(Rom) Kardinal Gerhard Müller bemühte sich als Glaubenspräfekt, das umstrittene nachsynodale Schreiben Amoris laetitia im Licht der Kontinuität zu lesen. Dazu hielt er am 4. Mai 2016, einen Monat nach der Veröffentlichung von Amoris laetitia, eine „monumentale Rede“ in Oviedo. Dennoch antwortete ihm der Vatikanist Sandro Magister nur zwei Tage darauf, daß es „zu spät“ sei. Vor zwei Wochen geriet ungewollt das Abstimmungsverhalten Müllers am Ende der Familiensynode 2015 in die Diskussion. Seit zwei Jahren hält sich das Gerücht, daß seine Stimme ausschlaggebend war, daß die Synode nicht gescheitert ist, sondern der Weg für Amoris laetitia frei. Gestern bekam diese Diskussion neue Nahrung. Der päpstliche Haus- und Hofvatikanist Andrea Tornielli veröffentlichte Auszüge aus einer erweiterten Einführung von Müller zum neuen Buch von Rocco Buttiglione. Der Wojtylianer Buttiglione gehört zu den ungewöhnlichsten Verteidigern von Amoris laetitia und scheint auch unter den Unterzeichnern der noch ungewöhnlicheren Initiative des progressiven Pastoraltheologen Paul Zulehner „Pro Pope Francis“ auf. Wie kommt es aber, daß Kardinal Müller plötzlich von Bergoglianern Raum gegeben wird, die ihn bisher geprügelt haben?
Hermeneutik der Kontinuität kommt „zu spät“
Magister schrieb im Mai 2016 zur Oviedo-Rede Müllers:
„Mit einer monumentalen Rede in Spanien stellte der Präfekt der Glaubenskongregation das nachsynodale Schreiben Amoris Laetitia in den Fluß der bisherigen Ordnung der Kirche. Zu spät, weil Franziskus es so geschrieben hat, daß man das Gegenteil davon versteht.“
Die Bergoglianer attackierten Kardinal Müller wiederholt öffentlich und noch viel schärfer hinter den Kulissen. Gründe dafür fanden sie immer wieder, ob es Müllers Teilnahme an der Tagung zum 10. Jahrestag des Motu proprio Summorum Pontificum war oder der behauptete Mangel an bedingungsloser Gefolgschaft für Kardinal Schönborns Amoris-laetitia-Interpretation. Für wenig sich Franziskus in der Frage entschieden hatte, für Müller oder Schönborn, tat er unüberhörbar kund.
Tatsache ist, daß Müller als Glaubenspräfekt von Papst Franziskus schon lange vor seiner Entlassung marginalisiert worden war. Die seitenlangen Anmerkungen und Korrekturvorschläge zu Amoris laetitia, die der Kardinal und seine Kongregation dem Papst dringend nahelegten, wurden einfach ignoriert. Die nachträglichen Versuche, zu retten, was zu retten ist, liefen bisher weitgehend ins Leere, weil die von Papst Franziskus unterstützten Kirchenkreise mit Entschlossenheit in eine andere Richtung marschieren. Da sich der Kardinal jeder öffentlichen Kritik an Papst Franziskus enthielt, scheint sein Kampf um die Interpretationshoheit des umstrittenen Dokuments fast zwangsläufig zum Scheitern verurteilt.
Gedankt wurde es ihm von Franziskus ohnehin nicht. Sobald die fünfjährige Amtszeit als Glaubenspräfekt um war, wurde Müller von ihm entlassen, ohne Nennung von Gründen. An dieser Stelle übte selbst Müller Papst-Kritik, wenn er dieses Verhalten als „inakzeptablen Stil“ bezeichnete.
Als eine Gruppe mutiger Theologen und Philosophen die Correctio filialis wegen der Verbreitung von Häresien veröffentlichte, war es Kardinal Müller, der als einziger forderte, was längst stattfinden sollte: die Eröffnung eines theologischen Disputs über die offenen Fragen zu Amoris laetitia. Zugleich sagte der Kardinal, daß gläubige Katholiken die anfragen auch eine Antwort verdienen.
