Der „verhinderte Stuhl“ von Benedikt XVI. – ein Narrativ ohne Beweise (Teil 1)

Eine "fiktive Verschwörung" und die Exkommunikation mehrerer Priester


Benedikt XVI. mit Papst Franziskus im Jahr 2015
Benedikt XVI. mit Papst Franziskus im Jahr 2015

Von Rober­to de Mattei*

In den zwei Jahr­tau­sen­den ihrer Geschich­te hat die katho­li­sche Kir­che Momen­te gro­ßer Schwie­rig­kei­ten erlebt, die sie dank der Hil­fe des Hei­li­gen Gei­stes, der ihre Unver­sehr­heit bis zum Ende der Zeit gewähr­lei­stet, stets über­wun­den hat. Nach den Ver­fol­gun­gen der ersten Jahr­hun­der­te waren die bei­den schwer­sten Umwäl­zun­gen wahr­schein­lich die aria­ni­sche Kri­se des 4. Jahr­hun­derts und das abend­län­di­sche Schis­ma des 14./15. Jahr­hun­derts. Erste­re Kri­se war eine lehr­mä­ßi­ge Kri­se auf­grund der tri­ni­ta­ri­schen Irr­leh­re, die sich bis in die ober­sten Rän­ge der Kir­che aus­ge­brei­tet hat­te; die zwei­te Kri­se war eine recht­lich-kano­ni­sche Kri­se auf­grund der Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen Päp­sten und Gegen­päp­sten, die etwa vier­zig Jah­re andauerte.

Heu­te befin­det sich die Kir­che in einer neu­en Kri­se, in der die lehr­mä­ßi­ge und die kano­ni­sche Kri­se zusam­men auf­zu­tre­ten dro­hen und eine noch nie dage­we­se­ne Situa­ti­on der Ver­wir­rung schaffen.

Die Lehr­fra­ge ergibt sich aus zahl­rei­chen Gesten und Doku­men­ten von Papst Fran­zis­kus, bei denen es sich um ein Ent­fer­nen von der tra­di­tio­nel­len Leh­re der Kir­che zu han­deln scheint. Man­che zie­hen dar­aus die Kon­se­quenz, daß Papst Fran­zis­kus ein Häre­ti­ker ist und als sol­cher aus dem Papst­amt ent­fernt wer­den sollte.

Das kano­ni­sche Pro­blem hin­ge­gen ergibt sich aus dem Ver­zicht von Papst Bene­dikt XVI. auf das Papst­amt, der auf­grund bestimm­ter Anoma­lien dazu geführt hat, daß eini­ge die­sen Ver­zicht für ungül­tig und folg­lich die Wahl von Papst Fran­zis­kus für unrecht­mä­ßig halten.

Es han­delt sich um zwei ver­schie­de­ne Fra­gen, und wir wer­den uns im Moment auf die Fra­ge des „ver­hin­der­ten Stuhls“ beschrän­ken, die von jenen vor­ge­bracht wird, die die Ille­gi­ti­mi­tät von Papst Fran­zis­kus mit der kano­ni­schen Ebe­ne begrün­den wollen.

Wir haben mehr­mals ver­sucht, Ele­men­te der Ver­nunft und des Glau­bens anzu­bie­ten, die den ver­wirr­ten Leser in die­sem Punkt lei­ten könn­ten. Am 12. Febru­ar 2013, nach der Ankün­di­gung des Rück­tritts von Papst Bene­dikt, haben wir geschrie­ben, daß es kei­nen Zwei­fel am Recht eines Pap­stes gebe, auf das Papst­tum zu ver­zich­ten, aber die Abdan­kung von Bene­dikt XVI. auf histo­ri­scher Ebe­ne als eine Geste erschei­ne, die mit der Tra­di­ti­on und der Pra­xis der Kir­che nicht über­ein­stim­me, da es kei­nen berech­tig­ten Grund gebe.

