von Ferdinand Boischot
Belgien war seit seiner Christianisierung im frühen Mittelalter ein urkatholisches Land. Das Prosperieren der großen Städte Gent, Brügge, Antwerpen, Mecheln, Brüssel, Ypern, große und gelehrte Abteien und Klöster und eine hoch entwickelte Land- und Handwerkswirtschaft bedingten eine große religiöse Blüte im Spätmittelalter mit niederländischem Mystik und Devotio moderna.
Tief geprägt wurde das Land von der intensiv durchgeführte Gegenreformation. Im 19. Jahrhundert war in Belgien der Ultramontanismus siegreich, und dies bis tief in das 20. Jahrhundert hinein.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war der Katholizismus in Belgien sehr lebendig: belgische (größtenteils sehr modernistisch orientierte) Prälaten waren an die Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils an führender Stelle mitbeteiligt, der belgische Primas, Léon-Joseph Kardinal Suenens, wurde zu einem der vier Moderatoren ernannt und die „squadra belga“ (belgische Mannschaft) spielte alsbald eine dominante Rolle bei den Besprechungen.
Anfang der 60er Jahre erlebte Belgien sehr turbulente Zeiten:
Die niederländischsprachigen Flamen im Nordteil von Belgien, die die Bevölkerungsmehrheit stellten, protestierten zunehmend und nachdrücklich gegen eine seit über 130 Jahre anhaltende Diskriminierung und Unterdrückung ihrer Sprache und ihres Volkstums. Wallonien litt unter einer schwere Krise der Montan- und Schwerindustrie, die 1960 Hals über Kopf durchgeführte Unabhängigkeit der Kolonie Belgisch-Kongo erschütterte den paternalistisch eingestellten belgischen Staat. In Flandern führte ein wirtschaftlicher Aufschwung mit Dienstleistungen und vielen mittelgroßen Betrieben zu einem neuen Selbstbewußtsein.
In Löwen, im niederländischsprachigen Teil Belgiens gelegen, ballten sich wie in einem Brennglas all diese Probleme:
Die alte Universität (gegründet 1425), die größte katholische Universität der Welt, den belgischen Bischöfen direkt unterstellt, hatte erst 1938 niederländischsprachige Lehrgänge bekommen. Die Querelen zwischen flämischen und wallonischen Studenten waren notorisch. Verständigungsprobleme zwischen nierderländischsprachigen Patientinnen und französischsprachigen Ärzte im St. Pieterskrankenhaus in Löwen reizten immer wieder die öffentliche Meinung. Die kontinuierliche Zunahme der Studentenzahlen machte eine Ausbreitung der Universität notwendig, wobei die Wallonen diese Vergrößerung komplett zwischen Brüssel und Löwen auf flämischem Territorium stattfinden lassen wollten. So wurde ein gewaltiges französisch dominiertes Großbrüssel-Löwen-Wavres anvisiert. Dies wurde von fast allen Flamen als unmöglich angesehen. Einige unsensible Aussagen, betreffend Kindergärten und Schulen für französischsprachiges Personal der Universität, vergifteten noch mehr die Stimmung.
Am 13. Mai 1966, Freitag nachmittags, veröffentlichten die belgischen Bischöfe ihr berühmtes/berüchtigtes Mandement (öffentliche Weisung für die Gläubigen mit hierarchisch verbundener Pflicht zum Gehorsam):
„Wir verordnen (befehlen), daß die Universität eins bleiben muß, in Löwen selbst, und daß jeder, der zu der Universität gehört, uns nicht widersprechen darf.“*
Eine deutliche Sprache, unmißverständlich, und formuliert mit den gleichen Worten, womit 25 Jahre früher während des Zweiten Weltkrieges die deutschen Besatzer ihre Erlasse kundtaten.
Diese Meldung wurde sofort über Fernsehen und Rundfunk verbreitet. Die Zeitungen berichteten mit Verzögerung erst am darauffolgenden Montag. Das politische Dynamit war allen Journalisten bewußt.
Das ganze katholische Flandern war vor den Kopf gestoßen. Einerseits des Inhalts wegen, wo die Bischöfe ihre kirchlich hierarchische Stellung einsetzten, um ein sprachpolitisches Problem zu lösen, anderseits und wahrscheinlich noch viel mehr durch den Wortschatz und den Stil des Mandements: „autoritär“, „arrogant“, „hochmütig“ sind noch die bravsten Adjektive die in der Literatur bemüht werden. Kein Jahr nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils mit seinem sprachwulstigen Wortgebrauch wie „Dialog“, „Liebe“, „Offenheit“, „Respekt“ usw. hantierten die belgische Bischöfe den altbekannten Knüppel mit der Kommandantursprache.
Das Mandement wurde in den meisten Kirchen am Sonntag verlesen. Unvergeßlich für mich jungen Schüler, wie damals sofort beim Verlesen des Mandements ein gewaltiges tief dröhnendes Fußstampfen von der Kirchenempore mit dem großen Männerchor erklang.
Die Presse diskutierte erregt. Frankophone Zeitungen berichteten siegestrunken, die politische Parteien reagierten teils verwirrt, teils kämpferisch. Kardinal Suenens und die andere Bischöfe tauchten erst einmal ab.
Am darauffolgenden Sonntag, 22. Mai 1966, sollte in der erzbischöflichen Stadt Mecheln das 50. Jahresjubiläum des ehemals berühmten Sint-Romboutskathedraalkoor (der Kirchenchor der Mechler Kathedrale zum heiligen Rumold) gefeiert werden (sehr bekannt, besonders im Vatikan und in Italien, durch seine Neubearbeitungen von polyphoner Musik unter der Leitung von Msgr. J. van Nuffel). Im Hochamt, in der frisch eingeführten neuartigen Liturgie, erklangen unerwartet zum Einzug flämische Hymnen und Lieder Die Messe endete dann abrupt und mit Tumulten. Kardinal Suenens verschwand blitzschnell in die Sakristei und floh unter starkem Polizeischutz. Inzwischen war zusätzlich Gendarmerie aus Antwerpen herangeführt worden: auf dem Großen Markt „unter dem Kathedralturm“ und am Bahnhof kam es zu großen Straßenschlachten u.a. mit Einsatz von Wasserwerfern. Der Ruf „Suenens buiten!“ (Suenens raus!) wird diese Jahren prägen.
In Löwen herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Bischöfe publizierten einen weltfremden Pfingstbrief, beendeten abrupt das Sommersemester an der Universität von Löwen und verschoben die Prüfungen. Die Regierung stürzte wenig später (1968 wird dann die belgische Regierung erneut über Löwen fallen – das einzige westeuropäische Land wo Studentenunruhen dies bewirken konnten).
Die Politik in Belgien wird ab dann für fast 40 Jahre von dem Konflikt zwischen Flamen und Französischsprachigen geprägt. 1970 wird die Universität Löwen aufgespalten, wobei der niederländischsprachige Teil in Löwen bleibt und der französischsprachige Teil in Louvain-la-Neuve (Neu-Löwen) in Wallonisch-Brabant eine neue Heimat findet.
Die Kirche in Flandern wurde dynamitiert: in den Wochen nach dem Mandement ging der Kirchgang um über ein Drittel zurück (hauptsächlich Männer), in den folgenden Dezennium um drei Viertel. Die bischöflichen Seminare entleerten sich rasant und fast total. Die Flämischnationalen, geschichtlich eine sehr starke Fraktion im Kirchenvolk, und kulturell, wirtschaftlich und sozial besonders aktiv, kehrten sich von der Kirche ab. Der St.-Romboutskathedralchor wurde 1968 aufgelöst.
Die christlich-demokratische CVP (Christliche Volkspartij) spaltete sich 1968 nach Volksgruppen in zwei Parteien auf. In den folgenden 40 Jahren erlitt der niederländischsprachige Teil einen kontinuierlichen Niedergang, zerfiel in drei kleine Fraktionen und schrumpfte bis auf ein Viertel seines früheren Umfangs (etwa so goß wie die Liberalen und die notorisch schwachen Sozialisten).
Die Postvatikanum II-Reformen in der Liturgie, die (von Suenens gewollt) ostentative Verlesung von Humanae vitae, total verrückte und verunglückte liturgische und pastorale Aktivitäten wrackten die Restkirche in Flandern vollends ab. Suenens wurde in seinem Erzbistum unsichtbar.
Der totale Verlust an Qualität, an katholischer Tradition, an theologischem Wissen und an Bindung mit dem eigenen Volk führten dann zu der bekannten katastrophalen Situation:
Aus Priestern wurden Sozialarbeiter mit etwas klerikalem Firnis. Offenheit und Liebe für Alle und Alles wurde zum Schlüsselwort für pädo- und homosexuelle Umtriebe und Missetaten im kirchlichen Milieu – und, was fast immer unterschlagen wird: an einfachen bravkatholischen Kindern und Behinderten.
Fast alle Priesterseminare schlossen, das milieu catholique verschwand, die Universität Löwen hat selbst ihre Katholizität zur Diskussion gestellt, das Niveau des Weltklerus ist unglaublich tief gefallen, die Bistumsverwaltungen sind leider mit den letzten Figuren bestückt. Die Namen Suenens, Danneels, vanGheluwe, Bonny und DeKesel sind inzwischen leider wohlbekannt.
Flandern ist praktisch total agnostisch geworden.
Für die Französischsprachigen war die Aufspaltung der Universität Löwen schlußendlich ein Segen (so ähnlich sagte es auch Erzbischof Msgr. Léonard): obwohl seelisch verletzt durch den Ruf „Walen buiten!“ (Wallonen raus!) erlebten die französischsprachigen Katholiken durch Rückbesinnung auf die Heilige Schrift, die Kirchenväter und die großen kirchlichen Autoren, durch Inspiration und Anlehnung an Frankreich und durch monastische Spiritualität eine Neubelebung. Von den modernistischen Irrwegen mit den Schandtaten der wellnesskerk in Flandern blieben sie glücklicherweise größtenteils verschont.
*Illustrativ ist, daß der Text diese Mandements in seiner Originalfassung kaum zu finden ist. Offensichtlich wurden mehrere Variationen produziert bzw. nachgebessert. Unsicher ist auch der Urheber – erst wurde Suenens, einige Tage später Msgr. Descamps, Rektor der Uni Löwen, nach vorne geschoben (als Sündenbock).
Genauso illustrativ ist, daß das 50. Jahresgedenken dieses Mandements mit seinen gewaltigen Wirkungen auf die Kirche in Nordbelgien, auf allen dortigen bischöflichen und kirchlich verbundenen Websites nicht erwähnt wird. Auch über Suenens wird eisern geschwiegen, und Danneels will selbst nicht mehr viel sagen (sic: „Auf Empfehlung meiner Rechtsanwälte“).
„…Die Niederlage ist ein Waisenkind…“ (militärisches Sprichwort).
Text: Ferdinand Boischot
Bild: Wkicommons/M&V/loiven/MiL (Screenshoots)