Genau das wollen Franziskus und sein Umfeld nicht. Daß der Kardinal dennoch verlangte, was der Sache nach richtig ist, ehrt ihn. Daß er damit an der Kirchenspitze ziemlich allein blieb, bietet Einblick in den aktuellen Zustand der Kirchenführung, der geprägt scheint von Euphorie, Trägheit und Angst. Der Kreis um Papst Franziskus ist euphorisch, ein anderer, nicht unerheblicher Teil ist von Franziskus Härte eingeschüchtert, und wieder ein anderer Teil ergeht sich in einer Trägheit, die zu allen Zeiten verantwortungslos war. Nur ein kleiner Teil erhebt sich und will Klarheit wie die Kardinäle Brandmüller, Burke, Caffarra und Meisner mit den Dubia (Zweifeln). Zwei von ihnen sind in den vergangenen Monaten gestorben.
Position Müllers klar und doch erklärungsbedürftig
Welche Position Müller inhaltlich zu den umstrittenen Fragen zu Amoris laetitia genau einnimmt, ist klar und scheinbar zugleich doch nicht. Sie bewegt sich zwischen den Fronten. Dem Inhalt nach, aber nicht der Form, steht sie den Dubia-Kardinälen sehr nahe. Die Aufforderung zum theologischen Disput, um eine Klärung herbeizuführen, würde Klarheit schaffen. Das weiß Kardinal Müller, und das weiß auch Papst Franziskus. Deshalb sprach sich der eine dafür aus, während der andere bisher alles tut, um eben einen solchen zu verhindern.
Die päpstliche Strategie operiert maßgeblich mit dem Faktor Unklarheit. Im Umfeld von Franziskus weiß man sehr genau, daß in einem theologischen Disput die Argumente zählen, und diese vor der Tradition Bestand haben müssen. Die Bergoglianer, das ist kein Geheimnis, haben weder das eine noch rechnen sie mit dem anderen. Taktisch sind sie, das muß auch gesagt werden (können), zudem auch noch unehrlich. Sie wollen und vollziehen, gestützt von Franziskus, eine Revolution, leugnen sie aber.
Der Mangel an Argumenten, oder besser gesagt, der selbst auferlegte Zwang wegen der Leugnung des Evidenten keine inhaltliche Diskussion eingehen zu können, wird durch Verbalradikalismus, Attacken und Strafmaßnahmen gegen Kritiker kompensiert. Das aber trägt zu einer generellen Verschlechterung des Klimas bei. Auch unter tendenziellen Anhängern der von Franziskus und seinem Umfeld betriebenen Neuerungen macht sich Enttäuschung breit über den lieblosen, ja harten Umgang mit Andersdenkenden. Jeder ahnt, daß es ihm zu einem anderen Thema bei abweichender Meinung ähnlich ergehen könnte.
Die Endphase der Bischofssynode 2015
Jüngst sorgte ein Müller-Interview in der Tagespost für einige Diskussion. Die Frage kreiste um die genaue Position, die der Kardinal in der Kernfrage der doppelten Familiensynode, der Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion, einnimmt bzw. eingenommen hat.
In der Endphase der entscheidenden zweiten Bischofssynode schien, trotz einer bevormundenden Synodenregie, alles aus dem Ruder zu laufen. „Alles“ meint zweierlei: einmal die Möglichkeit eines offensichtliche Scheiterns der Strategie von Papst Franziskus, zum anderen aber auch die Gefahr eines Imageschadens für die Gesamtkirche. Die beiden Aspekte stehen zwar durch denselben Anlaß, aber nicht inhaltlich in einem Zusammenhang. Beide Aspekte bewegten aber unterschiedliche Synodenkreise und bedingten ihre Entscheidungen.
Laut den beiden führenden italienischen Tageszeitungen, dem bürgerlichen Corriere della Sera und der linken La Repubblica, kam dem diplomatischen Geschick von Kardinal Schönborn in dieser Schlußphase eine entscheidende Rolle zu. In der Substanz könnte Kardinal Müller aber noch weit entscheidender gewesen sein. Deshalb entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, daß Schönborn zum Dank von Franziskus mit ungewohnten Ehren belohnt, Müller aber entlassen wurde.
Müller-Kritik an „vorgefertigter“ Synodenregie
Diese unterschiedliche Behandlung ist der Ehrlichkeit Müllers geschuldet, dem man manches vorwerfen wird können, aber nicht, daß er sich nicht ehrlich um die Sache bemühen würde. Damit macht er es sich nicht leicht und kann sogar schnell einmal zwischen allen Stühlen sitzen. Ein konkretes Beispiel: Während Schönborn bereits während der ersten Familiensynode 2014 eifrig die Kasper-Bergoglio-Linie übernahm und dieser tatkräftige Schützenhilfe lieferte (Stichwort Gradualitätsthese), protestierte Müller zusammen mit zwölf weiteren Kardinälen am Beginn der zweiten Familiensynode gegen die Synodenregie, der „vorgefertige Ergebnisse“ vorgeworfen wurden. Die Kritik richtete sich nicht namentlich gegen Franziskus, war aber zwangsläufig so gemeint.
Daß sich die dreizehn Purpur-Synodalen mit ihrem Protest an den Papst wenden mußten, der selbst für diesen verantwortlich war, zeigt das Dilemma der Gesamtfrage auf. Was kann man ausrichten, wenn eine Fehlentwicklung vom Papst selbst ausgeht oder von diesem unterstützt wird?
Franziskus ist nachtragend, wie man aus Buenos Aires weiß. Daß Müller dennoch einen so eklatanten Schritt setzte, zeigt, daß er – von einer Sache überzeugt – auch bereit ist, persönliche Risiken und Opfer auf sich zu nehmen. Diese folgten auch prompt: päpstliche Rüge, Marginalisierung und Entlassung. Allein schon dadurch hebt er sich zusammen mit einer kleinen Minderheit vom Großteil des Kardinalskollegiums ab.
Welchen Beitrag leistete Müller zu Amoris laetitia?
Wie sah aber der Beitrag von Kardinal Müller beim Zustandekommen von Amoris laetitia aus?
Es gab keinen, möchte man antworten. Was das im Detail heißt, soll nachzuzeichnen versucht werden.
Die Synodenarbeiten fanden hinter verschlossenen Türen statt. Kardinal Müller beteiligte sich aber bereits vor Beginn der Bischofssynoden an einem von Kardinal Raymond Burke initiierten Sammelband „In der Wahrheit Christi bleiben: Ehe und Kommunion in der katholischen Kirche“. Sie ahnten bereits, was kommen würde und lieferten den Synodalen eine Argumentationshilfe gegen die Kasper-(Bergoglio)-These.
Neben mehreren Theologen waren fünf Kardinäle an dem Sammelband beteiligt. Zwei von ihnen, Kardinal Caffarra und Kardinal De Paolis, sind Anfang September innerhalb weniger Tage gestorben. Zuvor waren sie bereits ignoriert und gedemütigt worden. Kardinal Burke wurde auf der Synode zum nach außen sichtbaren Wortführer der Verteidiger des kirchlichen Lehramtes. Bereits vor Synodenbeginn war ihm mit Absetzung als oberster Richter des Heiligen Stuhls gedroht worden. Als diese Einschüchterung nichts fruchtete, folgte nach Synodenende tatsächlich seine Entlassung. Kardinal Brandmüller war bereits emeritiert und damit „unangreifbar“, während Kardinal Müller Ende Juni 2017 entlassen wurde. In Summe ein richtiger Kahlschlag.
Franziskus warf seinen Kritikern sogar vor, ohne sie namentlich zu nennen, eine „Todsünde“ zu begehen. Einschüchterung hoch drei. Auch vor diesem Hintergrund ist der Protestbrief der dreizehn Kardinäle zu bewerten, der vier Monate später Franziskus erreichte und empörte.
Der Schlußbericht des Circulus germanicus
Die genauen Redebeiträge Müllers auf der Synode lassen sich nicht rekonstruieren. Tatsache ist, daß seine Position von den Synoden-Regisseuren nicht erwünscht war, da er nie zu einer der täglichen Pressekonferenzen eingeladen wurde, die von Synodensekretariat und der vatikanischen Pressestelle organisiert wurden.
Gegen Ende der Synode wurde es dann spannend. Der Bericht des deutschen Sprachkreises wurde, so die glaubwürdigen Berichte, einhellig gefaßt. Kardinal Müller kann sich also nur der Stimme enthalten oder dafür gestimmt haben. Er selbst bestätigte das indirekt in seinem jüngsten Tagespost-Interview vom 13. Oktober. Der Circulus germanicus, dem Müller, Schönborn und Marx angehörten, formulierte zurückhaltend. Die Frage der Kommunion-Zulassung wurde nicht ganz offen, aber ziemlich direkt angesprochen. Katholisches.info schrieb dazu am 22. Oktober 2015:
„Der Schwerpunkt liegt auf dem ‚Forum internum‘ und dazu wird Familiaris Consortio Nr. 84 von Johannes Paul II. zitiert. Daß der zweite Teil von Nr. 84 unerwähnt bleibt, läßt erkennen, in welche Richtung die Mehrheit der deutschen Gruppe tendiert. In diesem zweiten Teil von Nr. 84 heißt es, daß wiederverheiratete Geschiedene, die sich ‚aus schwerwiegenden Gründen‘ nicht trennen können, ‚wie Bruder und Schwester‘ leben sollen. Die Berufung auf Nr. 84 ist im Vergleich zum Ausgangspunkt, der Rede Kaspers im Februar 2014 vor dem Kardinalskonsistorium und die von ihm dargelegte Kasuistik ziemlich bescheiden. Unschwer läßt sich erkennen, daß der Text ein Kompromiß ist, um ein einstimmiges Votum zu ermöglichen.“
Die eigentliche Frage wurde damit zur Auslegungssache. Die Schwäche dieser Linie mußte natürlich auch Kardinal Müller bewußt sein. Denn die Auslegung liegt in strittigen Fällen bekanntlich in der Hand des Stärkeren. Müller optierte im Circulus germanicus, ob unter Gruppenzwang war damals noch unklar, für eine andere Position als jene, die er bis dahin vertreten hatte.
Müllers Sinneswandel?
Im Oktober 2013 hatte er in einem vielbeachteten Aufsatz im Osservatore Romano geschrieben:
„Wenn wiederverheiratete Geschiedene in ihrem Gewissen subjektiv der Überzeugung sind, daß eine vorausgehende Ehe nicht gültig war, muß dies objektiv durch die zuständigen Ehegerichte nachgewiesen werden. Die Ehe betrifft nämlich nicht nur die Beziehung zweier Menschen zu Gott, sie ist auch eine Wirklichkeit der Kirche, ein Sakrament, über dessen Gültigkeit nicht der einzelne für sich, sondern die Kirche entscheidet, in die er durch Glaube und Taufe eingegliedert ist.“
Mit dem Circulus-Bericht akzeptierte er im Oktober 2015 aber die Möglichkeit eines „Weges der Unterscheidung“ in Einzelfällen, wobei im forum internum zu klären sei, in welchem Maß ein Zugang zu den Sakramenten möglich wäre. Im Bericht der deutschen Arbeitsgruppe wurde die Kommunion durch die Formulierung „Zugang zu den Sakramenten“ ausdrücklich erwähnt. Aus der Relatio finalis der Synode ist dieser Bezug dann verschwunden, nachdem er in der Synodenaula heftiger Kritik ausgesetzt war. Anfang Mai 2016 enthüllte der Sondersekretär der Synode, Erzbischof Bruno Forte, daß ihm Papst Franziskus persönlich den Auftrag erteilt hatte, jede diesbezügliche Erwähnung zu vermeiden, weil „die uns“ sonst „einen Wirbel“ machen. Auch das gehört zu den Tricksereien und unschönen Seiten eines nicht offenen und nicht ehrlichen Dialoges.
