
Der „verhinderte Stuhl“ von Benedikt XVI. – ein Narrativ ohne Beweise (Teil 1)
Von Roberto de Mattei*
Die Befürworter des sogenannten „verhinderten Stuhls“ von Benedikt XVI. stützen ihre These auf eine breit angelegte und artikulierte Erzählung, ohne ausreichende Beweise zu liefern, um diese zu rechtfertigen. Ihr Narrativ wurde bereits von Autoren verschiedener Richtungen widerlegt. Wir erinnern an die Studien von Frau Professor Geraldina Boni, Professor Manuel Ganarin und Don Samuele Pinna; an das Buch von Dr. Federico Michielan und Rechtsanwalt Francesco Patruno „Non era più lui“ („Es war nicht mehr er“, Fede & Cultura, Verona 2023); an die Artikel der Nuova Bussola Quotidiana von Dr. Luisella Scrosati; an die Videos von Don Tullio Rotondo und Don Daniele Di Sorco. Unser Beitrag, der zu den vorhergehenden hinzukommt, stützt sich hauptsächlich auf die Analyse der wichtigsten Referenztexte der Theorie des „verhinderten Stuhls“: die Bücher „Codice Ratzinger“ („Code Ratzinger“, Byoblu, Mailand 2022) von Andrea Cionci; „Habemus antipapam?“ (Edizioni del Faro, Trient 2023) von Pater Fernando Maria Cornet und die Predigt vom 13. Oktober 2024 „Non consegnerò il Leone“ („Ich werde den Löwen nicht übergeben“, von Pater Giorgio Maria Faré. Wir zitieren diese Werke fortan mit dem Namen des Autors.
Eine grundlegende Prämisse: Der Papst ist der oberste Gesetzgeber der Kirche
Eine theologische Prämisse ist notwendig. Das Erste Vatikanische Konzil definierte in seiner Konstitution Pastor aeternus vom 18. Juli 1870 als Dogma des katholischen Glaubens (unabhängig vom Unfehlbarkeitsdogma) den Primat des Petrus, d. h. den obersten Jurisdiktionsprimat des Papstes über die Kirche (Denz‑H, Nr. 3053–3064). In Übereinstimmung mit diesem Dogma definieren die Canones 331 und 333 des Codex des kanonischen Rechts die Autorität des Papstes als höchste, umfassende, universale, ordentliche, unmittelbare und freie Leitungsgewalt. Die plenitudo potestatis legislativae des Papstes, so erklären die Kanonisten, erstreckt sich auf alle Handlungen, die vom Apostolischen Stuhl ausgehen. Abgesehen von den Normen des natürlichen und positiven göttlichen Rechts, von denen der Papst, wie jeder Mensch, nicht abweichen kann, kennt die päpstliche Gesetzgebungsgewalt keine personellen, räumlichen oder sachlichen Grenzen. Der Papst kann geltende Gesetze und andere Bestimmungen abändern oder aufheben, auch wenn sie von seinen Vorgängern oder von Konzilien und a fortiori von seinen Untergebenen erlassen wurden. „Der Papst“, so Professor Joël-Benoît d’Onorio, „ist die souveräne Rechtsinstanz der gesamten Kirche und bleibt kraft seines Primats der universalen Regierung ihr oberster Gesetzgeber. Es ist ein Glaubensdogma und eine juristische Realität“ („Le Pape et le gouvernement de l’Eglise“, „Der Papst und die Leitung der Kirche“, Fleurus-Tardy, Paris 1992, S. 100).
