte-Friedensplan
Die Friedensbewegung in Italien, stark von linkskatholischen Kreisen geprägt, die Franziskus vor Augen hat, lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine kategorisch ab. Doch diese will auch die neue italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni fortsetzen und signalisierte damit, sich außenpolitisch Washington zu fügen. Sie holte sich Ende November vom Parlament ein Mandat, die Abtretung von Waffen und Rüstungsgütern an die Ukraine das ganze Jahr 2023 fortsetzen zu können. Franziskus hat bisher mit keinem Wort Waffenlieferungen gutgeheißen oder auch nur Verständnis dafür gezeigt.
Soweit wie Andrea Riccardi, der Gründer der Gemeinschaft von Sant’Egidio, ging der Papst allerdings nie. Riccardi hatte im Frühjahr gefordert, Kiew zur „offenen Stadt“ zu erklären, um ein Blutvergießen und Zerstörungen zu verhindern, was eine kampflose Besetzung der ukrainischen Hauptstadt durch die russischen Truppen bedeutet hätte. Bei der großen Friedenskundgebung am 5. November in Rom, bei der Riccardi die Schlußrede hielt, waren wenig verwunderlich keine ukrainischen Fahnen zu sehen.
Franziskus steht der Position des Avvenire näher, der Tageszeitung der Italienischen Bischofskonferenz, die täglich für den Frieden in der Ukraine schreibt, aber ebenso deutlich gegen Waffenlieferungen, die als Ausdruck eines Stellvertreterkrieges gesehen werden. Chefredakteur Marco Tarquinio sagt es nicht offen, läßt aber deutlich genug durchblicken, daß in diesem Krieg die von den NATO-Staaten aufgerüstete ukrainische Armee eine Hilfstruppe der Regierung Biden sei, um Rußland zu schwächen.
Auch aus diesem Blickwinkel wird das ukrainische Volk als Opfer gesehen, allerdings weniger der russischen Aggression als der geopolitischen Egoismen Washingtons.
Der Vatikan stellte sich allerdings bisher nicht offiziell hinter den Sieben-Punkte-Friedensplan, den die beiden prominenten katholischen Intellektuellen Stefano Zamagni und Mauro Magatti ausgearbeitet und in der Oktoberausgabe der Zeitschrift Paradoxa vorgelegt haben. Zamagni ist Präsident der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften, unter Franziskus ein wichtiges Zentrum der politischen Initiativen des Papstes; Magatti ist Professor für Soziologie an der Katholischen Universität Mailand und Sekretär der Sozialwochen der italienischen Katholiken, einer 1907 erstmals auf Anregung des Wirtschaftswissenschaftlers Giuseppe Toniolo durchgeführten Studientagung, die seither alle zwei Jahre stattfindet, um eine „Sensibilisierung für die wahre christlich-soziale Botschaft“ zu erreichen. Anstoß dafür war eine an Italiens Bischöfe gerichtete Sozialenzyklika von Papst Pius X. von 1905.
Der Sieben-Punkte-Friedensplan, wie in Zamagni Ende September im Avvenire vorstellte, sieht vor:
- Neutralität der Ukraine, die auf den NATO-Beitritt verzichtet, aber das uneingeschränkte Recht behält, ein Mitglied der EU zu werden. Eine UNO-Resolution soll Mechanismen zur Überwachung einführen, sodaß die Einhaltung des Friedensabkommens garantiert wird.
- Der Ukraine wird die volle Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität garantiert. Eine entsprechende Garantieerklärung soll durch die fünf ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrats (USA, Rußland, Volksrepublik China, Großbritannien und Frankreich) sowie der EU und der Türkei erfolgen.
- Rußland behält de facto noch für eine bestimmte Anzahl von Jahren die Kontrolle über die Krim, während der die beiden Seiten auf diplomatischer Ebene auch de iure eine dauerhafte Lösung suchen. Die örtliche Bevölkerung erhält freien Verkehr von Personen und Kapital sowohl zu Rußland als auch zur Ukraine.