Der Abschlußbericht der Synode
Zu diesem Zeitpunkt, allerdings nicht wegen des deutschen Sprachkreises, befürchteten Franziskus und die Kasperianer nämlich berechtigterweise das Scheitern der Synode. In anderen Sprachkreisen war der Widerstand deutlicher. Im Umfeld des Papstes wurde bereits ein Plan B gesucht. Die Synode könne vielleicht ohne Schlußbericht enden (sollte das gewünschte Ergebnis nicht erzielt werden).
Zugleich wurde in internen Gesprächen der Teufel an die Wand gemalt: der Imageschaden, der durch ein Scheitern der Synode für die Kirche entstehen würde. Vor allem würde vor aller Augen eine Spaltung in der Kirche offensichtlich werden lassen. Das versetzte einige Synodalen in Unruhe. Tatsache ist, daß vor allem die persönliche Autorität von Franziskus geschwächt, vielleicht sogar definitiv beschädigt worden wäre. Ob das wirklich ein Schaden für die Kirche gewesen wäre, kann erst die Zukunft klären.
In der Abstimmung über den Schlußbericht trat tatsächlich ein, was befürchtet wurde. Die nötige Mehrheit kam nicht zustande. Nun setzten fieberhafte Verhandlungen ein, um in letzter Minute eine Kompromißformel zu finden. Bekanntlich entfalten solche Situationen ihre ganz eigene Dynamik. Wer die besseren Nerven hat, ist eindeutig im Vorteil.
Schönborns Vermittlung und das hauchdünne Abstimmungsergebnis
Durch Schönborns Vermittlungsgeschick (im Sinne von Franziskus) gelang der Durchbruch – nicht ohne ein Mittagessen des Wiener Kardinals bei Benedikt XVI., wie es seither hartnäckig heißt. Wie genau der emeritierte Papst in die Synoden-Choreographie eingebaut wurde, um einige Synodalen „zur Vernunft“ zu bringen, bleibt vorerst im Verborgenen.
Tatsache ist, daß eine neu formulierte Fassung zur Abstimmung vorgelegt wurde. Die Frage, um die sich alles drehte, wurde im Paragraph 85 behandelt: die Zulassung der wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion. Selbst in der abgeschwächten, neuen Fassung bekam dieser Paragraph nur eine Stimme mehr, als für das Mindestquorum notwendig war. Trotz aller Gespräche, Vermittlungen, Kompromißformeln und Tricksereien war der Widerstand noch immer unübersehbar. Der Grund? Ein Teil der Synodalen witterte einen faulen Kompromiß. Nicht zu Unrecht, wie sich herausstellen sollte.
Warum „Tricksereien“? Weil der neue Schlußbericht nur in italienischer Sprache vorgelegt wurde. Italienisch ist in der Kirche zwar eine verbreitete Verkehrssprache, besitzt aber keinen offiziellen Status. Es konnte nicht vorausgesetzt werden, daß alle 265 Synodalen, die an der Abstimmung teilnahmen, über ausreichend Sprachkenntnisse verfügten, um in einer so wichtigen Frage, in der jedes Wort gewogen wird, eine Entscheidung treffen zu können.
Von wem kam die eine, entscheidende Stimme?
Sofort wurde die Frage gestellt, von wem die alles entscheidende 178. Stimme gekommen war. Theoretisch kommt sie von jedem der 178 Synodalen, die für den Paragraphen 85 gestimmt haben. Konkret aber nicht: Daß Kasper dafür stimmte, war naheliegend, daß Müller dafür stimmte, aber nicht.
In seinem jüngsten Tagespost-Interview nahm Kardinal Müller dazu Stellung und bestätigte indirekt, was bereits nach Synodenende gesagt wurde: Es war seine Stimme, die Franziskus und Kasper die fatale Mehrheit verschaffte, die zu Amoris laetitia führte. Wörtlich sagte Müller nun, zwei Jahre später, dazu:
„Es wurde gesagt, der Abschlußbericht sei mit einer Stimme, also mit meiner Stimme, genehmigt worden. Es ist jedoch auch wahr, dass diese Abstimmung geheim war.“
Entscheidend an diesem Satz ist, daß der Kardinal nicht dementierte, für den Abschlußbericht gestimmt zu haben. Die Gründe für sein Abstimmungsverhalten bleiben allerdings unklar, zumal er selbst betonte, daß die Abstimmung geheim war. War es die Sorge, wie bereits im Herbst 2015 spekuliert wurde, vor einer unkalkulierbaren Situation, die durch ein offensichtliches Scheitern von Franziskus gleich in der ersten, von ihm für wichtig erklärten Frage entstehen hätte können?
Franziskus sauer, Kasper „sehr zufrieden“
In der Ansprache von Franziskus zum Synodenabschluß war zunächst unüberhörbar, daß es nicht das Ergebnis war, das sich Franziskus erhofft hatte. Kardinal Kasper fand jedoch schnell zur Contenance zurück und erklärte bereits am Tag nach Synodenende: „Ich bin sehr zufrieden“. Er hatte erkannt, daß nun alles eine Frage der Interpretation sein würde, und da saß er im Rücken von Papst Franziskus eindeutig am längeren Hebel als die Synodalen, die den Paragraphen 85 abgelehnt hatten. Denn: Bekanntlich ist Papier geduldig. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil weiß man in der Kirche nur zu gut, daß mehr der „Geist“ hinter den Buchstaben als die Buchstaben selbst zählen.
Das Chaos ist seither perfekt. Durch unterschiedliche Interpretationen von Amoris laetitia geht eine Spaltung mitten durch die Kirche. In Polen gilt weiterhin, was immer gegolten hat, in der Bundesrepublik Deutschland dürfen wiederverheiratete Geschiedene ungehindert zur Kommunion gehen. Gleiches gilt in der Diözese Rom, was selbst fromme Katholiken noch immer nicht wirklich realisiert haben.
Wenn Bergoglianer Müller nicht prügeln, sondern ihm Raum geben
Gestern wurden Kardinal Müller, dem von Bergoglianern vielgeprügelten, ehemaligen Glaubenspräfektenvon von eben dieser Seite unerwartet Blumen gestreut. Ausgerechnet Vatican Insider, die Nachrichtenplattform des päpstlichen Haus- und Hofvatikanisten Andrea Tornielli, räumte ihm ein Forum ein. Wie das?
Die Sache verdient, näher betrachtet zu werden.
Vatican Insider veröffentlichte Auszüge aus einem einführenden Aufsatz, den Müller zum neuen Buch von Rocco Buttiglione beisteuerte. Das Buch „Risposte amichevoli ai critici di Amoris laetitia“ („Freundschaftliche Antworten an die Kritiker von Amoris laetitia“, Edizioni Ares) wird am kommenden 10. November in den Buchhandel kommen.
Buttiglione ist Professor für politische Ideengeschichte und christdemokratischer Politiker. Von 1994–2002 war er Vorsitzender von Nachfolgeparteien der Democrazia Cristiana (DC), von 2001–2006 italienischer Minister, und seit 1994 ist er Abgeordneter zum Italienischen Parlament. 2004 scheiterte seine Wahl zum Vizepräsidenten der Europäischen Kommission am linken und liberalen Widerstand gegen seine katholischen Positionen zu Homosexualität und Abtreibung.
