Die ersten 100 Tage von Papst Leo XIV.

Versuch einer ersten Bilanz


Welche Bilanz läßt sich nach den ersten 100 Tagen des Pontifikats von Leo XIV. ziehen?
Welche Bilanz läßt sich nach den ersten 100 Tagen des Pontifikats von Leo XIV. ziehen?

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Am 17. August kehr­te Leo XIV. end­gül­tig in den Vati­kan zurück, nach der Som­mer­pau­se in Castel Gan­dol­fo. An die­sem Tag waren zugleich die ersten 100 Tage sei­nes Pon­ti­fi­kats ver­gan­gen, das am 8. Mai 2025 begann.

Rei­chen die­se 100 Tage, in denen der Papst kei­ne ent­schei­den­den Ernen­nun­gen vor­ge­nom­men, kei­ne Aus­lands­rei­sen unter­nom­men oder bedeu­ten­de Reden gehal­ten hat, aus, um die künf­ti­ge Aus­rich­tung sei­nes Pon­ti­fi­kats vor­aus­zu­se­hen? Abso­lut nicht. Die Zei­ten der Kir­che fol­gen nicht denen der Poli­tik, und drei Mona­te sind eine viel zu kur­ze Zeit­span­ne, um fun­dier­te Aus­sa­gen über die Zukunft tref­fen zu können.

Das Pon­ti­fi­kat von Papst Fran­zis­kus war objek­tiv zer­stö­re­risch – nicht so sehr wegen der Sie­ge des Pro­gres­sis­mus, der kei­nes sei­ner radi­kal­sten Zie­le erreicht hat, son­dern wegen der Ver­wir­rung, die er in der gesam­ten katho­li­schen Welt gestif­tet hat, ein­schließ­lich der Spal­tun­gen inner­halb der Tra­di­tio­na­li­sten, von denen sich ein Teil zuneh­mend vom Petrus­pri­mat abwand­te. Der Pro­zeß der Selbst­zer­stö­rung der Kir­che ist also vor­an­ge­schrit­ten, und es ist berech­tigt, sich zu fra­gen, ob Leo XIV. ihn auf­hal­ten wird – auch wenn es noch zu früh ist, eine end­gül­ti­ge Ant­wort zu geben.

Die ersten Ein­drücke sind wich­tig, und Leo XIV. ver­mit­tel­te bei sei­ner Wahl den Ein­druck eines Hir­ten, der sich bewußt ist, daß sei­ne Mis­si­on allein in Chri­stus ver­an­kert ist. Das Mot­to des neu­en Pap­stes, In Illo uno unum („In Chri­stus sind wir eins“), das auf die Wor­te des hei­li­gen Augu­sti­nus zum Psalm 127 zurück­geht, zeigt, daß er über­zeugt ist, nicht nach welt­li­chem Erfolg oder Inno­va­tio­nen beur­teilt zu wer­den, son­dern nach der Treue zum Evan­ge­li­um. Eben­so deut­lich zeig­te sich schon bei sei­nem Besuch des Hei­lig­tums von Gen­az­z­a­no zwei Tage nach der Wahl sei­ne Marienfrömmigkeit.

Der Bezug zu Chri­stus und damit zur über­na­tür­li­chen Natur der Kir­che ist eine Kon­stan­te der ersten drei Mona­te sei­nes Pon­ti­fi­kats. Außer­halb die­ses Grund­steins gibt es kei­ne Mög­lich­keit, das Pro­gramm von Leo XIV. umzu­set­zen, das er mehr­fach betont hat: Ein­heit und Frie­den in Kir­che und Welt wie­der­her­zu­stel­len – gera­de dort, wo das Pon­ti­fi­kat von Papst Fran­zis­kus geschei­tert ist.

