(Rom) Kurienerzbischof Vincenzo Paglia, Vorsitzender der Päpstlichen Akademie für das Leben, erweist sich wieder einmal als sehr wendig, wenn es darum geht, das Lebensrecht aufzuweichen. Im aktuellen Fall zum Thema Euthanasie.
Msgr. Paglia ist einer der Gründer der Gemeinschaft von Sant’Egidio, die den umstrittenen ökumenischen „Geist von Assisi“ hervorbrachte, und war von 2012 bis 2016 Vorsitzender des Päpstlichen Rats für die Familie des Heiligen Stuhls. Sein Aufstieg läßt sich durch den Lobbyismus seiner Gemeinschaft erklären, deren geistlicher Assistent er war. Eine Gemeinschaft, deren Gründer und ehemaliger Vorsitzender Andrea Riccardi kein Hehl aus seiner Genugtuung über den Rücktritt von Benedikt XVI. machte und die so einflußreich ist, daß sie 2015 von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Staatsbesuch in Rom aufgesucht wurde.
Die Liste zweifelhafter Aussagen von Msgr. Paglia ist nicht nur lang, sondern sehr lang. Wenige Tage bevor Papst Benedikt XVI. seinen Amtsverzicht bekanntgab, sagte er als damaliger „Familienminister“ des Vatikans, daß die Ehe zwar einem Mann und einer Frau vorbehalten sei, daß es aber eine „Notwendigkeit“ für die Staaten gebe, vermögensrechtliche und andere Aspekte für homosexuelle Partnerschaften gesetzlich zu regeln. Gleichzeitig forderte er eine Legitimierung der Homosexualität in jenen Staaten der Welt, in denen sie strafbewehrt ist. So erahnt man, was Msgr. Paglia alles unter „kreativer Liebe“ versteht, der er mit Blick auf die zweite Familiensynode 2015 das Wort redete. Die Anerkennung von Scheidung, Wiederverheiratung und anderer irregulärer Situationen rechtfertigte Paglia mit dem Hinweis, daß sich nicht das Evangelium ändere, sondern eine „intelligentere“ Interpretation für dieses gefunden werde, die mit der Praxis „besser übereinstimmt“.
Die Anerkennung der Homosexualität gehört zu den besonderen Anliegen des Kurienerzbischofs. In seiner ehemaligen Bischofskirche von Terni ließ er 2007 vom homosexuellen argentinischen Künstler Ricardo Cinalli ein monumentales Jüngstes Gericht malen, dessen Hauptmotiv nackte Männerkörper sind und dessen Hauptaussage laut Cinelli lautet: „Homosexuelle und Transsexuelle werden auch gerettet“.
Im Auftrag von Papst Franziskus säuberte Paglia 2016/2017 die Päpstliche Akademie für das Leben von Akademiemitgliedern, die, obwohl auf Lebenszeit ernannt, für den päpstlichen Geschmack zu unnachgiebige Verteidiger des Lebensrechts waren. Stattdessen halten seither Neomalthusianer, Abtreibungs-Lobbyisten und Euthanasie-Befürworter im Vatikan Einzug.
Damit nähern wir uns dem jüngsten Vorfall: Zu den entschiedensten Abtreibung- und Euthanasie-Befürwortern gehört in Italien die Radikale Partei, eine radikalliberale, menschen- und kirchenfeindliche Gruppierung, deren Erscheinungsbild von zwei Figuren und ihrem Denken beherrscht wird, von Marco Pannella und Emma Bonino. 2007 standen sie mit der Parole: „No Vatican, No Taliban“ lautstark auf dem Petersplatz, schließlich regierte damals noch Benedikt XVI. Zehn Jahre später, nunmehr mit Franziskus auf dem Stuhl Petri, saß Erzbischof Paglia auf dem Podium, um gemeinsam mit Exponenten der Radikalen Partei eine Biographie des im Mai 2016 verstorbenen Marco Pannella vorzustellen. Dabei redete sich der Kirchenmann vor Lob ins Delirium, erzählte, daß Franziskus ihn zu Pannella geschickt hatte, den der Papst lobte, denn dieser habe „geglaubt, woran er glaubte“. Von einer Bekehrung Pannellas, oder daß dieser sich von seinen Positionen distanziert hätte, war keine Rede.
Das Paglia-Interview
Am 26. August veröffentlichte die italienische Tageszeitung Quotidiano Nazionale, die zu einer Gruppe linksliberaler Zeitungen gehört, ein Interview mit Erzbischof Paglia. Nach einem Anfang, der erhoffen ließ, der Kurienvertreter werde standhaft sein, glitt der „Lebensrechtsminister“ des Heiligen Stuhls doch in eine „weiche“ Linie ab. Thema des Interviews ist der jüngste Vorstoß der Radikalen Partei zur Legalisierung der Euthanasie.
Die Radikale Partei will die Todesspritze und andere Euthanasie-Methoden legalisieren und strebt dazu eine Volksabstimmung an, um die geltende Bestimmung abzuschaffen.