Buttiglione der unerwartete Verteidiger von Amoris laetitia
Als nach der Veröffentlichung von Amoris laetitia Kritik laut wurde, trat Buttiglione unerwartet als Verteidiger des neuen Kurses auf und konnte dazu im Osservatore Romano veröffentlichen. Die päpstlichen Medien sind hingegen für jede kritische Auseinandersetzung mit Amoris laetitia gesperrt.
Daraus entspannte sich eine interessante und intensive Auseinandersetzung zwischen dem österreichischen Philosophen Josef Seifert, der Amoris laetitia einer vernichtenden Kritik unterzogen hatte. Seifert und Buttiglione hatten zu besseren Zeiten gemeinsam die Internationale Akademie für Philosophie mit Sitz in Vaduz und in Granada gegründet. Seifert wurde inzwischen vom Erzbischof Granada wegen „Papstkritik“ aus dem spanischen Teil der von ihm gegründeten Akademie entlassen. Buttiglione befindet sich hingegen in der päpstlichen Gunst, wozu er durch sein neues Buch, aber auch seine Unterschrift für die kuriose Pro Pope Francis-Initiative reichlich beiträgt. Kurios ist nicht nur die Initiative selbst, bei der ausgerechnet, federführend Vertreter des deutschen Modernismus im papistischen Gewand des Weges kommen, das ihnen so ganz und gar nicht stehen will. Geradezu kakophon ist das Meinungsgewirr, das hier vermeintlich einträchtig zum Gruppenbild posiert: Rocco Buttiglione neben Volker Beck, Martha Heizer, Erwin Kräutler, Paul Zulehner…
Müller im Buttiglione-Buch
Das Vorwort von Kardinal Müller für das neue Buttiglione-Buch erstaunt daher. Der Kardinal wiederholt darin seine Position, daß die „Spannung“ zwischen „dem objektiven Status der Zweitehe und der subjektiven Schuld“ über die „pastorale Unterscheidung“ Wege zum Sakramentenempfang öffnen könne.
Die Zustimmung zum Bericht des Circulus germanicus m Oktober 2015 war daher weder ein Zufall noch ein „Betriebsunfall“. Insgesamt versucht Müller erneut, was er bereits in den vergangenen 18 Monaten ziemlich erfolglos versuchte, wenngleich der Versuch selbst verständlich ist. Er liest Amoris laetitia im Licht der Kontinuität. Müller wörtlich:
„1. Die dogmatische Lehren und die pastoralen Aussagen des Achten Kapitels von Amoris laetitia können und müssen im orthodoxen Sinn verstanden werden.
2. Amoris laetitia impliziert keine lehramtliche Wende in Richtung einer Situationsethik und daher keinen Widerspruch mit der Enzyklika Veritatis splendor des heiligen Papstes Johannes Paul II.“
Impliziert es das wirklich nicht? (Dazu: Prof. Josef Seifert: Droht reine Logik die Zerstörung der gesamten Morallehre der katholischen Kirche an?)
Nimmt Müller Papst Franziskus nicht ernst?
Zudem beklagt er eine Überbetonung des Achten Kapitels und der Frage nach der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion.
Gerade damit scheint er Papst Franziskus nicht ernst zu nehmen. Die gesamte Einberufung der Familiensynode, aus der gleich eine Doppel-Synode wurde, die Fragebögen an alle Welt, die ganzen Kontroversen, Entlassungen, Sanktionen, Tricksereien hatten und haben nur einen Grund und ein Ziel: die wiederverheirateten Geschiedenen und deren Zulassung zu den Sakramenten. Oder anders formuliert: Den „Abgrund“ zu schließen, der sich durch die staatliche Zulassung der Scheidung zwischen kirchlicher Lehre und der „Lebenswirklichkeit“ der Menschen aufgetan habe. So hatte es Kardinal Carlo Maria Martini, Jesuit wie Bergoglio, gefordert.