Kon­ser­va­ti­ve und tra­di­tio­na­li­sti­sche Kri­ti­ker von Leo XIV. beto­nen, daß der neue Papst in sei­nen ersten 100 Tagen mehr als sieb­zig Mal Papst Fran­zis­kus zitiert und ihn als Bezugs­punkt dar­ge­stellt hat. Sie wei­sen zudem dar­auf hin, daß er schäd­li­che Doku­men­te wie Amo­ris Lae­ti­tia und Tra­di­tio­nis cus­to­des weder ganz noch teil­wei­se zurück­ge­nom­men hat, daß sei­ne Aus­sa­gen dar­auf hin­deu­ten, daß er den syn­oda­len Weg fort­set­zen will, daß er in eini­gen Reden eine für den Pro­gres­sis­mus typi­sche mehr­deu­ti­ge Spra­che ver­wen­det hat und daß er alle Ver­ant­wort­li­chen der Kuri­en­äm­ter, begin­nend mit Kar­di­nal Paro­lin, auf ihren Posten bestä­tigt hat. Ihr abschlie­ßen­des Urteil fällt hart aus: Leo XIV. erschei­ne als ein „Berg­o­glio mit mensch­li­chem Antlitz“.

Gleich­zei­tig gilt aber auch: In kei­nem Bereich hat der Papst die Linie sei­nes Vor­gän­gers über­schrit­ten. Im Gegen­teil, es gibt Zei­chen einer Kurs­kor­rek­tur: Am 31. Mai 2025 sag­te er, daß „die Ehe kein Ide­al, son­dern das Gesetz der wah­ren Lie­be zwi­schen Mann und Frau“ ist und kor­ri­gier­te damit Amo­ris Lae­ti­tia. In sei­ner Anspra­che an die Staats­ober­häup­ter am 21. Juni ver­tei­dig­te Leo XIV. – auf der Linie von Bene­dikt XVI. – nach­drück­lich das Natur­recht, „nicht von Men­schen­hand geschrie­ben, son­dern uni­ver­sell und zu allen Zei­ten als gül­tig aner­kannt“. Am 9. Juli kor­ri­gier­te er in einer Pre­digt in Castel Gan­dol­fo die von Fran­zis­kus geschätz­te „grü­ne“ Ideo­lo­gie, indem er sag­te, man müs­se sich um die Schöp­fung küm­mern, aber ohne ihr Skla­ve zu wer­den und den Men­schen zu rela­ti­vie­ren; in der Audi­enz am 13. August erklär­te er, daß Judas Iska­ri­ot sich durch sei­nen Ver­rat selbst vom Heil aus­schloß – im Gegen­satz zu Papst Fran­zis­kus, der gesagt hat­te, er wis­se nicht, ob Judas in die Höl­le gegan­gen sei. In einem Brief an die Bischofs­kon­fe­renz des Ama­zo­nas am 17. August ver­ur­teil­te er die Anbe­tung der Natur und stell­te Chri­stus und die Eucha­ri­stie ins Zen­trum der Evangelisierung.

Zudem blei­ben die Bestä­ti­gun­gen von Mit­ar­bei­tern von Fran­zis­kus „donec ali­ter pro­vi­de­atur“, also bis zu einer ande­ren Ent­schei­dung. Zugleich ernann­te der Papst Kar­di­nal Robert Sarah zu sei­nem Son­der­ge­sand­ten für die Fei­er­lich­kei­ten am 25. und 26. Juli im Hei­lig­tum Sainte-Anne‑d’Auray zum vier­hun­dert­jäh­ri­gen Jubi­lä­um der Erschei­nun­gen, und Kar­di­nal Domi­nik Duka, der Dubia zu Amo­ris Lae­ti­tia unter­zeich­net hat­te, zu sei­nem Son­der­ge­sand­ten für die Fei­ern zum hun­dert­jäh­ri­gen Bestehen des Erz­bis­tums Dan­zig (Polen) am 14. Okto­ber 2025. Am 22. August emp­fing Leo XIV. Kar­di­nal Ray­mond Leo Bur­ke in Pri­vat­au­di­enz, den Fran­zis­kus als einen sei­ner schlimm­sten Geg­ner betrach­te­te. Bereits in einem Schrei­ben vom 17. Juni hat­te der Papst Bur­ke anläß­lich sei­nes Jubi­lä­ums für sei­nen „eif­ri­gen Dienst“ für den Apo­sto­li­schen Stuhl gedankt, „immer die Gebo­te des Evan­ge­li­ums nach dem Her­zen Chri­sti predigend“.