Das bedeutet, daß der Papst dem kanonischen Recht übergeordnet ist, wenn auch in bezug auf das göttliche und natürliche Recht, das die Grenze seiner Macht darstellt. Das kanonische Recht umfaßt nämlich Quellen des menschlichen Rechts, d. h. die von den gesetzgebenden Organen der Kirche im Laufe der Jahrhunderte erlassenen Vorschriften, und Quellen des göttlichen Rechts, die Heilige Schrift und die Tradition. Der Papst kann von den kirchlichen Gesetzen abweichen und sie ändern, nicht aber das natürliche und göttliche Recht (Vincenzo Del Giudice: „Nozioni di diritto canonico“, „Grundbegriffe des kanonischen Rechts“, Giuffré, Mailand 1970, S. 33–61).
Die Fülle der jurisdiktionellen, legislativen und exekutiven Macht des Papstes ist ein unfehlbares Dogma der Kirche, aber die Unfehlbarkeit erstreckt sich nicht auf seine Regierungshandlungen. Der Papst ist unfehlbar, wenn er Glaubens- und Moraldogmen festlegt, aber wenn er regiert, können seine gesetzgeberischen und disziplinarischen Handlungen auch unzureichend, unangemessen oder fehlerhaft sein.
Die Verfechter des „verhinderten Stuhles“ zeigen oft, daß sie diese grundlegenden Wahrheiten ignorieren oder verwechseln, wie aus ihren „Thesen“ hervorgeht, die wir versuchen werden in geordneter Weise darzulegen und ihnen unsere Antwort folgen zu lassen.
War die Declaratio vom 11. Februar 2013 ein echter Verzicht?
THESE: Nach Ansicht der Verfechter des „verhinderten Stuhls“ ist die Verzichtserklärung Benedikts XVI. vom 11. Februar 2013 „nicht existent“ und hat keinen rechtlichen Wert, denn sowohl der Titel, den Benedikt XVI. dem Dokument gegeben hat, als auch eine Analyse des Textes zeigen, daß es sich nur um einen „deklaratorischen Akt seiner Entscheidung zum Verzicht, aber nicht um einen Akt des tatsächlichen Verzichts“ handelt (Cornet, S. 55). Die Formel „Ich erkläre, zu verzichten“ ist nicht dasselbe wie „Ich verzichte“ (Faré, S. 5).
ANTWORT: Die sprachliche Spitzfindigkeit, die nicht nur der Lehre, sondern auch dem gesunden Menschenverstand widerspricht, will das Handeln des Papstes in juristische Regeln einzuschließen, auf die der Papst aber nicht angewiesen ist, auch weil sie nicht im Kirchenrecht geregelt sind. Anders als bei der Wahl, für die es die kanonische Formel „Accepto“ („Ich nehme an“) gibt, gibt es keine Norm, die den Verzicht auf das Papsttum regelt. Der Papst als oberster Gesetzgeber der Kirche kann sich also so ausdrücken, wie er es für richtig hält, solange sein Verzichtswille offenkundig ist. Die Ungültigkeitsthese, so stellen die Kanonisten Geraldina Boni und Manuel Gagarin fest, „beansprucht einerseits, eine Beschränkung der primatialen Macht einzuführen, und steht damit im Widerspruch zum positiven göttlichen Recht; kommt aber anderseits keineswegs so weit, zu beweisen, daß dem Verzicht der ‚Wille abzudanken‘ fehlt“. Der Verzicht von Benedikt XVI. am 11. Februar war für alle Kardinäle offensichtlich und wurde durch den Vollzug des Aktes am 28. Februar 2013 bestätigt. Was es nicht gibt, ist nicht der Verzicht, sondern der Beweis seiner Nichtexistenz.
Macht das Intervall zwischen der Verzichtserklärung und ihrem Inkrafttreten sie ungültig?
These: Zwischen der Erklärung Benedikts XVI. vom 11. Februar und dem Inkrafttreten des Verzichts am 28. Februar gab es ein Intervall. Für die Befürworter des „verhinderten Stuhles“ ist „ein aufgeschobener Verzicht kein Verzichtsakt und kann auch nicht als solcher betrachtet werden, sondern nur die Ankündigung eines Verzichts“ (Cornet, S. 95); „die Apposition einer Frist macht den Verzichtsakt nicht nur null und nichtig, sondern sogar inexistent, ein solcher Akt hat keine Wirkung“ (Faré, S. 5).
ANTWORT: Unabhängig von den Gründen, aus denen Benedikt XVI. eine Frist zwischen dem Tag der Ankündigung und dem Tag der tatsächlichen Beendigung seines Amtes setzen wollte, hat der Papst die Möglichkeit, über die Modalitäten des Verzichts auf das Pontifikat zu entscheiden, zumal, wie bereits gesagt, das Kirchenrecht keine besonderen Modalitäten für den Verzicht vorschreibt. Außerdem stimmt es nicht, daß „das Inkrafttreten der Entscheidung aufgeschoben wurde“ (Cionci, S. 42). Aufgeschoben wurde nicht die Entscheidung auf sein Amt zu verzichten, die am 11. Februar 2013 öffentlich erklärt wurde, sondern das Inkrafttreten, das keiner weiteren Ratifizierung bedurfte. Der Beweis für die These wurde nicht erbracht.
Sind munus und ministerium zwei verschiedene Begriffe?
THESE: In der Declaratio vom 11. Februar verzichtet Benedikt XVI. nicht auf das munus des Papsttums, wie es der Canon 332 § 2 des Codex des kanonischen Rechts verlangt, sondern auf das ministerium, das sich nur auf die praktische Ausübung seines Amtes bezieht. „Wenn der Papst nicht mehr Papst sein will, muß er auf das Munus petrinum verzichten, sonst ist der Verzicht (auf das Papsttum) null und nichtig“ (Cornet, S. 49). Und da Benedikt seine Absicht erklärt hat, auf das ministerium und nicht auf das munus zu verzichten, hat er aufgehört, „die Rolle des Papstes auszuüben, ist aber Papst geblieben“ (Faré, S. 7).
ANTWORT: Wieder einmal spielt man auf den sprachlichen Aspekt an und ignoriert das Kirchenrecht. Wie ein bedeutender Kanonist, Professor Juan Ignacio Arrieta, geschrieben hat, ist die Verwendung der Begriffe „munus“, „ministerium“ und „officium“ sowohl in der Lehre als auch in den offiziellen Texten der Kirche „schwankend“, da sie nicht eindeutig sind („Funzione pubblica e ufficio ecclesiastico“, „Öffentliche Funktion und kirchliches Amt“, in „Ius ecclesiae“, 1/1995, S. 92).
Wenn die Verwendung des Wortes „ministerium“ anstelle des Wortes „munus“ die Nichtigkeit des Verzichts zur Folge hätte, wäre auch die Papstwahl von Joseph Ratzinger nichtig, da der neugewählte Benedikt XVI. in seiner ersten Rede am 20. April 2005 fünfmal den Begriff „ministerium“ und nicht „munus“ verwendete, um den ihm anvertrauten „Dienst an der Gesamtkirche“ zu bezeichnen.
Wie Don Daniele Di Sorco uns daran erinnert, Ubi lex non distinguit, nec nos distinguere debemus. Wenn das Gesetz nicht unterscheidet, können wir das auch nicht. Wir können nicht einfach eine begriffliche Unterscheidung einführen (in unserem Fall die zwischen munus und ministerium), die es im Kirchenrecht nicht gibt. Und damit ist auch in diesem Fall kein Beweis gegeben.
Ist die Motivation für den Verzicht akzeptabel?
THESE: Die von Benedikt XVI. angeführte Begründung für den Verzicht, nämlich das Nachlassen der „Kraft des Leibes und der Seele“ aufgrund des fortgeschrittenen Alters, steht in keinem Verhältnis zur Schwere des Verzichtes. „Diese Rechtfertigung ist nicht akzeptabel“ (Faré, S. 8).
ANTWORT: Das Vorhandensein eines Mißverhältnisses zwischen der Geste und ihrer Motivation ist unbestritten, aber es ist nicht klar, warum man aus diesem Mißverhältnis die Ungültigkeit des Aktes ableiten sollte, indem man auf obskure Hintergründigkeiten zurückgreift, und stattdessen die Möglichkeit einer moralischen Verantwortung von Benedikt XVI. ausschließt. Wie Kardinal Walter Brandmüller andeutet, bedeutet die Tatsache, daß der Verzicht des Papstes möglich ist, „nicht, daß er auch moralisch erlaubt ist. Für die Rechtmäßigkeit brauchen wir hingegen objektive, institutionelle Gründe, die sich am bonum commune Ecclesiae orientieren, nicht persönliche Gründe“ (Renuntiatio Papae. Einige historisch-kanonische Überlegungen, Archivio Giuridico, 3–4 (2016), S. 655–674). Die Tatsache, daß diese Gründe fehlen, wirft Fragen über das Verhalten von Benedikt XVI. auf, beweist aber keineswegs die Nichtexistenz des Verzichts.
War der Verzicht Benedikts XVI. frei?
THESE: Benedikt XVI. wurde aufgrund des „Drucks der globalistischen Mächte“ (Faré, S. 14) zum Verzicht gezwungen oder veranlaßt, und dies hat seinen Verzicht ungültig gemacht. Außerdem hatte er „Kenntnis von Informationen gehabt, die ihm die Gewißheit gaben, daß die Wahl seines Nachfolgers auf jeden Fall nichtig sein würde, weil sie gegen die Normen von Universi Dominici Gregis verstößt“ (Faré, S. 15).
ANTWORT: Der Codex des kanonischen Rechts regelt den Verzicht des Papstes in can. 332 § 2 mit den Worten: „Papa liberum habet, renuntiare officio suo. Renuntiatio tamen debet esse libera et voluntaria, neque coacta, et declaratio renuntiationis clare exprimenda est“, „Der Papst kann jederzeit frei von seinem Amt zurücktreten. Der Rücktritt muß jedoch frei und ohne jeden Zwang erklärt werden und die Erklärung des Rücktritts muß klar sein“. Der Rücktritt Benedikts XVI. wurde am 28. Februar 2013 aus freien Stücken und rituell bekundet, als er erklärte: „Ich bin nicht mehr Papst der katholischen Kirche“. Wenn Benedikt XVI. unter Druck gestanden hätte, hätte er dies sagen müssen, stattdessen hat er immer bekräftigt, daß seine Entscheidung frei und in vollem Wissen getroffen wurde. Selbst in seinen „Letzten Gesprächen“ mit Peter Seewald (Drömer, 2016) bekräftigte er, daß seine Entscheidung völlig frei und ohne jeden Zwang getroffen wurde.
Die Konstitution Universi Dominici Gregis von Johannes Paul II. vom 22. Februar 1996 verbietet unter Androhung der Exkommunikation latae sententiae „jede Form von Pakten, Absprachen, Versprechungen oder anderen Verpflichtungen jeglicher Art“, die die Wahlmänner unter den Kardinälen zwingen könnten, „ihre Stimme einem oder mehreren zu geben oder zu verweigern“, und stellt fest, daß „eine solche Verpflichtung null und nichtig ist und dass niemand verpflichtet ist, sie einzuhalten“, betrachtet aber die Wahl, die auf diese Manöver folgen würde, nicht als ungültig.
Ist die Declaratio eine Ankündigung eines verhinderten Stuhls?
THESE: Die Declaratio von Benedikt XVI. ist eine „Ankündigung des Selbstexils in sede impedita“ (Cionci, S. 56), was durch die Verwendung des Titels „emeritierter Papst“ und anderer päpstlicher Symbole, wie der weißen Soutane, des apostolischen Segens und des beibehaltenen päpstlichen Wappens, deutlich wird. „Benedikt XVI. wird in die Geschichte eingehen als der emeritierte Papst, der verdienstvolle, der aufopferungsvolle Held, der einen eschatologischen Krieg gewonnen hat“ (Cionci, S. 175).
ANTWORT: Der verhinderte Stuhl liegt nach Canon 412 vor, wenn „der Diözesanbischof in einer solchen Weise an der Ausübung seines Amtes gehindert ist, daß er wegen Gefängnis, Gefangenschaft, Verbannung oder körperlicher oder geistiger Unfähigkeit weder das Bistum besuchen noch auch mit den Gläubigen in irgendeiner Weise, selbst nicht schriftlich, in Kontakt treten kann“. Der Canon spricht also von einer „völligen“ Verhinderung, wobei er die Fälle genau benennt und präzisiert, daß die Unfähigkeit zur Kommunikation nach außen, auch durch Briefe, gegeben sein muß. Dies war bei Benedikt XVI. sicherlich nicht der Fall, der stets die volle Freiheit seiner Handlungen bekräftigt hat. Die mißbräuchliche Verwendung des Titels „emeritierter Papst“ und anderer päpstlicher Symbole stellt sicherlich ein Problem dar und kann stigmatisiert werden, aber sie ist nicht die Lösung des Problems. Die Beweise sind auch in diesem Fall nicht vorhanden.
Verwendet Benedikt XVI. eine verschlüsselte Sprache?
THESE: „Um zu kommunizieren, durch Überwindung der Formen der Zensur, die durch den Status des verhinderten Stuhls auferlegt werden“, verwendete Benedikt XVI. eine „verschlüsselte Sprache“, „eine logische Methode, die sich opportuner und präziser Kunstgriffe bedient: 1. absichtliche und/oder offensichtliche Irrtümer; 2. spekulative Zweideutigkeiten (Amphibologien); 3. oberflächliche Ungereimtheiten und anfängliche Mißverständnisse“ (Cionci, S. 89). „Er will nur von denen verstanden werden, die ‚Augen zum Sehen‘ haben, sonst würde er seine Schriften nicht mit solchen Einschüben überhäufen“ (Cionci, S. 87).
ANTWORT: Das Vorhandensein von Irrtümern, Mehrdeutigkeiten oder Ungereimtheiten in den Worten Benedikts XVI. bedeutet nicht, daß sie eine andere Wahrheit vermitteln wollen als die, die der Sinn des Satzes ausdrückt, sondern zeigt nur, daß Joseph Ratzinger in der Leitung der Kirche nicht unfehlbar war, wie kein Papst, und sich auch manchmal ungenau, mehrdeutig oder begrifflich verworren ausgedrückt hat.
Der Diskurs ist ein Zirkelschluß. Man möchte, daß die Erklärung des Problems in dem Problem enthalten ist, das erklärt werden soll. Ist es Benedikt XVI., der die Vatikanisten „verhöhnt“ (Cionci, S. 149–153) oder ist es Andrea Cionci, der uns verhöhnt?
Hat Benedikt XVI. sein Denken kaschiert?
THESE: Benedikt XVI. hat sein Denken verheimlicht, indem er „jene Technik anwandte, die in den Morallehrbüchern ‚breiter mentaler Vorbehalt‘ genannt wird, d. h. das Weglassen von Details und die Verwendung von Ausdrücken, die von denen, die sie aussprechen und hören, unterschiedlich interpretiert werden können“ (Faré, S. 16).