Damit wird auch verständlich, warum Tornielli Müller gestern auf Vatican Insider so sichtbar in Stellung brachte. Kardinal Müller ist in der päpstlichen Entourage unbeliebt und bleibt es wohl auch. Wenn man ihn aber gegen die Papst-Kritiker in Stellung bringen kann, tut man es um so lieber.
Die Instrumentalisierung Müllers durch Tornielli wird auch anhand der fett hervorgehobenen Sätze deutlich, zum Beispiel folgenden Satz:
„Andere Theologen, die sich verpflichtet sehen, rigoros dem Lehramt anzuhängen, unterziehen nun ein Dokument des Lehramtes einer Überprüfung nach den Regeln akademischer Methoden als wäre es die Abschlußarbeit eines ihrer Studenten.“
Die polemische Formulierung dürfte nicht nur Tornielli gefallen haben, hilft in der Sache aber nicht weiter.
„Einzelfälle“ oder „extreme Einzelfälle“: Wo liegt der Unterschied?
Nicht zuletzt geht es auch um Müllers Lob für Buttiglione („echter Katholik mit nachgewiesener Kompetenz im Bereich der Moraltheologie“), der sich in der Bewertung von Amoris laetitia im offenen Konflikt mit Fachkollegen befindet. Dabei muß Buttiglione, der die deutsche Sprache sehr gut beherrscht, angerechnet werden, daß er sich – im Gegensatz zu den polternden Papst-Höflingen – um eine inhaltliche Auseinandersetzung bemüht. Dabei blieb allerdings auch er nicht frei von jenem polemischen Zungenschlag, der das päpstliche Umfeld kennzeichnet, wenn er im Juni 2016 den „Weisen“ vorwarf, Amoris laetitia „nicht zu verstehen“.
Tornielli zielt auf anderes: Wenn Kardinal Müller Buttiglione lobt, dann muß dieser auch in seiner Einschätzung von Amoris laetitia richtig liegen. Das ist die Botschaft an das gläubige Volk, das durch das Interpretations-Chaos verunsichert ist.
Was will Müller aber insgesamt sagen?
An dieser Stelle drängt sich eine Gegenfrage auf: Was für einen Unterschied macht es, ob behauptet wird, wie es das päpstliche Umfeld tut, daß „in Einzelfällen“ Scheidung und Zweitehe faktisch erlaubt sind, oder wie es Müller tut, daß in „extremen Einzelfällen“ (Focus, Oktober 2015) Scheidung und Zweitehe faktisch erlaubt sind.
Kardinal Müller muß sich natürlich bewußt sein, daß die Suche nach dem idealsten aller idealen Fälle für die Gesamtfrage weder repräsentativ noch brauchbar ist. Die Suche nach dem berühmten Ausnahmefall ist letztlich der Casus der berühmt-berüchtigten Kasuistik, die alle mit solcher Vehemenz von sich weisen.
Das ist der Eindruck, den man aus den veröffentlichen Auszügen aus dem Aufsatz für Buttigliones Buch gewinnt. Sollte Tornielli nicht willkürlich aus dem Zusammenhang gerissen haben, steht diese Frage an Kardinal Müller im Raum.
Als Müller am 8. Januar 2017 im TGcom24 die Veröffentlichung der Dubia kritisierte und behauptete, Amoris laetitia sei „sehr klar in seiner Lehre“, schrieb Edward Pentin vom National Catholic Register:
„Es ist das genaue Gegenteil von allem, was er in der Sache bisher gesagt hat, und ich hatte den Eindruck von jemandem, der nicht für sich selbst sprach, sondern wiederholte, was jemand anderes ihm zu sagen aufgetragen hatte.“
Gemeint damit vor allem die Kritik Müllers an Amoris laetitia, die er nicht öffentlich äußerte.
Damals war Müller allerdings noch Präfekt der Glaubenskongregation und rechnete mit seiner Verlängerung im Amt. Die jetzige Situation stellt sich dagegen anders dar.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican Insider/NBQ/MiL/Vatican.va (Screenshots)