In einem Inter­view mit der Zei­tung La Stam­pa am 18. August erklär­te Kar­di­nal Burke: 

„Das Pon­ti­fi­kat von Leo XIV. zeich­net sich durch Chri­sto­zen­trik aus, er spricht immer über den Herrn und sei­ne Kir­che. Es ist wich­tig, daß die Kir­che nicht auf eine NGO redu­ziert wird. Leo nimmt sich Zeit, um die rich­ti­gen Per­so­nen für zen­tra­le Auf­ga­ben zu ernen­nen. Das Papst­amt ist unmög­lich ohne die rich­ti­gen Mit­ar­bei­ter. Schon die Wahl des Namens Leo, der an Leo den Gro­ßen und Leo XIII. erin­nert, zeigt sei­nen Wil­len, ein authen­ti­scher ‚Vater der Väter‘ zu sein – ein wah­rer Hir­te der uni­ver­sa­len Kir­che. Wir müs­sen für ihn beten und jeder in sei­ner Rol­le helfen.“

Es han­delt sich also um Hin­wei­se, nicht um Bewei­se für eine wirk­li­che Ver­än­de­rung. Gleich­zei­tig gibt es auch kei­ne Bewei­se für das Gegen­teil. Die kri­ti­schen Pro­gno­sen zum Pon­ti­fi­kat von Leo XIV. basie­ren auf die­sen fra­gi­len Hin­wei­sen. Das Feld bleibt offen, mit drän­gen­den Fra­gen, die über die Ernen­nun­gen hin­aus­ge­hen, wie die Syn­oda­li­tät und die Bezie­hun­gen des Vati­kans zu China.

Es ist ein­fach, dem Papst vor­zu­schrei­ben, was er tun soll­te, oder gar zu ver­lan­gen, daß er es schnell umsetzt, ohne an sei­ner Stel­le zu sein und die Ver­ant­wor­tung zu tra­gen. Aber wir müs­sen uns dar­an erin­nern, daß Papst Pius X. vier Jah­re war­te­te, bevor er den Moder­nis­mus ver­ur­teil­te, obwohl er mit einem ihm nahe­ste­hen­den Staats­se­kre­tär, Kar­di­nal Rafa­el Mer­ry del Val, zusam­men­ar­bei­te­te. Wel­ches anti-moder­ni­sti­sche Bera­ter­team könn­te heu­te Leo XIV. bei sei­nen Ent­schei­dun­gen unter­stüt­zen, der sicher­lich kein Pius X. ist, wie sei­ne kul­tu­rel­le Aus­bil­dung und pasto­ra­le Erfah­rung zeigen?

Unter den gro­ßen Päp­sten der letz­ten zwei Jahr­hun­der­te zäh­len wir auch Pius IX., der erst drei Jah­re nach sei­ner Wahl zum Anti­li­be­ra­len wur­de, nach einem har­ten Erwa­chen durch die revo­lu­tio­nä­re Ver­fol­gung und die Flucht aus Rom. Pius XII., ein mil­der und ver­hand­lungs­freund­li­cher Papst, wur­de vom Zwei­ten Welt­krieg über­wäl­tigt und muß­te eini­ge Jah­re war­ten, bevor er sei­ne gro­ßen Enzy­kli­ken Mysti­ci Cor­po­ris (1943), Media­tor Dei (1947), Huma­ni Gene­ris (1950) und Ad Coeli Regi­nam (1954) promulgierte.

Die Tugend der Klug­heit – sowohl natür­li­che als auch über­na­tür­li­che – kann län­ge­re Zeit­span­nen erfor­dern, um ein Vor­ha­ben zu ver­wirk­li­chen, und äuße­re Ereig­nis­se, wie die der­zeit dro­hen­den Krie­ge, kön­nen alles durch­ein­an­der­brin­gen. Unge­duld ist daher fehl am Platz; wir müs­sen wach­sam sein, alle Hoff­nung allein auf Gott set­zen und für den Papst sowie für die Kir­che in die­ser düste­ren Stun­de der Geschich­te beten.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.
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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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