ANTWORT: Dieser Entwurf für „Eingeweihte“ wird durch alle öffentlichen Äußerungen von Benedikt XVI. widerlegt. Und, wie Pater Samuele Pinna bemerkt, „hätte Papst Benedikt in seinem Mandat als Oberhirte versagt, wenn er wirklich einen solchen anti-evangelischen Plan gehabt hätte, mit der Konsequenz, daß er die gnostische Häresie in der Kirche einführt“ („La rinuncia di Benedetto XVI“, „Der Rücktritt von Benedikt XVI.“, Alpha Omega, 25/2022, S. 401). Diesen Plan Benedikt XVI. zuzuschreiben würde auch eine ernsthafte Anklage gegen ihn darstellen, denn es würde auf einen Mangel an übernatürlichem Geist hinweisen, der durch eine gute Dosis machiavellistischer Gerissenheit ersetzt wurde, die in der Lage ist, die Kirche zu schädigen und die Gläubigen zu verwirren (Patruno: Non era più lui, S. 184f).
Papa dubius papa nullus?
THESE: „Papa dubius, papa nullus.“
ANTWORT: Der Zweifel an der Legitimität des Papstes muß von den Kardinälen unmittelbar nach der Wahl geäußert werden und „positiv und unlösbar“ sein (vgl. F. M. Cappello: Summa Iuris canonici, Bd. I, Gregoriana, Rom 1961, S. 297), wie es zu Beginn des Abendländischen Schismas der Fall war, bei dem im übrigen der Papst, der 1378 von einer großen Gruppe von Kardinälen angefochten wurde (Urban VI.), der wahre Papst war. Dieser Fall trifft also sicherlich nicht zu.
Vielmehr besagt der kanonische Grundsatz, daß die Autorität im „Zweifel in der Sache“ gültig bleibt: „Bei einem tatsächlich vorliegenden oder rechtlich anzunehmenden allgemeinen Irrtum und ebenfalls bei einem positiven und begründeten Rechts- oder Tatsachenzweifel ersetzt die Kirche für den äußeren wie für den inneren Bereich fehlende ausführende Leitungsgewalt“ (Canon 144, §1).
In unsicheren Situationen lautet das Kriterium, das die Anwendung des Rechts leitet, favor iuris, um die Sicherheit und Stabilität der Rechtsbeziehungen zu wahren. So muß „im Zweifelsfall die Ehe als gültig angesehen werden, bis das Gegenteil bewiesen ist“ (Canon 1060, bekräftigt durch Canon 1150: „Im Zweifelsfall erfreut sich das Glaubensprivileg der Rechtsgunst“).
Jeder Zweifel oder jede Ungewißheit über die Gültigkeit der Papstwahl wird durch die friedliche Akzeptanz der Weltkirche ausgeräumt. Wie Kardinal Journet im Gefolge der gesamten theologischen Tradition erklärt, „ist die friedliche Annahme der Weltkirche, die sich gegenwärtig mit dem Gewählten wie mit dem Oberhaupt, dem sie sich unterwirft, vereint, ein Akt, in dem die Kirche ihr Schicksal festlegt. Sie ist daher an sich ein unfehlbarer Akt und als solcher unmittelbar erkennbar“ (L’Eglise du Verbe Incarné, Hrsg. Saint Augustin, Saint Just-la-Pendue 1998, Bd. I, S. 976).
Das war auch bei der Wahl von Papst Franziskus der Fall. Kein einziger der am Konklave teilnehmenden Kardinäle hat die Gültigkeit der Wahl in Frage gestellt.
Sind die Irrlehren von Franziskus der „Lackmustest“ für seine Illegitimität?
THESE: Der „Lackmustest“ für die Usurpation des Papstthrons sind die „von Bergoglio verkündeten Ketzereien“. In der Tat „könnte ein kanonisch gewählter Papst kein hartnäckiger Häretiker sein, da das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit unterminiert würde“ (Faré, S. 9).
