von Ferdinand Boischot
Anneke war ein leicht geistig behindertes Mädchen aus Westflandern (Belgien), 8 Jahre alt, das in die Sonderschule St. Idesbald der karitativen Kongregation Broeders van Liefde (Brüder der Liebe) in Roeselare zur Schule ging.
Der Fall „Anneke“
In November 1995 merkte ihre Mutter (Frau Ria C.) plötzlich schwere Verhaltensauffälligkeiten. Anneke wurde sehr traurig, grundlos aggressiv gegenüber ihren Geschwistern, hatte Unterleibsschmerzen, bekam eine Vaginitis, litt plötzlich unter Bettnässen und hatte ausgeprägte Angst vor der Schule.
Das Mädchen wurde ärztlich und psychologisch untersucht, ohne Anhaltspunkte für eine innere Krankheit oder familiale Störungen.
Anneke wurde in den nächsten Wochen noch verstörter und ängstlicher und fing plötzlich an, ihre Mutter immer wieder über den Phallus zu befragen. Ihre Mutter wurde hellhörig.
Anneke vertraute sich ihrer Mutter an. Bei einem Gang über den Schulhof, an der Hand der Mutter, zeigte sie eindeutig den 78-jährigen Bruder Emiel Ceustermans, als Übeltäter an.
Ceustermans war im Alter von 12 Jahren als „Juvenist“ zur Kongregation gekommen. Er trat der Ordensgemeinschaft bei und war langjähriger Erzieher in den Sonderschulen der Broeders van Liefde. 1993 ging er in den Ruhestand und arbeitete als Gärtner an der Schule des MPI (Medizinisch-Psychologisches Institut) St.-Idesbald in Roeselare.
Die Mutter nahm sofort Kontakt mit dem Schuldirektor, Broeder Herman, auf, der abwimmelte. Der Direktor speiste die Mutter ab mit der Aussage: „Liebe Frau, Kinder fantasieren und die Eltern fantasieren mit“.
Die tapfere Mutter benachrichtigte daraufhin die Polizei. Die Kriminalpolizei BOB (Belgische Opsporingsbrigade) fing an zu ermitteln.
Fast sofort stießen sie auf intensiven pädophilen Mißbrauch, zentriert um 3 Männern, mit gewaltiger Vertuschung und Drangsalierung.
Die drei der Pädophilie verdächtigen Brüder wurden in den darauffolgenden Wochen in andere Einrichtungen des Ordens versetzt.
Am 15. April 1996 erstattete die Mutter Anzeige gegen Bruder Emiel Ceustermans wegen pädophilen Mißbrauchs.
Einen Tag später, am 16. April 1996, bekam der ermittelnde Kriminalpolizist (BOB) Geert van Fleteren einen ominösen Telefonanruf, der protokolliert wurde. Der Provinzialobere der Broeders van Liefde für Westflandern, Fr. René Stockman, rief an und fragte:
„Ob es wohl nötig ist, daß es untersucht wird und ob es nicht möglich wäre, die Sache still zu halten…
… (ich) finde es nicht opportun, einen so alten Mann zu befragen, weil es zu stressierend ist…
Der Bruder wird an eine andere Schule versetzt…
… mit der Mutter gesprochen … mit einer Bezahlung würde alles geregelt werden … Das Einschalten der BOB verstößt gegen unsere Abmachung.“*
*N.B. Gelogen. Eine solche Verabredung fand nie statt.
Der Kriminalpolizist war sprachlos: So einen platten Beeinflussungsversuch in einem schwerwiegenden und äußerst sensiblem Fall hatte er noch nicht erlebt. Tonbandaufzeichnungen haben diese Aussagen einwandfrei dokumentiert.
In den folgenden Monaten kam die Schule nicht mehr zur Ruhe.
Eines Nachts stand auf der Zimmertür eines involvierten Bruders mit Farbe geschrieben:
„Fieser Schmutzkerl, bleib mit deinen Pfoten von meinem Leib.“
Am nächsten Morgen wurde die Tür ausgewechselt – mit vielen Augenzeugen.
Zeitgleich detonierte in Flandern der Roeach3-Skandal (Buch für den Religionsunterricht mit zur Pädophilie anstiftenden Abbildungen), der pädophile Massenmißbrauch in „Tordale“ (bei Torhout, Westflandern), die Affaire-Dutroux (Kindesentführung, Kindermißbrauch und Mord an Kindern, wobei ein gewaltiges Netz mit vielfältigen politischen und finanziell-wirtschaftlichen connexions entdeckt wurde- niemals genau aufgeklärt) und der Brüsseler Pädophilieskandal Roger Borremans (wo Kardinal Danneels unter schwerstes Feuer geriet und sich nur in letzter Sekunde retten konnte, indem er seinen Weihbischof Lanneau zur Ablenkung als Sündenbock opferte).
Vertuschung funktioniert am Besten mit Einschüchterung.
Die Mutter bekam abmahnende und recht schnell auch drohende Briefe von den Broeders van Liefde.
Sehr raffiniert auch die Kontaktaufnahme durch andere „Katholiken“:
„Die Broeders van Liefde? Liebe Frau, womit legst Du dich da an?“
„Sie verstehen, daß ich nichts sagen kann. Meine Frau arbeitet an einer katholischen Einrichtung.“
Zweimal von unterschiedlichen Personen vor Gericht zitiert:
„Wir sagen nichts. Wir haben mit den Broeders van Liefde schon genügend Elend („miserie“) gehabt“.
Die karitative Kongregation der Broeders van Liefde zählte damals etwa 300 Mitglieder (2010: 280), beschäftigte jedoch 8000 (achttausend) Angestellte und hat(te) auf dem Gebiet der Behindertenschulung und ‑unterbringung ein Quasimonopol.
Die Polizeiakten dokumentieren dies explizit:
„Die Laien können nicht frei sprechen“
Zwei Erzieherinnen ändern „wegen delikater Gründe“ ihre Aussage zum Vorteil des Beklagten.
Ein Anonymus auf seine Zurückhaltung angesprochen: „Wir sind verletzbar“.
„Die Interessen der Einrichtungen und der Kongregation kommen an erster Stelle.“
In Mai 1998 erhebt die Kongregation der Broeders van Liefde Klage gegen die BOB (Kriminalpolizei) – „in verzögernder Absicht“, wie der Procureur-Generaal (Oberstaatsanwalt) bemerkt.
Am 11. Oktober 1999 verurteilt das Strafgericht Kortrijk Broeder Emiel Ceustermans (inzwischen 83 Jahre alt) zu 4 Jahren Gefängnis, davon 2 Jahre ohne Bewährung.
Zwei andere Brüder werden freigesprochen.
Aus dem Gerichtsurteil:
„Aus den Akten geht hervor, daß durch den Direktor des Orthopädagogisch-pädiatrischen Zentrums St. Idesbald nach der Klageerhebung der Mutter des Opfers sehr unwirsch reagiert wurde; und daß danach nicht wenige Versammlungen stattgefunden haben mit Führungs- und Unterrichtspersonal; hier wurde deutlich Druck ausgeübt in Bezug auf die abzugebenden Erklärungen.
Dies wurde auch durch mehrere Befragten erklärt und in der weiteren Untersuchung durch die Erklärungen und Auskünfte der protokollierenden Beamten bestätigt.“
Kurz danach starb Broeder Emiel Ceustermans.
Die Broeders van Liefde gaben jedoch nicht auf. Die Kongregation ging in Berufung.
Der Fall „Anneke“ fing an hohe Wellen zu schlagen.
Am 21. November 2000 berichtete das flämische Magazin Humo als erstes Presseorgan über diesen Pädophilieskandal und die unsägliche Haltung der Kongregation der Broeders van Liefde.
Am 30. November 2000 spricht der Berufungsrichter Francis Desterbeck den Broeder Emiel Ceustermans in Gent frei mit der Begründung: „…daß, was das behinderte Mädchen erklärt, doch alles sehr unwahrscheinlich klingt…“ (sic).
Der Gerichtspsychiater Deberdt: „Es ist unwahrscheinlich, daß er [Ceustermans] auf seine 80. Lebensjahre mit Pädophilie anfängt.“
Tatsächlich gibt es schon Hinweise darauf seit den 60er Jahren.
Die christlich-demokratische und belgizistische Ausrichtung und politische Einbettung der Kongregation (die belgische Gerichtsbarkeit wurde damals nach politischem Einfluß und Parteizugehörigkeit besetzt, sog. „Versäulung“) gab schlußendlich den Ausschlag.
Staatsanwalt Willaert aus Kortrijk:
„Wir dürfen keine Kritik an unsere hierarchische Vorgesetzten äußern.“
Der Epilog
In den darauffolgenden Jahren versank die katholische Kirche im niederländischsprachigen Teil Belgiens immer tiefer im Sumpf von Pädophilie und Homophilie, Kriminalität und Lügen.
Von 1998 bis 2004 wird Belgien kontinuierlich durch den Prozess der Pädophilie-und Kindermord-Affaire Dutroux gequält.
Die Ermittlungen bringen die Involvierung von nicht wenigen hohen politischen und kirchlichen Würdenträgern ans Licht (bzw. ans Nebellicht).
Der stümperhafte juristische Umgang mit diesem Fall bringt die Gemüter der anständigen Bevölkerung in Wallung.
1998 bis 2002 gerät Kardinal Godfried Danneels himself, durch Mitwissen und Vertuschung von Fällen von pädophilen Priestern (Vanderlijn und Robert Borremans), unter direkten Verdacht und kann sich nur durch das Selbstopfer seines Weihbischofs retten.
Das Ansehen Danneels‘ in Belgien ist seitdem schwerst beschädigt.
Die Verurteilung von Robert Borremans erfolgt in mehreren Prozessen zwischen 2003 und 2005.
2002 werden in dem Massenmißbrauchsfall im Heim „Tordale“ (geführt von einer anderen Kongregation, den Broeders van Dale/Torhout, Westflandern, Bistum Brügge) drei Täter (zwei davon „Broeder“) zu sehr hohen Gefängnisstrafen und zusammen mit ihrer Kongregation zu für damalige Bestimmungen sehr hohen Entschädigungszahlungen verurteilt.
Die Kongregation der Broeders van Dale ist seither am Erlöschen.
Westflandern (Bistum Brügge), einst eine christlich-demokratische und katholische Bastion, zerbröselt.
2003 verliert die niederländischsprachige christdemokratische Partei CD&V die Bundeswahl. Zum ersten Mal nach 130 Jahren sitzt sie nicht mehr in der Regierung. Liberale und Sozialisten bilden zusammen eine freimaurerdominierte Regierung.
Die katholische „Säule“ in Belgien pulverisiert sich. Die kirchliche Hierarchie richtet es sich sofort mit den neuen Machthabern, und das Volk unten bleibt richtungslos zurück.
2005 wird beim Konklave Joseph Kardinal Ratzinger, der als Chef der Glaubenskongregation schon seit 1995 intensiv die Pädophilie in de Kirche bekämpft, zum Papst Benedikt XVI. gewählt.
Einer seiner großen Gegenspieler, Kardinal Danneels (er hätte sich „Johannes XXIV.“ genannt), der seit über 15 Jahren bis über die Ohren in Pädophilie- und Sexskandale verwickelt ist, verläßt nach der Konklave wütend Rom sofort.
2006 wird René Stockman, der Provinzialobere von Westflandern, Generaloberer der Kongregation Broeders van Liefde und verschwindet nach Rom. Seine Anwesenheit in Flandern war nach dem Fall „Anneke“ unhaltbar geworden.
2010 wird der jahrelange pädophile Mißbrauch des Bischofs von Brügge, Roger Vangheluwe öffentlich bekannt: Dieses Erdbeben erschüttert die Kirche in Flandern bis in die Fundamente und findet weltweit Nachhall.
Danneels wird in flagranti des Mitwissens und der Vertuschung überführt.
Bei der ab 2010 aufgezwungenen Untersuchung und Aufarbeitung der Pädophilie in der belgischen Kirche blamiert sich die Kongregation die belgische Ordensprovinz der Broeders van Liefde bis auf die Knochen durch Mauern, Verzögern und gewaltigen Geiz bei der Entschädigung der Opfer.
Sie läßt jeglichen moralischen und ethischen Anstand vermissen.
Der im selben Jahr neuernannte Primas von Belgien, Erzbischof Léonard, zwingt den Orden der Broeders van Liefde, wo die Mehrzahl der Mißbrauchsfälle von Belgien stattgefunden hat, zu schonungsloser Aufklärung und Wiedergutmachung.
2011 wird unter den Augen der Medien der erzbischöfliche Palast in Mechelen von der Gerichtspolizei gestürmt, die dort versammelten Bischöfe festgesetzt und alle Akten der innerkirchlichen Mißbrauchskommission Adriaensens beschlagnahmt.
Die staatliche Justiz ermittelt und verfolgt selbständig: Von den ca. 1000 Fällen in Belgien werden mehr als 500 vor den weltlichen Gerichtsorganen behandelt; in etwa 300 Fällen kommt es zu außergerichtlichen Einigungen zwischen Opfern und kirchlichen Institutionen.
Die Kirche in Nordbelgien hat jegliches moralisches Ansehen verloren und liegt am Boden.
Perte totale.
2013, nach dem Rücktritt von Papst Benedikt XVI., steht eine Stunde nach der Wahl von Franziskus Kardinal Danneels als einer von wenigen Personen mit dem frischgewählten Papst auf der Loggia des Petersdomes.
Die alten Kameraden sind wieder da.
2014 versucht der Bischof von Brügge, Jozef De Kesel, früherer langjährige Weihbischof und enger Freund von Kardinal Danneels, einen mehrfach rückfälligen, pädophilen Priester wieder in die Seelsorge einzuschleusen (Fall Flavez). In den folgenden Wochen detonieren im Bistum Brügge noch weitere fünf Fälle.
Sion desolata.
Januar 2016 ernennt Papst Franziskus den Bischof von Brügge und Danneels‘ Freund, Josef De Kesel, zum neuen Erzbischof von Mecheln-Brüssel. Der bisherige Erzbischof André-Joseph Léonard wird von ihm emeritiert und zieht sich als Hilfsvikar an einen Marienwallfahrtsort in die französische Alpen zurück.
Beim Konsistorium am 28. Juni 2016 gibt Papst Franziskus Erzbischof De Kesel das Pallium und das Purpurbiret. Am Abend läßt der frischkreierte Kardinal De Kesel sich in den Vatikanischen Gärten mit Broeder René Stockman, Generaloberer der Broeders van Liefde und „höchster Belgier im Vatikan und guter Freund von Papst Franziskus“ (die Website www.kerknet.be der belgischen Bischöfe), und dem belgischen Botschafter bei dem Hl. Stuhl, stolz photographisch ablichten.
Anneke ist inzwischen dreißig Jahre alt, und es geht ihr gut.
Ob sie je eine Entschädigung bekam, ist nicht bekannt.
Es ist jedoch unwichtig: Almosen können Perversitäten und Greueltaten nicht reparieren.
Anneke hat jedoch die Gewißheit und die Sicherheit, daß ihre Mutter ihr stets vertraut hat und ungemein tapfer wie eine Löwin kämpfend, gegen eine Mafia verteidigt hat.
Einfache „kleine“ Menschen und in dieser gewaltigen Bewährungsprobe trotzdem großartig.
Praemia pro validis.
Sub tuum praesidium.
Text: Ferdinand Boischot
Bild: MiL/Broeders van Liefde (Screenshots)
Zum Begriff „Pädophilie“: nur eine geringe Anzahl der Kindesmissbraucher ist im klinischen Sinne an Pädophilie erkrankt. Bei den meisten davon handelt es sich zwar um Personen mit einem Hang zu deutlicher psychosozialer Verwahrlosung, was sie durch übergriffiges, primitives Sexualverhalten ausleben, aber die Täter sind hinsichtlich ihrer sexuellen Ansprechbarkeit nicht auf Kinderkörper fixiert. Jungen und Mädchen werden von diesen Leuten in erster Linie deshalb sexuell ausgebeutet, sexualisiert misshandelt und sexuell missbraucht, weil unsere Gesellschaft es Kindesmissbraucher so leicht macht, ihre Opfer zu finden, zu isolieren und sich vor der Aufdeckung der begangenen Verbrechen zu schützen.
Die verschiedenen Missbrauchskontexte, von familiär bis institutionell, unterscheiden sich darin nicht grundsätzlich. Kinderschutz funktioniert dort am besten, wo ohne falsche Scham, sachlich und realistisch über alle Aspekte der menschlichen Sexualität gesprochen werden kann.
Hier geht es nicht um Mißbrauch, sondern um schlimmstes organisiertes Verbrechen.
Der sexuelle Missbrauch von Kindern bzw. Jugendlichen findet in vielen verschiedenen Formen statt. Auch durch organisierte Missbrauchsverbrechen im Sinne von Bandenkriminalität. Dann dient er nicht nur einem, sondern per Definition auch mindestens einem weiteren Zweck. Die Übergänge sind dabei fließend, weshalb es Expertenwissen braucht, um aus den verschiedenen Indizien auf organisierte Missbrauchskriminalität zu schließen. In den Formularen für Anträge auf Sachleistungen über den Fonds Sexueller Missbrauch, zu dessen Errichtern auf institutioneller Seite auch Organisationen der Katholischen Kirche gehören, gibt es deshalb die Zeile:
„Fand (auch) organisierte sexuelle Ausbeutung/ritueller/sektenähnlicher Missbrauch statt?“
Wenn über einen längeren Zeitraum irgendwo Kinder systematisch missbraucht durch Täterkreise missbraucht werden, dann spielt bei der Organisation und Vertuschung dieser Verbrechen an Kindern fast immer Wirtschaftskriminalität eine Rolle.
Wie sieht das denn im Falle der Broeders van Liefde und des für sie zuständigen Bistums aus?
Es darf doch angenommen werden, dass Papst Franziskus über die Vorgänge in Belgien informiert war.
Und trotzdem darf Kardinal Daneels unmittelbar nach der Wahl auf dem Balkon erscheinen.
Was veranlasste ihn dann noch zusätzlich, Josef de Kesel als bisherigen Bischof von Brügge zum Erzbischof von Mecheln-Brüssel und etwas später zum Kardinal zu küren, während der bisherige, glaubenstreue Erzbischof André-Joseph Léonard das Feld räumen musste? (Ich hoffe aber und wünsche es ihm sehr, dass er dort in den Alpen ‑obwohl „nur“ Hilfsvikar- glücklicher ist, als er es je vorher war.)