- Die Regionen Lugansk und Donezk bleiben fester Bestandteil der Ukraine, erhalten jedoch wirtschaftliche, politische und kulturelle Selbstverwaltung.
- Rußland und Ukraine erhalten sicheren Zugang zu den Schwarzmeerhäfen, um ihre normalen Handelsaktivitäten abwickeln zu können.
- Schrittweise Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Rußland parallel zum Rückzug der russischen Truppen und Waffen aus der Ukraine.
- Schaffung eines multilateralen Fonds für den Wiederaufbau und die Entwicklung der zerstörten Gebiete in der Ukraine, einschließlich Lugansk, Donezk und Krim, an dem sich Rußland auf der Grundlage eines festgelegten Schlüssels beteiligt. (Konkret wird dabei auf die Erfahrungen mit dem Marshallplan verwiesen.)
Der Plan folgt im Kern der westlichen Nachkriegsordnung für Europa, die eine Angliederung von Territorien an einen anderen Staat kategorisch ausschließt (weshalb Kosovo und Moldawien und das Ungetüm Bosnien-Herzegowina existieren). Akzeptabel ist für Brüssel und Washington hingegen, daß sich Gliedstaaten loslösen und souveräne Eigenstaatlichkeit erlangen – allerdings nur dann, wenn es den politischen Interessen Brüssels und Washingtons entspricht (siehe die Teilung der Tschechoslowakei, die Auflösung Jugoslawiens und zuletzt die Lostrennung Montenegros von Serbien). Wo es nicht den Plänen Brüssels und Washingtons entspricht, wird die territoriale Integrität beschworen (siehe die verhinderte Lostrennung von Katalonien, des Baskenlandes, von Südtirol, Schottland, Korsika). Die von russischer Seite, oder ihr zuneigenden Medien, behauptete Absicht Polens, die bis 1939 polnische Westukraine zu annektieren, geht an der Realität völlig vorbei. Lemberg war zwar einmal eine mehrheitlich polnische Stadt, doch die Bevölkerung der Westukraine war immer großteils ukrainisch. Im Rahmen der westlichen Doktrin wäre bestenfalls eine eigenständige Republik Krim, möglicherweise auch die Eigenstaatlichkeit einzelner Oblaste denkbar. Allerdings nur in der Theorie. Denn praktisch gibt es derzeit nicht die geringste Bereitschaft, die Ukraine zugunsten rußlandfreundlicher neuer Staaten zu verkleinern.
Die Aussichten des Sieben-Punkte-Friedensplans, der dem Rechnung trägt, sind dennoch völlig unsicher. Er läßt jedoch erkennen, in welche Richtung die vatikanische Diplomatie derzeit arbeitet.
Bild: VaticanMedia/Wikicommons (Screenshots)
Waren die Gebiete mit katholischer Minderheit ursprünglich polnisch und haben dort die Massaker der ukr. Nationalisten gewütet? Polen ist an der Rückgewinnung interessiert.
Der Beginn des 2. Weltkrieges ähnelt frappierend den Vorgängen, die zum Ukrainekrieg geführt haben.
Schön, daß hier offen und ehrlich über diese Dinge geschrieben wird.
Die russisch bewohnten Gebiete können wegen der erfolgten Übergriffe gegen russische Bürger nicht Teil der Ukraine bleiben. Es handelt sich hier ja nicht um mitlitärische Aktionen, sondern einen Krieg innerhalb der Zivilbevölkerung. Da wird nie Ruhe einkehren.
Ich denke hier liegt die Agenda von Franziskus zu Grunde. Er propagiert Frieden durch einen offeneren Umgang miteinander. Freimaurerische Ideale sind das. Würde er Frieden durch Christus in den Herzen predigen, dann könnte ein Friedensplan anders aussehen.