ANTWORT: Die Existenz von Häresien, die Papst Franziskus hartnäckig verkündet hat, wird behauptet, aber nicht mit angemessenen theologischen und kanonischen Begriffen bewiesen. Der „Lackmustest“ für die rechtmäßige Wahl von Papst Franziskus ist vielmehr die allgemeine Annahme seiner Wahl durch die Kardinäle und Bischöfe. Die möglichen Irrlehren von Franziskus, die von Kardinälen nachgewiesen und erklärt wurden, könnten vielleicht den Verlust des Pontifikats zur Folge haben, aber sicher nicht rückwirkend die Ungültigkeit seiner Wahl beweisen. Außerdem stellen diese möglichen Irrlehren das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit nicht in Frage, da keine von ihnen ex cathedra verkündet wurde.
Wer ist der Nachfolger von Benedikt XVI.
THESE: Da Franziskus nicht der legitime Nachfolger von Benedikt XVI. ist, befindet sich die katholische Kirche seit dem Todestag von Benedikt XVI. am 31. Dezember 2022 nicht mehr in „sede impedita“, sondern in „sede vacante“, „in der Erwartung, daß ‚diejenigen, die dafür zuständig sind‘, einen legitimen Nachfolger des Apostels Petrus an die Spitze des mystischen Leibes Christi auf Erden wählen“ (Cornet, S. 118).
ANTWORT: Die Widerlegung der These kommt von den Verfechtern selbst, die behaupten, der verhinderte Stuhl wäre in einen unbesetzten Stuhl übergegangen, die sich wiederum über die kanonische oder außerkanonische Lösung der Magna quaestio uneins sind, die sie sich ausdenken. Die „kanonische“ Lösung der Frage, die durch Petitionen und Appelle an die kirchliche Autorität erfolgen sollte, widerspricht ihren Prämissen. Wenn die Kirche in der Tat „heute von einem Gegenpapst und Hierarchien besetzt ist, die größtenteils nicht mehr katholisch sind“ (Cionci, S. 25) und wenn „alle Handlungen Bergoglios seit seiner Wahl null und nichtig sind“ und insbesondere „die Einsetzung der Kardinäle nicht gültig ist“ (Faré, S. 13 ), ist es unlogisch, an Kardinäle wie Victor Manuel Fernández zu appellieren, der von Papst Franziskus in den Purpur erhoben und von ihm zum Präfekten des Dikasteriums für die Glaubenslehre ernannt wurde, ebenso wie es unlogisch ist, sich auf ein bevorstehendes Konklave zu verlassen, in dem die Möglichkeit, „gültige“, also von Benedikt XVI. kreierte Kardinäle zu finden, abnimmt und keiner von ihnen die Wahl von Franziskus in Frage gestellt hat.
Die außerkanonische Lösung, die über Formen der prophetischen Einsetzung von oben oder der Wahl des Papstes von unten durch die Gemeinschaft der Gläubigen verläuft, wie sie zum Beispiel von Dr. Alessandro Minutella und Prof. Luca Brunoni dargelegt wurde, kündigt stattdessen eine neue „Kirche des Geistes“ an, ähnlich wie die täuferischen und kongregationalistischen Gemeinschaften, die im 16. Jahrhundert „links von Luther“ entstanden sind. Wir befinden uns hier aber außerhalb der katholischen Kirche.
Im einen wie im anderen Fall ist der Weg eine Sackgasse, aus der es keinen Ausweg gibt, denn der Ausgangspunkt ist eine falsche theologische und juristische Auffassung vom Primat des Papstes, verbunden mit einer phantasievollen Darstellung dessen, was am 11. Februar 2013 geschehen sei.
Befreien wir also unseren Geist von diesem Narrativ und erneuern wir unsere Liebe zum Papsttum mit aufrichtigem Herzen, indem wir uns Wort für Wort die Konstitution Pastor aeternus des Ersten Vatikanischen Konzils zu eigen machen, in der wir die Antwort auf alle ekklesiologischen Probleme der heutigen Zeit finden werden.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
Bücher von Prof. Roberto de Mattei in deutscher Übersetzung und die Bücher von Martin Mosebach können Sie bei unserer Partnerbuchhandlung beziehen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana