(Rom) Während Papst Franziskus in Abu Dhabi (Vereinigte Arabische Emirate) sich auf die Unterzeichnung eines Dokuments „über die menschliche Brüderlichkeit“ vorbereitete, unter das er gestern mit dem islamischen Großimam von Al-Azhar, einer Autorität des sunnitischen Islams, seine Unterschrift setzte, veröffentlichte Nuova Bussola Quotidiana am vergangenen Sonntag ein Interview mit Gerhard Kardinal Müller, dem ehemaligen Präfekten der römischen Glaubenskongregation. Darin kritisiert der deutsche Kardinal erneut die „Klerikalismus“-These und sprach über „den wahren Grund“ für den sexuellen Mißbrauch durch Kleriker, aber auch über „das größte Problem“, das die Kirche heute habe. Er weist Behauptungen zurück, es gebe „ein Komplott“ gegen Franziskus und macht kein Hehl daraus, daß ihm das „große Lob“ der Freimaurer für Franziskus nicht gefällt.
NBQ: Kardinal Müller, in 20 Tagen wird im Vatikan der Gipfel über den sexuellen Mißbrauch stattfinden, einem Skandal, der das Bild der Kirche verdunkelt, aber auch intern viele Spannungen provoziert…
Kardinal Müller: Ich denke, daß dieses Thema vor allem in seiner wirklichen Dimension verstanden werden muß. So sehr es sich um einen schwerwiegenden Skandal handelt, ist es ungerecht, zu verallgemeinern, weil der Mißbrauch nur einen sehr begrenzten Teil der Priester betrifft. Ich möchte allen Bischöfen, Priestern und Diakonen und anderen Mitarbeitern der katholischen Kirche dafür danken, die nach den Kriterien unserer christlichen Spiritualität leben, und dafür, wie sie sich der von Jesus anvertrauten Aufgabe widmen. Es ist richtig, daß sich die öffentliche Meinung dieser guten Arbeit und der Opfer bewußt wird, die unsere guten Hirten für viele Menschen leisten, die nach der Wahrheit ihres Lebens suchen, die die Wahrheit Gottes in Jesus Christus suchen. Zweitens müssen wir anerkennen, daß dieses Phänomen bereits in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts seinen Höhepunkt hatte, auch als Folge der sexuellen Revolution. Seither ist viel getan worden, und die Zahl der Fälle ist heute stark zurückgegangen. Zudem muß man sich fragen, warum die öffentliche Meinung veranlaßt ist, nur davon zu sprechen und nicht von allen Mißbrauchsfällen und Verbrechen gegen die Kinder und die Jugendlichen, die es in der Welt gibt: Nicht nur von den sexuellen, die auch zum Großteil außerhalb der Kirche begangen werden, sondern auch von den anderen Verbrechen wie der Abtreibung oder der vielen verweigerten Möglichkeit, mit ihrem Vater, ihrer Mutter, ihren Geschwistern zu leben usw.
NBQ: Das stimmt, aber die Kirche steht einem besorgniserregenden Phänomen gegenüber, und sie tut sich, wie der Fall des Ex-Kardinals McCarrick zeigt, noch immer schwer, die Vergangenheit zu beurteilen.
Kardinal Müller: Natürlich ist es furchtbar für die Kirche, daß Priester verwickelt sind: Männer, die anstatt ein vorbildliches Leben zu führen, ihren Auftrag mißbrauchen; Vertreter von Jesus Christus, dem guten Hirten, die wie Wölfe handeln. Das ist eine Pervertierung ihres Auftrags.
NBQ: Was aber sind die Gründe für den Mißbrauch von Minderjährigen?
Kardinal Müller: Wer mißbraucht, erkennt mit Sicherheit die Würde eines Minderjährigen nicht an, der ein Mensch ist, und wie alle Menschen von gleicher Würde ist. Es gibt aber auch eine nicht beherrschte Sexualität. Der Mensch ist gerufen, seine Sexualität im vom Schöpfer gewollten Sinn zu gebrauchen, wie er am Anfang der Genesis beschrieben ist.
„Homosexualität ist eine Erfindung, die keine Grundlage in der menschlichen Natur hat“
NBQ: Beim größten Teil der von Klerikern begangenen Mißbrauchsfälle handelt es sich in Wirklichkeit um homosexuelle Handlungen.
Kardinal Müller: Es ist eine Tatsache, daß mehr als 80 Prozent der minderjährigen Mißbrauchsopfer männlich und Jugendliche sind. Wir müssen diese Realität zur Kenntnis nehmen. Das sind statistische Angaben, die nicht geleugnet werden können. Jene, die diese Wirklichkeit nicht sehen wollen, beschuldigen jene, die die Wahrheit sagen, etwas gegen die Homosexuellen zu haben. Die Homosexuellen gibt es aber nicht, das ist eine Erfindung. Offensichtlich sprechen sie davon, um ihre eigenen Interessen zu verdecken.
Kehren wir aber zur Genesis zurück: Es existiert eine weibliche und eine männliche Sexualität, nichts anderes. Der Mann ist für die Frau erschaffen und die Frau für den Mann, wie der Heilige Paulus im Ersten Brief an die Korinther sagt (1 Kor 11). In der Schöpfungsordnung gibt es keine Homosexualität. Das ist eine Erfindung, die keinerlei Grundlage in der menschlichen Natur hat. Die homosexuellen Neigungen sind kein ontologischer, sondern ein psychologischer Faktor. Bestimmte Personen wollen hingegen aus der Homosexualität etwas Ontologisches machen.
NBQ: Aus dem Codex des Kirchenrechts von 1983 ist der Canon verschwunden, der im vorhergehenden bestimmte, daß Kleriker, die sich homosexueller Handlungen schuldig machen, aus dem Amt entfernt, aller Privilegien entkleidet und in besonders schwerwiegenden Fällen laisiert werden. Auch das macht es heute schwieriger, in Fällen wie dem von Ex-Kardinal McCarrick einzugreifen. Wer wollte die Streichung dieses Canons und warum?
Kardinal Müller: Ich weiß nicht wer, aber ich denke, daß es das Ergebnis der allgemeinen Stimmung jener Zeit war: Man will nicht die Personen bestrafen, sondern auf das Positive abzielen. Die Absicht ist sicher gut, aber man kann die Wirklichkeit der menschlichen Schwäche nicht leugnen. Die Personen werden ermahnt, um ihnen zu helfen, das Richtige zu tun. Vor allem kann die Kirche unter Priestern kein schlechtes Verhalten akzeptieren, das dem Willen Gottes widerspricht, denn so zerstört sie die eigene Glaubwürdigkeit. Leider gibt es solche, die sich die Homo-Ideologie zu eigen gemacht haben. Wie kann man nur die Falschheit der Welt akzeptieren und sie in die Kirche hineintragen? Wir müssen uns am Wort Gottes, an der Schrift, der Tradition und dem Lehramt nähren. Das sind die Eckpunkte des katholischen Denkens. Wir müssen der Moderne die gute Antwort geben, die von Gott kommt. Es ist die Welt, die des Heils bedarf und nicht Gott, der die Rettung durch die Welt braucht.
„Petition gegen Homo-Netzwerk in der Kirche ist legitim“
NBQ: In den vergangenen Tagen wurde eine Petition gestartet, um die Väter, die am Gipfeltreffen im Vatikan teilnehmen, aufzufordern, das Homo-Netzwerk zu stoppen. Einer der Punkte betrifft die Wiedereinführung des Canons, der homosexuelle Handlungen bestraft.
Kardinal Müller: Ich denke, daß diese Petition legitim ist. Es gibt in der Kirche Personen, die die statistische Wahrheit leugnen wollen, daß die übergroße Mehrheit der von Priestern begangenen Mißbrauchsfälle homosexuelle Handlungen waren. Dieser Realität entkommt man aber nicht. Wer sie leugnet, will das Problem nicht lösen. Auch der Mißbrauch, der an Seminaristen begangen wurde, ist nicht zu unterschätzen. Das ist eine enorme Sünde, ein Verbrechen gegen die Würde dieser Männer, aber auch gegen die Eltern, die ihre Söhne dem Priesterstand anvertrauen, gegen den Bischof und gegen das Seminar. Ein Bischof, der so tief fällt, ist ein ungeheurer Skandal. Stellen wir uns vor, was Jesus getan hätte, wenn einer seiner Apostel, das anderen Jüngern angetan hätte? Es ist geradezu absurd, so etwas zu denken.
Ich befürchte jedoch, daß auch diese Initiative der Laien neutralisiert wird, indem man sie als Rebellion gegen den Papst abstempeln wird.
NBQ: Das ist eine fixe Idee: Auch Kardinal Kasper hat sich in diesen Tagen mehrfach zu Wort gemeldet und ein Komplott zum Rücktritt von Papst Franziskus behauptet.
Kardinal Müller: Leider gibt es im Vatikan solche, die alles, was in der Kirche geschieht, damit erklären, daß es Feinde des Papstes gibt, die mit Hilfe von Internetseiten ein Komplott organisieren: aus Italien, den USA, Deutschland, Frankreich, alle zusammen, nur um dem Papst Probleme zu machen. Das ist verrückt. Ich kenne nicht alle Beweggründe von anderen, aber ein Katholik ist immer an der Seite des Papstes, auch wenn er andere Meinungen zu Dingen haben sollte, über die man diskutieren kann. Die wahren Freunde des Papstes sind jene, die die Wahrheit sagen, die ihm dabei helfen, den richtigen Weg zu finden, und nicht jene, die ihn in die eigene Richtung drängen wollen.
„Klerikalismus? Was ist das? Wollen wir wirklich in diese Polemik gegen uns selbst einsteigen?“
NBQ: Zu diesem Punkt zeigen der Papst und seine engsten Mitarbeiter, wenn sie von Mißbrauchsfällen sprechen, mit dem Finger auf den Klerikalismus.
Kardinal Müller: Das ist ein mißverständliches Wort. Was ist Klerikalismus? Wer definiert ihn? Wer ist klerikal? Das Wort stammt aus dem 19. Jahrhundert, aus Frankreich und Italien, und diente dazu, die Kirche als Feind der modernen Gesellschaft anzugreifen. Wollen wir wirklich in diese Polemik gegen uns selbst einsteigen? Oder wollen wir Jesus anklagen, den Klerus eingesetzt zu haben? Klerus ist ein griechischer Begriff, den wir in der Apostelgeschichte finden, als die elf Apostel das Los warfen, um Judas zu ersetzen, und seinen „Anteil“ – cleros – auf Mattias übertrugen. Cleros ist also keine Gruppe von Personen, sondern die Teilhabe an der Autorität von Jesus Christus, die den Aposteln und ihren Nachfolgern übertragen wurde. Das ist mit Sicherheit nicht Klerikalismus, der sich der Sünde gegen das 6. Gebot schuldig macht. Wirklicher Machtmißbrauch ist die Simonie, der Karrierismus, oder den Höfling am Hof des Papstes zu machen, um die Mitra zu erlangen und prämiert zu werden. Wenn Machiavelli in der Kirchenpolitik mehr zählt als das Evangelium, das ist Machtmißbrauch. Von Klerikalismus zu sprechen, oder den Zölibat unter Anklage zu stellen, ist der falsche Weg, der vom wirklichen Grund für das Problem ablenkt.
NBQ: In der Tat sind es nicht wenige, die den Zölibat als Antwort auf die Mißbrauchsfälle in Frage stellen.
Kardinal Müller: Wir müssen ganz im Gegenteil das 6. Gebot ernstnehmen: die Keuschheit als Haltung und Tugend. Das ist nicht leicht in dieser sexualisierten Kultur, aber es ist notwendig, wenn wir einen Ausweg aus diesem Desaster finden wollen, das übrigens die gesamte Gesellschaft betrifft. Die Kirche weist einen Weg: Wir müssen wieder unsere Anthropologie aufgreifen. Die Kirche ist nicht als Organisation zu sehen, die Macht und Prestige verteilt. Sie ist Familie Gottes, die Vertrautheit zwischen uns allen mit sich bringt, Verantwortung des einen für den anderen und Respekt gegenüber den Kindern und der Jugend. Die andere Person ist nie als Objekt der Gier zu betrachten. Der andere ist immer Subjekt, nie Objekt. Er verdient Respekt.
NBQ: Mit Blick auf den Gipfel Ende Februar gibt es bereits solche, die davon zu profitieren versuchen und behaupten, daß die Homosexualität anzuerkennen sei: Es sei nicht wichtig, ob ein Priester homosexuelle Neigungen habe, wichtig sei, daß er keusch lebe. In Deutschland gibt es Bischöfe, die sich bereits in diesem Sinn erklärt haben.
Kardinal Müller: Das wäre ein Verbrechen gegen die Kirche: Die Sünde zu instrumentalisieren, um eine Sünde gegen das 6. Gebot zu etablieren oder zu normalisieren, ist ein Verbrechen. Es gibt keinen Weg, der zu einer Legitimierung homosexueller oder auch ungeordneter sexueller Handlungen führen kann. Wenn wir an Gott glauben, glauben wir, daß die Zehn Gebote direkter Ausdruck des heilbringenden Willens Gottes uns gegenüber sind. Das sind keine äußerlichen Gebote wie die positiven Gesetze, die der Staat erläßt. Sie sind die Substanz der Moralität des Menschen und seines Glücks. Sie sind Ausdruck des Lebens und der Wahrheit Gottes.
„Einige wollen die christliche Anthropologie umstürzen“
NBQ: Man riskiert also die christliche Anthropologie umzustürzen…
Kardinal Müller: Das ist es, worauf einige abzielen: Sie wollen, daß der Mensch sich selbst definiert. Gott ist für sie nur ein Bezugspunkt für die eigene Selbstrechtfertigung. Einige Personen haben mir geschrieben, daß sie in ihrer Jugend bestimmte homosexuelle Erfahrungen gemacht haben, dann aber alles überwunden haben und nun glücklich in einer Ehe leben. Das sind nicht Ideen, sondern wirkliche Erfahrungen von Menschen, auf die wir hören müssen. Wenn die Sexualität erwacht, kann es Momente der Verwirrung geben, aber das heißt nicht, daß es verwurzelte Neigungen gibt. Einige wollen aber aus der Homosexualität eine ontologische Gegebenheit machen.
NBQ: Das bringt uns zu jenem Pastoraldokument für die Personen mit homosexuellen Neigungen, das 1986 von der Glaubenskongregation veröffentlicht wurde, in dem bereits ein Homo-Netzwerk in- und außerhalb der Kirche beklagt wurde, das den Umsturz der katholischen Glaubenslehre zum Ziel hat.
Kardinal Müller: Ja, normalerweise geben sie sich nicht öffentlich zu erkennen, aber man kann sie an einigen seltsamen Verhaltensweisen erkennen, an der Art, mit der sie sich präsentieren, an bestimmten Meinungen. Sie unterstützen sich gegenseitig, greifen jene persönlich an, die ihrer Agenda im Weg stehen, verbiegen die Lehre der Kirche für ihre Zwecke und polemisieren ständig gegen die rechtgläubigen Katholiken. Das enttarnt sie. Auf diese Weise zerstören sie aber nicht nur die Glaubenslehre, sondern auch die Menschen, von denen sie behaupten, ihnen helfen zu wollen. Sie gebrauchen die Menschen, die homosexuelle Neigungen haben, um ihrer Ideologie zum Sieg zu verhelfen. Sie mißbrauchen diese Menschen ideologisch.
