Von Roberto de Mattei*
In den zwei Jahrtausenden ihrer Geschichte hat die katholische Kirche Momente großer Schwierigkeiten erlebt, die sie dank der Hilfe des Heiligen Geistes, der ihre Unversehrheit bis zum Ende der Zeit gewährleistet, stets überwunden hat. Nach den Verfolgungen der ersten Jahrhunderte waren die beiden schwersten Umwälzungen wahrscheinlich die arianische Krise des 4. Jahrhunderts und das abendländische Schisma des 14./15. Jahrhunderts. Erstere Krise war eine lehrmäßige Krise aufgrund der trinitarischen Irrlehre, die sich bis in die obersten Ränge der Kirche ausgebreitet hatte; die zweite Krise war eine rechtlich-kanonische Krise aufgrund der Konfrontation zwischen Päpsten und Gegenpäpsten, die etwa vierzig Jahre andauerte.
Heute befindet sich die Kirche in einer neuen Krise, in der die lehrmäßige und die kanonische Krise zusammen aufzutreten drohen und eine noch nie dagewesene Situation der Verwirrung schaffen.
Die Lehrfrage ergibt sich aus zahlreichen Gesten und Dokumenten von Papst Franziskus, bei denen es sich um ein Entfernen von der traditionellen Lehre der Kirche zu handeln scheint. Manche ziehen daraus die Konsequenz, daß Papst Franziskus ein Häretiker ist und als solcher aus dem Papstamt entfernt werden sollte.
Das kanonische Problem hingegen ergibt sich aus dem Verzicht von Papst Benedikt XVI. auf das Papstamt, der aufgrund bestimmter Anomalien dazu geführt hat, daß einige diesen Verzicht für ungültig und folglich die Wahl von Papst Franziskus für unrechtmäßig halten.
Es handelt sich um zwei verschiedene Fragen, und wir werden uns im Moment auf die Frage des „verhinderten Stuhls“ beschränken, die von jenen vorgebracht wird, die die Illegitimität von Papst Franziskus mit der kanonischen Ebene begründen wollen.
Wir haben mehrmals versucht, Elemente der Vernunft und des Glaubens anzubieten, die den verwirrten Leser in diesem Punkt leiten könnten. Am 12. Februar 2013, nach der Ankündigung des Rücktritts von Papst Benedikt, haben wir geschrieben, daß es keinen Zweifel am Recht eines Papstes gebe, auf das Papsttum zu verzichten, aber die Abdankung von Benedikt XVI. auf historischer Ebene als eine Geste erscheine, die mit der Tradition und der Praxis der Kirche nicht übereinstimme, da es keinen berechtigten Grund gebe.
Schwerwiegender war jedoch die Tatsache, daß Joseph Ratzinger bei seinem Rücktritt beschlossen hatte, den Namen Benedikt XVI., den Titel eines „emeritierten Papstes“ und das weiße päpstliche Gewand zu behalten. Als wir das Foto der beiden Päpste beim gemeinsamen Gebet in Castelgandolfo kommentierten, kritisierten wir daher die Verwirrung, die durch diese beispiellose päpstliche „Diarchie“ entstand, ohne jedoch die petrinische Legitimität von Papst Franziskus in Frage zu stellen.
Ausgehend von dieser anormalen Situation begann, nachdem Antonio Socci den Fall zum ersten Mal angesprochen hatte, die These einer Unterscheidung zwischen dem juristischen Papsttum von Franziskus und dem geistlichen von Benedikt zu kursieren. Dazu schrieben wir am 15. September 2014 im Blog von Sandro Magister:
„Ein geistliches Papsttum, das sich vom juristischen Papsttum unterscheidet, gibt es nur in der Vorstellung einiger Theologen. Wenn der Papst per definitionem derjenige ist, der die Kirche regiert, dann verzichtet er durch den Verzicht auf die Regierung auf das Papsttum. Das Papsttum ist kein geistlicher oder sakramentaler Zustand, sondern ein ‚Amt‘, d. h. eine Institution. Die Tradition und die Praxis der Kirche bekräftigen eindeutig, daß einer und nur einer der Papst ist und daß seine Macht untrennbar mit seiner Einheit verbunden ist (…). Benedikt XVI. hat nicht auf einen Teil des Papsttums verzichtet, sondern auf das ganze Papsttum, und Franziskus ist nicht Teilzeitpapst, sondern ganz Papst.“
Seitdem sind zehn Jahre vergangen und wir haben diesem Thema weitere Artikel gewidmet, aber unsere Position hat sich nicht geändert. Neu ist, daß in Italien innerhalb eines Jahres vier Priester, Don Ramon Guidetti, Pfarrer in der Nähe von Livorno, Don Fernando Maria Cornet, Pfarrer in Sassari, der Karmelitenpater Giorgio Maria Farè und der Priester Natale Santonocito aus der Diözese Palestrina, öffentlich die kanonische Illegitimität des Pontifikats von Papst Franziskus vertreten haben. Don Guidetti und Don Cornet wurden exkommuniziert und in den Laienstand versetzt. Pater Faré wurde exkommuniziert und aus dem Karmelitenorden ausgeschlossen, hat aber Berufung dagegen eingelegt, Don Santonocito drohen ähnliche Maßnahmen durch das Dikasterium für die Glaubenslehre. Sie schließen sich damit einem anderen exkommunizierten und laisierten Priester, Alessandro Minutella, an, der seine Anhänger, darunter einige Priester, in der Bewegung Sodalitium Marianum sammelt. Sie alle verkünden ihre Wahrheit in den sozialen Medien und stützen sich bei ihren Argumenten auf den Journalisten Andrea Cionci, den Erfinder der These vom „verhinderten Stuhl“.
Um ihre Position zusammenzufassen, sei hier das Video von Don Santonocito vom 8. Dezember 2024 mit dem Titel: „Ich muß euch die Wahrheit sagen: Bergoglio ist nicht der Papst“ genannt.
Die zwölfminütige Rede ist emblematisch, und es lohnt sich, ihren Faden zu verfolgen, indem man den Passagen folgt, die ich wörtlich transkribiere. „Der sogenannte Franziskus“, so Don Santonocito, „ist nicht Papst. Er ist es nie gewesen“, denn Papst Benedikt hat am 11. Februar 2013 eine Erklärung abgegeben, in der er auf die praktische Ausübung seiner Vollmachten, aber nicht auf das Papsttum verzichtete. Wenn dies nicht klar aus der Declaratio von Benedikt XVI. hervorgeht, dann deshalb, weil sie „im Staatssekretariat manipuliert wurde“. Diese Fälschung ermöglichte es, die Erklärung als Abdankung auszugeben, „während es sich in Wirklichkeit um die Ankündigung des verhinderten Stuhls handelte, die Papst Benedikt durch den geschickten Gebrauch der lateinischen Sprache und des Kirchenrechts raffiniert verfaßt hatte“. Außerdem „könnte Papst Benedikt Opfer eines Anschlags mit Schlaftabletten oder anderen Drogen geworden sein“, sodaß er, als er von seinen Feinden in die Enge getrieben wurde, „das perfekte Mittel gegen die Usurpation anwandte“, die von langer Hand vorbereitet worden war und im Leben Jesu seine volle theologische Entsprechung findet. „Ein mißbräuchliches Konklave hat den Papst zum ‚Gefangenen, Eingesperrten, Verbannten‘ gemacht“ und ihn gezwungen, auf sein Amt als Bischof von Rom zu verzichten: das heißt, im Sinne eines „verhinderten Stuhls“. Die Wahl von Jorge Maria Bergoglio ist ungültig, und all die lehrmäßigen Irrtümer, die er vertreten hat, „sind nur die offensichtliche Bestätigung dafür, daß er nicht Papst ist“.
Benedikt XVI. hat seinerseits „neun Jahre lang versucht, uns die kanonische Situation des verhinderten Stuhls begreiflich zu machen“, „mit vielen Gesten, Worten und sogar beredtem Schweigen“, wobei er ein von der Moral vorgesehenes System benutzte: „die große geistige Einschränkung“, „eine subtile Art, die Wahrheit nur denen zu sagen, die Ohren haben, um zu hören“. Zum Beispiel „erteilte er weiterhin seinen apostolischen Segen“ und „trug weiterhin das weiße Gewand und behielt seinen Papstnamen und sein päpstliches Wappen sowie andere Vorrechte, die mit seiner Würde als Pontifex verbunden sind“.
Don Santonocito fügt hinzu, daß „der verhinderte Stuhl von Benedikt XVI. eine im Vatikan mehr als bekannte Tatsache ist, aber nur wenige Priester den Mut haben, diese Wahrheit in die Welt hinauszurufen“, nicht zuletzt wegen der Strafen, die dies nach sich ziehen würde.
„Die Tatsache, daß Bischof Bergoglio alle Priester brutal bestraft, die es wagen, Zweifel zu äußern, anstatt seine eigene Legitimität klar und offiziell zu rechtfertigen, ist der offensichtlichste Beweis dafür, daß er nicht der wahre Papst ist.“
Das Video schließt mit der Aufforderung, nicht in Einheit mit Franziskus an der Messe teilzunehmen und sich dafür einzusetzen, daß die echten Papstwähler unter den Kardinälen vom April 2013 den Nachfolger von Benedikt XVI. wählen können. Es würde genügen, wenn ein einziger ungültiger Kardinal am Konklave teilnimmt, um es ungültig zu machen.
Die Behauptungen von Don Santonocito bedürften einer Fülle von Beweisen, um ihnen eine Relevanz zuzuerkennen, aber in dem Video wird alles erzählt, aber nichts bewiesen. Diejenigen, die glauben wollen, glauben, und gegen die, die glauben wollen, kommt kein Argument an. Die Befürworter des „verhinderten Stuhls“ gehen in einem typischen Zirkelschluß von dem Problem aus, das es zu erklären gilt, nämlich dem unvorsichtigen Verhalten von Benedikt XVI. Angesichts eines unmotivierten Verzichts auf das Papsttum, einer schlecht gemachten Declaratio und der unangemessenen Verwendung von päpstlichen Titeln, Gewändern und Gesten schließen sie von vornherein die Möglichkeit subjektiver und objektiver Fehler Benedikts XVI. aus, um eine fiktive Verschwörung zu konstruieren, deren Schöpfer, Autor und Opfer niemand anderes als Joseph Ratzinger selbst sein soll. Der Papst wird „verhindert“, so wie die Menschheit im Matrix-Universum der Gefangene einer virtuellen Simulation ist. In dieser kognitiven Verzerrung ist man davon überzeugt, daß die Realität eine Täuschung ist und daß die Wahrheit mit dem Medien-Narrativ übereinstimmt. Und da die Befürworter dieses Narrativs nicht beweisen können, daß es wahr ist, werden wir versuchen zu erklären, warum es falsch ist.
(Fortsetzung folgt)
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
Bücher von Prof. Roberto de Mattei in deutscher Übersetzung und die Bücher von Martin Mosebach können Sie bei unserer Partnerbuchhandlung beziehen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
Angesichts der üblen Rolle von US-Exponenten bei Benedikts Rücktritt würde ich zu diesem Thema von vornherein nichts auf die Meinung eines prononcierten Transatlantikers geben.
S. H. Papst Benedikt war im Irrtum. Das belegt sowohl in Kürze seine Ansprache zur Letzten Generalaudienz vom 27.2.13 als auch in Gänze die von ihm autorisierte Rede von S. E. Erzbischof Gänswein vom 20.5.16. Wer anderer Auffassung ist – was aus etlichen Gründen an sich nicht unmöglich ist -, hat eine Reihe dogmatischer Probleme zu erklären, die weit schwieriger zu lösen sind als ein Irrtum seitens Papst Benedikts zu beweisen ist.