Msgr. Paglia äußert die Hoffnung auf ein Gesetz zum Lebensende, das von allen mitgetragen werde. Damit reichte er den Euthanasie-Proponenten die Hand, da er schon vor Beginn eines Dialogs zu verstehen gab, daß die Kirche bereit sei, das „kleinere Übel“ zu akzeptieren. Der Rechtsphilosoph Tommaso Scandroglio schreibt dazu:
„Die übliche Strategie des kleineren Übels, die erkennen läßt, daß man im katholischen Haus gar nicht mehr daran denkt, den Gegner zu besiegen. Paglia scheint nicht mehr überzeugt, daß es für alle ein Übel zu sein hat, Unschuldige zu töten. Ein beunruhigender Werte-Synkretismus.“
Das Interview enthält durchaus wertvolle Aussagen des Kurienvertreters, z. B. wenn er die Unterstützungsunterschriften für das Referendum als „kollektive Stimmung“ beschreibt, die „sich mehr von Emotionen als von Argumenten leiten“ lasse. Oder wenn er von einer sich „ausbreitenden Kultur der Aussonderung“ spricht, die geradewegs zu einer Mentalität führe, zu meinen, daß „jeder Wehrlose folgenlos eliminiert“ werden könne. Das gilt auch, wenn Paglia sagt: Gegen die Euthanasie zu sein, bedeutet nicht, für das Leiden zu sein:
„Die Kirche ist der Überzeugung, daß die Würde des Menschen auch im Sterben geschützt werden kann. Die Schmerzbekämpfung ist entscheidend. Heute ist es möglich zu sterben, ohne von Schmerzen gepeinigt zu werden.“
„Nachdem unser Mann so viele Gegner brillant ausgetrippelt und sich vorgekämpft hat, macht er aber was? Anstatt ins gegnerische Tor zu schießen, schießt er auf das eigene Tor“, so Scandroglio.
Im Interview möchte der Journalist mit seiner letzten Frage einen Kommentar zu einem Verfassungsgerichtshofsurteil hören, mit dem die „Sterbehilfe“ angestoßen wird. Und hier pötzlich kommt Msgr. Paglia ins Schlingern:
„Es ist nicht meine Zuständigkeit, direkt darauf einzugehen, was das Parlament zu tun hat oder nicht. Ich hoffe, daß die Angelegenheit nicht aufgegeben wird. Und vor allem, daß man zu einem Gesetz über das Lebensende gelangt, das, ohne sich von Eile oder ideologischem Eifer bedingen zu lassen, das Ergebnis eines Dialogs zwischen unterschiedlichen Positionen sein kann, ohne daß irgendeine Stimme, auch nicht die der im Land präsenten religiösen Realitäten, a priori ausgeschlossen ist.“
Paglia fügt noch hinzu, offensichtlich an die katholische Seite gerichtet, daß „keine apokalyptische Mauer“ errichtet werden solle.
Scandroglio widerspricht: Msgr. Paglia habe „sehr wohl“ die Zuständigkeit, die Arbeit des Parlaments zu beurteilen:
„Es ist die Aufgabe der Kirche, die moralische Gültigkeit oder Nichtigkeit der Gesetze zu überprüfen, auch dann, wenn sie in Kraft sind.“
Falsch sei auch die Hoffnung, daß die „Angelegenheit“ nicht aufgegeben werde:
„Ein Gesetz, das die Sterbehilfe legitimiert, wäre ein ungerechtes Gesetz und darf als solches im Parlament nicht zur endgültigen Abstimmung gelangen. Ein solches Gesetz muß aufgegeben, versenkt oder zumindest in jeder Hinsicht behindert werden.“
Daher müsse „eine apokalyptische Mauer“ errichtet werden, so der Rechtsphilosoph, die die Verabschiedung solcher Gesetze verhindert.
„Euthanasie ist eine absolute Moral und kann daher unter keinen Umständen legalisiert werden.“
Doch Erzbischof Paglia vermittelt in dem Interview eine andere Botschaft. Er gibt die inhaltliche Ebene auf und verlagert die Frage auf eine formale Ebene: „Das Gesetz über das Lebensende ist gut, solange es ein gemeinsames ist“, gibt Scandroglio die Paglia-Aussage wieder.
Kommt das Gesetz unter Einhaltung der parlamentarischen Spielregeln und als Ergebnis eines umfassenden Dialogs zustande, sei es ein gutes Gesetz, unabhängig von seinem Inhalt. Im Umkehrschluß bedeute das: Wenn das Gesetz nur die Meinung einer Seite widerspiegelt, z. B. jene der radikalen oder der katholischen Seite, dann sei es demnach, laut Msgr. Paglia, ein schlechtes Gesetz.
Scandroglio fragt sich, warum für Msgr. Paglia nur ein „gemeinsames“ Gesetz ein gutes Gesetz sein könne:
„Weil er nicht davon überzeugt ist, daß das Töten von Unschuldigen für alle schlecht ist. Es sei ein moralisches Verbot für uns Gläubige, aber wir könnten es doch anderen nicht auferlegen.“
Daraus folgert der Rechtsphilosoph:
„Das bestmögliche Ergebnis ist, laut Msgr. Paglia, ein Gesetz, das das Ergebnis des Synkretismus der Werte ist: Jeder gibt seinen Wert dazu und so kommt am Ende ein ausgewogenes Gesetz heraus, wo alle auf etwas verzichtet haben, damit alle etwas einfügen konnten.“
Das widerspreche aber, so Scandroglio, dem katholischen Verständnis eines gerechten Gesetzes.
„Einem Übel kann nie zugestimmt werden, auch dann nicht, wenn ein ungerechtes Gesetz nur ein kleineres Übel enthält.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL