von Ferdinand Boischot
In den 70er Jahren explodieren in Belgien die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten: drei Ölkrisen, eine tiefgreifende Deindustrialisierung, eine rasante Inflation, ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit, landesweite Streiks, innenpolitische Zerrüttung mit dem Aneinanderreihen von politischen Krisen und Skandalen, eine fortschreitende Föderalisierung des Landes und der Niedergang der großen Volksparteien und des Unitarismus [staatliche Einheit Belgiens] führen zu einer progressiven Desintegration des Landes.
Auf religiösem Gebiet wird Belgien, besonders der nördliche, niederländischsprachige Teil, zu einem Sion desolata.
Wegen des hochmütigen Mandements der belgischen Bischöfe im Mai 1966 betreff „Löwen“ fällt der Kirchgang schlagartig um die Hälfte ab.
Eine verwirrte Restkatechese, sehr häufige Dummheit des Säkularklerus, gefühlsbetonte nachkonziliare Werbeaktionen geprägt von Infantilität, Debilität und nicht selten totaler Häresie und Apostasie lassen einen großen und kontinuierlich wachsenden Teil der Bevölkerung jedes Interesse an Religion verlieren.
Das Ansehen der kirchlichen Hierarchie, Kardinal Suenens voran, sinkt bis auf den Nullpunkt.
Die einst weltbekannte Fakultät für Theologie der Universität Löwen verliert rasant an Qualität und verkommt zu einer modernistisch geprägten Abteilung für Religionswissenschaften ohne Niveau.
Besonders verhängnisvoll ist das Desinteresse eines Großteils der früheren katholischen, geistigen Elite Flanderns.
So spielt sich das postkonziliäre kirchliche Leben immer mehr in kleinen Gruppen und Reservaten ab, weitgehend abgeschottet von der Öffentlichkeit und ohne fundamentaltheologische Fundierung und/oder Korrektur.
Mitte der 70er Jahre kommt es zu Stabilisierungsversuchen: Auf politischem Gebiet schlägt die christendemokratische Partei CVP (heute cd&v) einen sehr linken Kurs ein und nimmt ostentativ viel Abstand zum katholischen Glauben und besonders zur katholischen Kirchenlehre und Moral. Ihre Führer werden sich später durch die Bank als breitgeistig, agnostisch, atheistisch-philosophisch und/oder als Bilderberger herausstellen.
Religiös: 1975 wird total unerwartet der aus Westflandern stammende modernistische Liturgieprofessor der Universität Löwen, Godfried Danneels, zum Bischof von Antwerpen ernannt, wenig später dann zum Erzbischof von Mecheln-Brüssel und 1983 zum Kardinal.
In den folgenden Jahren werden sukzessive alle wichtigen Stellen mit modernistische Freunden und Gefährten von Danneels besetzt. Die gesamte kirchliche Struktur, inklusive Priesterausbildung und Katechese, wird um die Achse Brügge – Universität Löwen (Jozef Bulckens, Roger Burggraeve, viele Orden (Jesuiten, Oblaten, Assumptionisten) zentriert, und der Modernismus auf alle Ebenen rigoros durchgedrückt.
Kardinal Danneels und der Bischof vo Brügge (erst Desmedt, ab 1985 VanGheluwe) vernetzen das kirchliche Leben sehr eng mit der christdemokratischen Partei und den belgischen, unitären Staatsstrukturen und gehen dazu alle mögliche Kompromisse ein.
1976 wird der Westflame Waldebert Devestel ( geboren in Brügge, 1930), Altersgenosse und Bekannter von Danneels, bis dahin Vikaris-general, zum Generaloberen der Kongregation der Broeders van Liefde gewählt.
Devestel war schon 1967 verantwortlich gewesen für das Verfassen der neuen Ordensregeln und für die Umstrukturierung der vielen Ordenseinrichtungen.
Besonders auffallend ist das fast komplette Fehlen von historischer Forschung über diese Jahren. Der Wikipedia-Eintrag z.B. von Waldebert Devestel (der 25 Jahre die Kongregation als Generaloberer führte) umfaßt keine neun Zeilen!
Parallel dazu tritt Raf De Rijcke (Raphael Florent De Rijcke) (geboren 1947) auf den Plan: Gestartet war er als Lehrer der Wirtschaft in einer Schule in Ostflandern; 1972 bis 1987 war er Prokurist (Verwaltung, Fiskal, Finanzen, sozialjuristische Fragen) bei dem Provincialaat der Broeders van Liefde; von 1987 bis 1994 dann Adjunkt-Sektorverantwortlicher; von 1994 bis 2006 Sektorverantwortlicher und ab 2006 dann geschäftsführender Verwalter des ganzen Provinciaalat, worunter alle Schulen für ordentlichen und Sonderunterricht, alle Wohlfahrts- und Versorgungseinrichtungen und 10 psychiatrische Krankenhäuser in Flandern gehören. Das Provincialaat meint nicht das Ordensprovinzialat, sondern so heißt der Rechtsträger aller sozialkaritativen und medizinischen Einrichtungen des Ordens.
Die belgische Wikipedia gibt für ihn 17 (siebzehn) Aufsichtsrats- und Vorstandsmandate an.
Mit königlichem Beschluß vom 13 Juli 2012 wurde Raphael De Rijcke wegen seinen Verdienste für Belgien als Ritter in den erblichen Adel erhoben.
Die geschlossene Welt der Schulen und Einrichtungen für Behinderte, der Paternalismus, den die Broeders in der belgischen kirchlichen Hierarchie genießen, die öffentlich herausposaunte und demonstrierte Gutmenschlichkeit einerseits und der Verlust der alten spirituellen und organisatorischen Basis, kombiniert mit totaler Offenheit für den „Zeitgeist“ anderseits, die ungesunde Einbettung in eine de facto fremdgeistige Parteipolitik mit sehr kuriosen und ultramodernistischen Strömungen und zugleich das Desinteresse von großen Teilen der enttäuschten flämischen Katholiken schafften den Rahmen für einen jahrzehntelang tolerierten, institutionalisierten und aktiv vertuschen Mißbrauch in den Ordenseinrichtungen.
Unter Danneels wurde Pädophilie in der Kirche breit toleriert und geschützt.
Ab 1985 wurde um Verständnis und Sympathie für Pädophile geworben, sogar im Kirchenblatt Kerk & Leven; Homophilie wurde verdeckt für Priester zugelassen, die Sünde allgemein angepriesen weil: „Wo sehr viel Sünde ist, ist noch viel mehr Vergebung“ (sic Danneels).
In der katholischen Kirche unter Danneels ging es im Norden Belgiens nach einem Beobachter weitestgehend immer nur um Sex, in allen Arten und Variationen.
Das ehemals blühende, katholische Leben wurde schnell bis zum Boden abgewrackt, nicht zuletzt durch moralische und sexuelle Aberrationen von Klerikern und durch Skandale.
In den vielen Einrichtungen der Broeders van Liefde fand sich ein für Sexualtäter und Perverse hervorragendes Milieu:
Weitgehend abgeschottet von der Außenwelt, mit einfachen Kindern und geistig und körperlich Behinderten, Wehrlosen, mit intransparenten Ernennungskriterien für das Personal, mit engem Kontakt und paternalistischer Führung von Ordensmitgliedern, mit modernistischen und hochmütigen Oberen, uninteressiert an den Leiden ihrer schwachen Schützlingen und mit unklaren Verantwortlichkeiten in den Einrichtungen bildeten diese das erträumte Biotop für institutionalisierte und organisierte Kinderschändung.
Die belgischen Staatsstrukturen und die Mainstream-Presse förderten dies zusätzlich durch Weggschauen und Nichtberichten, kurzum, durch schuldiges Versäumnis.
Es wundert nicht, daß der Löwenteil des Mißbrauchs im kirchlichen Rahmen in Belgien in Einrichtungen der Broeders van Liefde stattgefunden hat.
Die Kongregation der Broeders van Liefde hat dieses Problem sehr lange aktiv vertuscht. Sie war – für einen karitativen Orden horribile dictu – bei diesem Problem äußerst unsensibel und nur auf Eigeninteresse bedacht, vor allem finanziell.
Als ab 1985 in der Kirche in Nordbelgien offen und positiv für Pädophilie geworben wird, gibt es kein Wort von Bedenken oder Ablehnung, obwohl gerade diese Kongregation intensiv mit Kindern, Jugendlichen und Behinderten, also mit den am meisten gefährdeten Gruppen, beschäftigt war.
Wenn ab 1995 erst mehrere, später sehr viele Fälle von schwerem Mißbrauch bekannt werden, mauert der Orden, vertuscht, lügt, bedroht die Opfer und die Angehörigen.
Polizeilich besonders ungünstig aufgefallen ist hier der damalige westflämische Provinzobere René Stockman (Fall Anneke, 1995ff). Stockman wurde übrigens nach mehreren gerichtlichen Tribulationen 2000 in Belgien im Jahr 2006 zum Generaloberen des Gesamtordens mit Sitz in Rom gewählt. Die belgisch-bischöfliche Website Kerknet nannte ihn vor kurzem „den höchstpositionierten Belgier im Vatikan und engen Freund von Papst Franziskus“.
Ab 2000 donnert die Aufklärung der vielen Sex-und Mißbrauchsskandale durch Belgien, und es begann die Presse (sehr spät!) breit zu berichten.
Der Orden blamiert sich in Folge in vielen Prozessen.
Nach der Demaskierung des pädophilen Bischofs von Brügge, Roger VanGheluwe, der Bloßstellung von Kardinal Danneels, der Festsetzung des belgischen Episkopats mit Hausdurchsuchungen (Operatie Kelk 2011) und Hinweisen, daß Vertreter der Kirche verwickelt waren in die pädo-und erotophilen Netzwerke des hohen belgischen Milieus (Affäre Dutroux usw.) war die nordbelgische Kirche platt.
Das ganze Elend des Mißbrauchs war offensichtlich.
Der Orden der Broeders van Liefde blieb jedoch total uneinsichtig und zeigte sich bis zuletzt äußerst knausrig und renitent bei Entschädigungszahlungen für die Opfer.
Die Kongregation hatte (die übrigens berechtigte) Angst, daß die (recht niedrige) Entschädigungszahlungen sie bankrott machen würden.
Diese Haltung löste starke Empörung beim neuen Erzbischof André Léonard aus, der ab 2010 Erzbischof von Mecheln-Brüssel wurde, was den Opfern zugute kam. Die Modernisten in Belgien und in Rom haben das Msgr. Léonard aber nie verziehen.
Und was den Gesamtstaat betrifft: 2002 wurde zum ersten Mal seit über 100 Jahren eine Regierung ohne Christdemokraten, dafür aber mit starker freimaurerischer Inspiration gebildet.
Diese liberal-sozialistisch-grün dominierte Regierung führte sogleich die Euthanasie ein, später kam auch die Euthanasie für kranke Kinder und 2012 schließlich die Euthanasie für psychisch Kranke dazu.
Der moralische Diskurs in der belgischen Gesellschaft wird ohnehin seit 50 Jahren von freimaurerischem und linksliberalem Gedankengut beherrscht.
Die Reaktion der belgischen Bischöfe (lobenswerte Ausnahme: der genannte Msgr. Léonard) war wie immer äußerst schwach. Von der „Katholischen“ Universität Löwen, einst die moraltheologische Bastion des Landes und weit darüber hinaus, hörte man nichts.
Der Orden der Broeders van Liefde wehrte sich gegen die Legalisierung der Euthanasie kaum und sicher nicht laut. Als moralisches Feigenblatt wurde einige Male mitgeteilt, daß in den Einrichtungen des Ordens diese Tötungen nicht stattfinden würden.
Im März 2017 brachte die nordbelgische (und mit den dortigen Bischöfen liierte) Zeitschrift Tertio einen Artikel, der die Durchführung von Euthanasie für psychisch Kranken in den Einrichtungen des Ordens mitteilte.
Der Bischof von Antwerpen, Johan Bonny, schon früher extrem modernistisch und offen häretisch aufgefallen, meldete hierauf, daß er sich gut hinter diesen Vorstellungen (des Provincialaats) stellen könne.
Vorsitzender des Provincialaat ist Herman van Rompuy, früherer christdemokratischer, belgischer Politiker und Premierminister, Bilderberger, EU-Ratspräsident und guter Bekannter von Angela Merkel.
Nach seinen eigenen Aussagen vom 2. September 2017 war er in seiner Jugend „ein Revolutionär“ und „ein Atheist“.
Noch bevor aus Rom irgendwelche Kritik an der Euthanasiebereitschaft und Euthanasieaktionen in den Einrichtungen der Broeders van Liefde geäußert wurde, ließ Herman van Rompuy wissen, „daß die Zeiten des Roma locuta causa finita vorbei sind“.
Papst Franziskus rief die belgische Ordensniederlassung zur Änderung ihrer Haltung auf und aus Rom drohte der Generalobere Stockman auch etwas.
Faktisch können sie gegen das Provincialaat, eine autonome Einrichtung (derzeit geführt von 13 Laien, die nicht notwendigerweise gläubig sein müssen, und nur drei Brüdern) nichts ausrichten.
Im Augenblick dürfte der Orden in Belgien noch ca. 40 Mitglieder zählen. Das entspricht dem Stand ganz am Anfang der Kongregation von etwa 1840. Er steht in Belgien vor dem Erlöschen. Er ist schrottreif.
Viel tiefer kann ein Orden moralisch nicht sinken.
Es ist fast überflüssig zu sagen: Visitiert wurde die Kongregation natürlich nicht.
Und bei den jetzigen Zuständen in Rom und in Belgien ist es sehr unwahrscheinlich, daß so etwas alsbald geschehen könnte.
Der Höhepunkt des Zynismus ist dann wohl der Titel des Buches, das der Generalobere Stockman anläßlich des 200-jährigen Jubiläums seines Ordens im Jahr 2006 bei der einmal katholischen Kulturorganisation Davidsfonds herausgab:
„Liefde in actie. 200 jaar Broeders van Liefde“
„Liebe in Aktion. 200 Jahre Brüder der Liebe“
Referenzen:
- René Stockman: Liefde in Actie. 200 jaar Broeders van Liefde, Davidsfonds, Leuven, 2006
- Die Biographien der Generaloberen Devestel und Stockman und von Raf De Rijcke auf der niederländischsprachigen (belgischen) Wikipedia
- Die Encyclopedie der Vlaamse Beweging, Lannoo, 1975
- Wichtig und reichlich vorhanden sind Traktate, Artikel und Presseberichte und nicht zuletzt Gerichts- und Polizeiakten (Fall Anneke, Zeitschrift Humo).
- Sehr ausführlich die Katholieke Actie Vlaaanderen www.kavlaanderen.info und neuerdings auch www.belgicatho.hautetfort.be
Text: Armand Tellemans
Bild: Ferdinand Boischot
In der Reihe erschienene Artikel:
- Die „Broeders van Liefde“ aus Belgien: von der caritativen Kongregation zum Sozialkonzern (1)
- Die „Broeders van Liefde“ aus Belgien: der caritative Hauptorden Belgiens (2)
- Die „Broeders van Liefde“ aus Belgien: in den Wirren des 2. Vatikanischen Konzils (3)
- Der Pädophiliefall „Anneke“ in Belgien – Broeders van Liefde (5)
Die Website der Katholieke Actie Vlaanderen ist nicht ganz richtig widergegeben:
http://www.kavlaanderen.blogspot.be
Es erstaunt immer wieder, wie trotz und nach allen diesen Skandalen und der inzwischen guten Beschreibung und Verfolgung dieser Mißetaten die „Broeders van Liefde“ und das damit assozierte belgische Bastardkirchenestablishment das Pädo- und Homoproblem ausblenden.
Der Bischof von Antwerpen Johan Bonny, in Dezember 2014 schon durch extrem homofreundliche Positionierung aufgefallen, später mit Verständnis für Euthanasie in kirchlichem Setting, saß in 2014 auch sehr eng neben Jef Barzin, damals Dechant von Antwerpen-Noord („(W)arm Antwerpen“), Priester von 13 Parochien und nicht zuletzt Initiator und Begleiter der „Arbeitsgruppe zur Förderung der Interessen der Pädophilen in der Kirche“ in 1984.
Teuflisch.