Schwer­wie­gen­der war jedoch die Tat­sa­che, daß Joseph Ratz­in­ger bei sei­nem Rück­tritt beschlos­sen hat­te, den Namen Bene­dikt XVI., den Titel eines „eme­ri­tier­ten Pap­stes“ und das wei­ße päpst­li­che Gewand zu behal­ten. Als wir das Foto der bei­den Päp­ste beim gemein­sa­men Gebet in Castel­gan­dol­fo kom­men­tier­ten, kri­ti­sier­ten wir daher die Ver­wir­rung, die durch die­se bei­spiel­lo­se päpst­li­che „Diar­chie“ ent­stand, ohne jedoch die petri­ni­sche Legi­ti­mi­tät von Papst Fran­zis­kus in Fra­ge zu stellen.

Aus­ge­hend von die­ser anor­ma­len Situa­ti­on begann, nach­dem Anto­nio Soc­ci den Fall zum ersten Mal ange­spro­chen hat­te, die The­se einer Unter­schei­dung zwi­schen dem juri­sti­schen Papst­tum von Fran­zis­kus und dem geist­li­chen von Bene­dikt zu kur­sie­ren. Dazu schrie­ben wir am 15. Sep­tem­ber 2014 im Blog von San­dro Magister:

„Ein geist­li­ches Papst­tum, das sich vom juri­sti­schen Papst­tum unter­schei­det, gibt es nur in der Vor­stel­lung eini­ger Theo­lo­gen. Wenn der Papst per defi­ni­tio­nem der­je­ni­ge ist, der die Kir­che regiert, dann ver­zich­tet er durch den Ver­zicht auf die Regie­rung auf das Papst­tum. Das Papst­tum ist kein geist­li­cher oder sakra­men­ta­ler Zustand, son­dern ein ‚Amt‘, d. h. eine Insti­tu­ti­on. Die Tra­di­ti­on und die Pra­xis der Kir­che bekräf­ti­gen ein­deu­tig, daß einer und nur einer der Papst ist und daß sei­ne Macht untrenn­bar mit sei­ner Ein­heit ver­bun­den ist (…). Bene­dikt XVI. hat nicht auf einen Teil des Papst­tums ver­zich­tet, son­dern auf das gan­ze Papst­tum, und Fran­zis­kus ist nicht Teil­zeit­papst, son­dern ganz Papst.“

Seit­dem sind zehn Jah­re ver­gan­gen und wir haben die­sem The­ma wei­te­re Arti­kel gewid­met, aber unse­re Posi­ti­on hat sich nicht geän­dert. Neu ist, daß in Ita­li­en inner­halb eines Jah­res vier Prie­ster, Don Ramon Gui­det­ti, Pfar­rer in der Nähe von Livor­no, Don Fer­nan­do Maria Cor­net, Pfar­rer in Sas­sa­ri, der Kar­me­li­ten­pa­ter Gior­gio Maria Farè und der Prie­ster Nata­le San­to­no­ci­to aus der Diö­ze­se Pal­e­stri­na, öffent­lich die kano­ni­sche Ille­gi­ti­mi­tät des Pon­ti­fi­kats von Papst Fran­zis­kus ver­tre­ten haben. Don Gui­det­ti und Don Cor­net wur­den exkom­mu­ni­ziert und in den Lai­en­stand ver­setzt. Pater Faré wur­de exkom­mu­ni­ziert und aus dem Kar­me­li­ten­or­den aus­ge­schlos­sen, hat aber Beru­fung dage­gen ein­ge­legt, Don San­to­no­ci­to dro­hen ähn­li­che Maß­nah­men durch das Dik­aste­ri­um für die Glau­bens­leh­re. Sie schlie­ßen sich damit einem ande­ren exkom­mu­ni­zier­ten und lai­sier­ten Prie­ster, Ales­san­dro Minu­tel­la, an, der sei­ne Anhän­ger, dar­un­ter eini­ge Prie­ster, in der Bewe­gung Soda­li­ti­um Maria­num sam­melt. Sie alle ver­kün­den ihre Wahr­heit in den sozia­len Medi­en und stüt­zen sich bei ihren Argu­men­ten auf den Jour­na­li­sten Andrea Cionci, den Erfin­der der The­se vom „ver­hin­der­ten Stuhl“.