„Ein päpstliches Dokument kann nicht die in Gottes Schöpfung grundgelegte Anthropologie ändern“
NBQ: Sogar der Avvenire, die Tageszeitung der italienischen Bischöfe, behauptet, daß es in der Kirche eine Wende zur Homosexualität gegeben hat, daß es keinen moralischen Tadel mehr gibt, und daß das aus dem Apostolischen Schreiben Amoris laetitia zu entnehmen sei.
Kardinal Müller: Das stimmt nicht, aber auch wenn dem so wäre, kann ein päpstliches Dokument nicht die in der Schöpfung Gottes grundgelegte Anthropologie ändern. Es ist möglich, daß ein päpstliches Dokument oder das Lehramt der Kirche die Fakten der Offenbarung und der Schöpfung nicht gut erklärt, aber das Lehramt ist nicht die christliche Glaubenslehre. Es gibt die Art, das Lehramt zu verstehen, als habe es nichts mit der katholischen Tradition zu tun. Der Papst wird behandelt, als sei er ein Orakel. Was immer er sagt, wird zur unbestreitbaren Wahrheit. Dem ist aber nicht so: Viele Dinge sind Privatmeinungen des Papstes, Dinge also, über die man diskutieren kann. Wenn der Papst heute sagen würde, daß die Teile mehr sind als das Ganze, hätten wir die Strukturen der Mathematik, der Geometrie geändert. Das ist lächerlich. Oder wenn der Papst heute sagen würde, daß wir kein Tierfleisch mehr essen dürfen, wäre dennoch für keinen Katholiken das Essen von Fleisch verboten.
NBQ: Sie wollen sagen, hypothetisch gedacht: Sollte der Papst eine „vegane“ Enzyklika schreiben, wäre sie für keinen Katholiken verbindlich? Wie das?
Kardinal Müller: Weil das nicht Teil der materia fidei ist. Die Autorität des Papstes ist sehr begrenzt. Einige sehen nur seine öffentliche Autorität, das, was von den Massenmedien berichtet wird, und sie gebrauchen ihn nach ihrem eigenen Denken. In Wirklichkeit aber akzeptieren sie die Autorität des Papstes, wie sie in unserer Ekklesiologie begründet ist, nicht.
„Es gibt eine krasse Ignoranz, sogar unter Kardinälen“
NBQ: Apropos Ekklesiologie. In den vergangenen Tagen haben wir auf La Nuova Bussola Quotidiana den Fall einer ökumenischen Messe in Mailand beklagt, bei der eine baptistische „Pastorin“ das Evangelium verkündete, predigte und die Eucharistie verteilte, nachdem sie bei der Wandlung an der Seite des Priesters stand. Und der Pfarrer sagte, daß die Transsubstantiation nur eine von mehreren Möglichkeiten sei, die Eucharistie zu verstehen. Leider ist diese Art von Ökumene kein Einzelfall.
Kardinal Müller: Und ein Bischof hätte die Pflicht einzugreifen, weil es unter Priestern, Bischöfen und sogar Kardinälen leider eine krasse Ignoranz gibt: Sie sind Diener des Wortes Gottes, aber sie kennen es nicht, und sie kennen die Glaubenslehre nicht. Wenn wir von Transsubstantiation sprechen, haben das Vierte Laterankonzil, das Tridentinum und auch das Zweite Vaticanum sowie einige Enzykliken wie Mysterium Fidei (1965) erklärt, daß die Kirche mit diesem Begriff die Realität der wirklichen Verwandlung des Brotes und des Weines in die Substanz des Leibes und des Blutes Jesu Christi zum Ausdruck bringt. Die Lutheraner glauben an die Realpräsenz, aber nicht im katholischen Sinn. Sie glauben nicht an die Verwandlung von Brot und Wein. Das ist nicht irgendein kleiner Unterschied. In England zur Zeit von Eduard VI. und Elisabeth I., im 16. Jahrhundert, galt die Todesstrafe für jene, die an die Transsubstantiation glauben. Viele Katholiken haben das Martyrium erlitten, und es war nicht so, daß sie ihr Leben nur für eine von vielen Möglichkeiten verloren haben, wie man die Eucharistie sehen könnte, sondern für die Realität des Sakraments.
Der heilige Thomas [von Aquin] sagte, daß es eine schwere Sünde ist, wenn die Bischöfe und die Priester die Glaubenslehre der Kirche nicht kennen. Das ist ihre Pflicht. Natürlich werden die Priester, wie der in Mailand, irgend etwas von drittklassigen Theologen gelesen haben, die Müll schreiben und reden, ohne die Glaubenslehre zu kennen. Das kann aber nicht einen geradezu blasphemischen Akt rechtfertigen. Die Protestanten akzeptieren in ihrem Glauben das Weihesakrament nicht, deshalb können sie nicht an der Seite eines katholischen Priesters stehen. Wenn der Pfarrer das zuläßt, leugnet er auch das Weihesakrament und macht sich zum Protestanten. Auch mit den Orthodoxen, deren sakramentales Priestertum wir anerkennen, ist eine Konzelebration nicht möglich, weil die volle Einheit fehlt.
NBQ: Was aber kann ein Gläubiger tun, wenn er sich in einer solchen Messe befindet?
Kardinal Müller: Er muß öffentlich protestieren. Er hat das Recht wegzugehen oder, wenn er dazu imstande ist, kann er etwas sagen: „Ich protestiere gegen diese Entheiligung der Heiligen Messe“; „Ich bin gekommen, um die katholische Messe mitzufeiern, nicht um an einem Konstrukt eines Pfarrers teilzunehmen, das nichts mit dem katholischen Glauben zu tun hat“. Was in der Mailänder Pfarrei geschehen ist, hat nichts mit Ökumene zu tun. Es ist vielmehr ein Schlag gegen die echte Ökumene.
NBQ: Welche ist die echte Ökumene?
Kardinal Müller: Es gibt das Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils Unitatis redintegratio, das in den ersten beiden Kapiteln die Grundsätze der katholischen Ökumene beschreibt. Es gibt keine allgemeine Ökumene, sondern eine Ökumene nach den Grundsätzen des katholischen Glaubens; und die anderen haben eine Ökumene nach ihren Grundsätzen. Mit den anderen christlichen Konfessionen gibt es nicht nur eine Verschiedenheit in den Glaubensinhalten, sondern auch in der Hermeneutik des Glaubens.
„Mißbrauch um die Kirche zu protestantisieren und zu islamisieren“
NBQ: Für die Katholiken sind Jahrestage gefährlich geworden. Nach dem Jubiläum der lutherischen Reformation mit all seiner falschen Ökumene folgen nun die 800 Jahre der Begegnung des heiligen Franz von Assisi mit dem Sultan: Und schon beginnen die Islam-Kurse in den Pfarreien und die Imame werden in die Kirchen eingeladen, um zu erklären, wer Jesus ist – für den Islam.
Kardinal Müller: Gewiß, aber ich wette, daß der Pfarrer nicht in die Moschee geht, um das Konzil von Nicäa zu erklären. Für uns ist es eine Beleidigung, zu behaupten, daß Jesus nur ein Mensch ist und nicht der Sohn Gottes. Wie kann man jemand in eine Kirche einladen, um sich beleidigen zu lassen? Heute gibt es in der Katholizität leider ein schlechtes Gewissen wegen des eigenen Glaubens und man kniet immer vor den anderen nieder. Zuerst das Luther-Jahr, jetzt das des heiligen Franz von Assisi: Sie werden mißbraucht, um die Kirche zu protestantisieren und zu islamisieren. Das ist kein echter Dialog. Einige von uns haben den Glauben verloren und wollen sich zu Sklaven der anderen machen, um geliebt zu werden.
NBQ: Was ist heute das größte Problem für die Kirche?