Um ihre Posi­ti­on zusam­men­zu­fas­sen, sei hier das Video von Don San­to­no­ci­to vom 8. Dezem­ber 2024 mit dem Titel: „Ich muß euch die Wahr­heit sagen: Berg­o­glio ist nicht der Papst“ genannt.

Die zwölf­mi­nü­ti­ge Rede ist emble­ma­tisch, und es lohnt sich, ihren Faden zu ver­fol­gen, indem man den Pas­sa­gen folgt, die ich wört­lich tran­skri­bie­re. „Der soge­nann­te Fran­zis­kus“, so Don San­to­no­ci­to, „ist nicht Papst. Er ist es nie gewe­sen“, denn Papst Bene­dikt hat am 11. Febru­ar 2013 eine Erklä­rung abge­ge­ben, in der er auf die prak­ti­sche Aus­übung sei­ner Voll­mach­ten, aber nicht auf das Papst­tum ver­zich­te­te. Wenn dies nicht klar aus der Decla­ra­tio von Bene­dikt XVI. her­vor­geht, dann des­halb, weil sie „im Staats­se­kre­ta­ri­at mani­pu­liert wur­de“. Die­se Fäl­schung ermög­lich­te es, die Erklä­rung als Abdan­kung aus­zu­ge­ben, „wäh­rend es sich in Wirk­lich­keit um die Ankün­di­gung des ver­hin­der­ten Stuhls han­del­te, die Papst Bene­dikt durch den geschick­ten Gebrauch der latei­ni­schen Spra­che und des Kir­chen­rechts raf­fi­niert ver­faßt hat­te“. Außer­dem „könn­te Papst Bene­dikt Opfer eines Anschlags mit Schlaf­ta­blet­ten oder ande­ren Dro­gen gewor­den sein“, sodaß er, als er von sei­nen Fein­den in die Enge getrie­ben wur­de, „das per­fek­te Mit­tel gegen die Usur­pa­ti­on anwand­te“, die von lan­ger Hand vor­be­rei­tet wor­den war und im Leben Jesu sei­ne vol­le theo­lo­gi­sche Ent­spre­chung fin­det. „Ein miß­bräuch­li­ches Kon­kla­ve hat den Papst zum ‚Gefan­ge­nen, Ein­ge­sperr­ten, Ver­bann­ten‘ gemacht“ und ihn gezwun­gen, auf sein Amt als Bischof von Rom zu ver­zich­ten: das heißt, im Sin­ne eines „ver­hin­der­ten Stuhls“. Die Wahl von Jor­ge Maria Berg­o­glio ist ungül­tig, und all die lehr­mä­ßi­gen Irr­tü­mer, die er ver­tre­ten hat, „sind nur die offen­sicht­li­che Bestä­ti­gung dafür, daß er nicht Papst ist“.

Bene­dikt XVI. hat sei­ner­seits „neun Jah­re lang ver­sucht, uns die kano­ni­sche Situa­ti­on des ver­hin­der­ten Stuhls begreif­lich zu machen“, „mit vie­len Gesten, Wor­ten und sogar bered­tem Schwei­gen“, wobei er ein von der Moral vor­ge­se­he­nes System benutz­te: „die gro­ße gei­sti­ge Ein­schrän­kung“, „eine sub­ti­le Art, die Wahr­heit nur denen zu sagen, die Ohren haben, um zu hören“. Zum Bei­spiel „erteil­te er wei­ter­hin sei­nen apo­sto­li­schen Segen“ und „trug wei­ter­hin das wei­ße Gewand und behielt sei­nen Papst­na­men und sein päpst­li­ches Wap­pen sowie ande­re Vor­rech­te, die mit sei­ner Wür­de als Pon­ti­fex ver­bun­den sind“.

Don San­to­no­ci­to fügt hin­zu, daß „der ver­hin­der­te Stuhl von Bene­dikt XVI. eine im Vati­kan mehr als bekann­te Tat­sa­che ist, aber nur weni­ge Prie­ster den Mut haben, die­se Wahr­heit in die Welt hin­aus­zu­ru­fen“, nicht zuletzt wegen der Stra­fen, die dies nach sich zie­hen würde.

„Die Tat­sa­che, daß Bischof Berg­o­glio alle Prie­ster bru­tal bestraft, die es wagen, Zwei­fel zu äußern, anstatt sei­ne eige­ne Legi­ti­mi­tät klar und offi­zi­ell zu recht­fer­ti­gen, ist der offen­sicht­lich­ste Beweis dafür, daß er nicht der wah­re Papst ist.“

Das Video schließt mit der Auf­for­de­rung, nicht in Ein­heit mit Fran­zis­kus an der Mes­se teil­zu­neh­men und sich dafür ein­zu­set­zen, daß die ech­ten Papst­wäh­ler unter den Kar­di­nä­len vom April 2013 den Nach­fol­ger von Bene­dikt XVI. wäh­len kön­nen. Es wür­de genü­gen, wenn ein ein­zi­ger ungül­ti­ger Kar­di­nal am Kon­kla­ve teil­nimmt, um es ungül­tig zu machen.

Die Behaup­tun­gen von Don San­to­no­ci­to bedürf­ten einer Fül­le von Bewei­sen, um ihnen eine Rele­vanz zuzu­er­ken­nen, aber in dem Video wird alles erzählt, aber nichts bewie­sen. Die­je­ni­gen, die glau­ben wol­len, glau­ben, und gegen die, die glau­ben wol­len, kommt kein Argu­ment an. Die Befür­wor­ter des „ver­hin­der­ten Stuhls“ gehen in einem typi­schen Zir­kel­schluß von dem Pro­blem aus, das es zu erklä­ren gilt, näm­lich dem unvor­sich­ti­gen Ver­hal­ten von Bene­dikt XVI. Ange­sichts eines unmo­ti­vier­ten Ver­zichts auf das Papst­tum, einer schlecht gemach­ten Decla­ra­tio und der unan­ge­mes­se­nen Ver­wen­dung von päpst­li­chen Titeln, Gewän­dern und Gesten schlie­ßen sie von vorn­her­ein die Mög­lich­keit sub­jek­ti­ver und objek­ti­ver Feh­ler Bene­dikts XVI. aus, um eine fik­ti­ve Ver­schwö­rung zu kon­stru­ie­ren, deren Schöp­fer, Autor und Opfer nie­mand ande­res als Joseph Ratz­in­ger selbst sein soll. Der Papst wird „ver­hin­dert“, so wie die Mensch­heit im Matrix-Uni­ver­sum der Gefan­ge­ne einer vir­tu­el­len Simu­la­ti­on ist. In die­ser kogni­ti­ven Ver­zer­rung ist man davon über­zeugt, daß die Rea­li­tät eine Täu­schung ist und daß die Wahr­heit mit dem Medi­en-Nar­ra­tiv über­ein­stimmt. Und da die Befür­wor­ter die­ses Nar­ra­tivs nicht bewei­sen kön­nen, daß es wahr ist, wer­den wir ver­su­chen zu erklä­ren, war­um es falsch ist.

(Fort­set­zung folgt)

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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2 Kommentare

  1. Ange­sichts der üblen Rol­le von US-Expo­nen­ten bei Bene­dikts Rück­tritt wür­de ich zu die­sem The­ma von vorn­her­ein nichts auf die Mei­nung eines pro­non­cier­ten Trans­at­lan­ti­kers geben.

  2. S. H. Papst Bene­dikt war im Irr­tum. Das belegt sowohl in Kür­ze sei­ne Anspra­che zur Letz­ten Gene­ral­au­di­enz vom 27.2.13 als auch in Gän­ze die von ihm auto­ri­sier­te Rede von S. E. Erz­bi­schof Gäns­wein vom 20.5.16. Wer ande­rer Auf­fas­sung ist – was aus etli­chen Grün­den an sich nicht unmög­lich ist -, hat eine Rei­he dog­ma­ti­scher Pro­ble­me zu erklä­ren, die weit schwie­ri­ger zu lösen sind als ein Irr­tum sei­tens Papst Bene­dikts zu bewei­sen ist.

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