Kardinal Müller: Die Relativierung des Glaubens. Es scheint heute kompliziert, den katholischen Glauben in seiner Vollständigkeit und mit einem rechten Gewissen zu verkündigen. Auch die Welt von heute verdient aber die Wahrheit, und die Wahrheit ist die Wahrheit von Gott Vater, die Wahrheit von Jesus Christus und die Wahrheit des Heiligen Geistes. Die falschen Kompromisse nützen dem Menschen von heute nichts. Anstatt den Glauben zu verkünden, die Menschen zu erziehen, den Menschen zu lehren, neigt man dazu, zu relativieren, und sagt immer ein bißchen weniger, weniger, weniger, weniger… Ein Beispiel: Anstatt den Sinn der Ehe und ihre Unauflöslichkeit zu erklären, sucht man Ausnahmen und geht rückwärts. Anstatt von der Würde des Priestertums, seiner Ehre und dem Strahlen der Wahrheit der Sakramente zu sprechen, wird alles auf eine Gelegenheit reduziert, zusammenzusein. Es gibt eine Verflachung des Christentums. Es wird auf eine Form reduziert, um den Menschen von heute zu gefallen. So aber betrügen wir die Menschen. Wenn wir uns mit Menschen anderer Religionen zusammenfinden, können wir uns nicht in einem allgemeinen Glauben zusammenschließen. Der Glaube wird dadurch auf einen philosophischen Glauben reduziert, Gott zu einem transzendenten Wesen, und dann sagen wir, daß Allah oder Gott, der Vater von Jesus Christus, dasselbe sei. Auch der Gott des Deismus hat nichts mit dem Gott der Christen zu tun.
„Christliche Brüderlichkeit hat nicht die Brüderlichkeit der französischen Revolution zum Maßstab“
NBQ: Der Papst beharrt sehr auf dem Konzept einer universalen Brüderlichkeit. Wie muß sie verstanden werden, um diese Verwirrung zu vermeiden?
Kardinal Müller: Mir hat das ganze große Lob der Freimaurer für den Papst nicht gefallen. Ihre Brüderlichkeit ist nicht die Brüderlichkeit der Christen in Jesus Christus, sie ist viel weniger. Wir dürfen nicht das als Maßstab für Brüderlichkeit nehmen, was aus der französischen Revolution kommt. Das ist Ideologie wie der Kommunismus. Wer definiert, wer mein Bruder ist? Wir sind untereinander Brüder, weil wir Kinder Gottes sind, weil wir Christus anerkennen, der Mensch geworden ist. Das ist die Grundlage der Brüderlichkeit.
Im Sinne der Schöpfung sind wir alle Kinder Gottes. In diesem Sinne sprechen wir auch von universaler Brüderlichkeit: Man darf nicht töten; auch im Krieg ist der, den ich töte, mein Bruder. Alle haben wir einen Vater im Himmel, aber dieser Vater hat sich im Heiligen Land dem Moses, den Propheten und am Ende in Jesus Christus offenbart. Wenn wir die natürliche Brüderlichkeit des Menschen nicht zur Brüderlichkeit in Jesus Christus erheben, verwerfen wir die übernatürliche Dimension und vernatürlichen die Gnade. Eine universale Religion gibt es nicht, es gibt eine universale Religiosität, eine religiöse Dimension, die jeden Menschen zum Mysterium drängt. Manchmal hört man absurde Ideen wie jene, der Papst sei das „Oberhaupt einer Welteinheitsreligion“, aber das ist lächerlich. Petrus ist Papst wegen seiner confessio, seinem Bekenntnis des Glaubens: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“. Das ist der Papst, und nicht der Chef der UNO.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: NBQ
Vergelt’s Gott an Kardinal Mueller fuer seine Klarstellung, seinen Mut, sein Standhalten in einer so verwirrten Zeit mit
einem Papst, fuer den man nur noch beten kann, sonst packt einem ja der heilige Zorn.