Das Dikasterium für die Glaubenslehre hat gestern das folgende Dokument mit dem Titel „Blatt für die Audienz mit dem Heiligen Vater: ‚Falsche Mystik und geistlicher Missbrauch‘“ veröffentlicht. Genehmigt wurde es von Papst Franziskus am 22. November. Es soll im Zusammenhang mit Erscheinungsphänomenen die Straftat des „geistlichen Mißbrauchs“ eingeführt werden.
Das von Kardinal Victor Manuel „Tucho“ Fernández geleitete Dikasterium zieht damit in einem weiteren Schritt die Daumenschraube gegen Erscheinungen und Mystik, die als falsch beurteilt wurden, weiter an.
Im Raum steht allerdings auch die Frage, ob das Ziel dieser Maßnahmen nur falsche oder auch unliebsame Phänomene sind, die bekämpft werden sollen.
Papst Franziskus übte wiederholt Kritik, am Beginn seines Pontifikats sogar sehr scharfe, an Erscheinungsphänomenen. Seine Ablehnung richtete sich vor allem gegen Medjugorje, das er exemplarisch dafür heranzog. Unter dem Eindruck von Beratern würgte er das Phänomen Medjugorje aber dann doch nicht ab, sondern brachte es unter römische Kontrolle und setzte Schritte, daraus eine Gebetsstätte zu machen – ohne Anerkennung von Erscheinungen und Botschaften.
Die Internationale Marianische Päpstliche Akademie errichtete eine neue zentrale Beobachtungsstelle für Marienerscheinungen und ähnliche Phänomene, die im April 2023 ihre Arbeit aufnahm. Damit soll systematisch erfaßt werden, um zentral darüber befinden zu können. Dergleichen gab es in der Kirchengeschichte noch nicht, da die Beurteilung von Erscheinungen in die Entscheidungsgewalt des jeweiligen Ortsbischofs fiel.
Einige Aussagen der Verantwortlichen der neuen Beobachtungsstelle warfen Zweifel auf, ob mit der neuen Einrichtung nicht nur dem von Papst Franziskus vorangetriebenen neuen Zentralismus entsprochen wird (siehe auch: „Bestimmte Bilder von Maria sind heute nicht mehr nachvollziehbar“). Ins Visier werden vor allem Phänomene genommen, die Kritik am derzeitigen Pontifikat üben und Warnungen wie Endzeitprophetien aussprechen. Beides, so Pater Stefano M. Cecchin, der Vorsitzende der Akademie, seien Zeichen, daß ein Phänomen nicht echt sei. Wörtlich sagte Cecchin am 30. April 2023:
„Die Erscheinungen, die von Strafen Gottes sprechen, sind absolut falsch.“
Papst Franziskus brachte seine Haltung in einer Fernsehsendung am 4. Juni 2023 auf den Punkt. Er erklärte zunächst:
„Marienerscheinungen sind nicht immer wahr.“
Oft handle es sich nur um „Bilder einer Person“, so Franziskus. Seine Empfehlung an die Katholiken lautete, erst gar nicht bei „Erscheinungen“ zu suchen. Wörtlich: „Gar nicht dort suchen“. Damit aber erteilte er, was sehr überraschte, dem Erscheinungsphänomen eine generelle Absage.
Der Papst sagte also, weil „Marienerscheinungen nicht immer wahr sind“, solle man sie grundsätzlich meiden. Da er nicht differenzierte, umfaßt seine Absage auch alle in der Kirchengeschichte anerkannten Erscheinungen wie La Salette, Lourdes und Fatima, um nur diese drei sehr bekannten Orte zu nennen. Da verwundert es nicht, daß der erwähnte Akademievorsitzende P. Cecchin im September 2024 erklärt: „Nicht Medjugorje, sondern Fatima ist weiterhin der komplizierteste Fall“. Die Erscheinungen von Fatima sind kirchlich anerkannt und die Botschaften greifen verbunden mit ernsten Warnungen tief in das Zeitgeschehen hinein. Damit aber scheint man in Rom einige Schwierigkeiten zu haben.
Durch die Aussagen von Papst Franziskus steht auch die Frage im Raum, weshalb dann die neuen Beobachtungsstelle errichtet wurde, wenn man Erscheinungen ohnehin keine Beachtung schenken solle? Und warum dann neuerdings im schnellen Tempo Erscheinungen „anerkannt“ werden?
Im Mai 2024 erließ das Glaubensdikasterium von Kardinal Tucho Fernández neue Normen für die Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene. Dabei wurde völlig überraschend eine Anerkennung einer Erscheinung kategorisch ausgeschlossen. Zuerst wurde die Entscheidungsbefugnis zentralisiert, um dann implizit zu erklären, daß die Kirche im 21. Jahrhundert unfähig ist, eine echte himmlische Manifestation in Zeit und Raum zu erkennen.
Stattdessen wurde ein abgestuftes fünfgliedriges System etabliert, das eine kirchliche Duldung von Erscheinungsorten allein aus pastoraler Sicht vorsieht, deren Status immer nur „vermeintlich“ bleibt, aber nie „tatsächlich“ wird. Geblieben ist hingegen die Option, ein Phänomen als gesichert falsch abzulehnen.
Da einzig Rom noch ein Urteil fällen darf, wurde den Ortsbischöfen nach zweitausend Jahren die Entscheidungsbefugnis entzogen.
Die erste bekannte Marienerscheinung um 240 nach Christus wird übrigens vom heiligen Gregor dem Wundertäter überliefert, kurz bevor er die Bischofsweihe empfing und die Leitung der Kirche von Neocäsarea übernahm. Von der Gottesmutter empfing er die Formulierung eines Glaubensbekenntnisses.
Anhand der neuen Normen wurden vom Glaubensdikasterium seither in schnellem Tempo Erscheinungsphänomene abgehandelt, die teils seit vielen Jahrzehnten anhängig waren. Einige wurden für falsch erklärt, andere pastoral „anerkannt“. Von einer echten Anerkennung kann in keinem Fall gesprochen werden, da es diese Möglichkeit – wie gesagt – gar nicht mehr gibt.
Nun veröffentlichte Tucho Fernández ein „Blatt für die Audienz: Falsche Mystik und geistlicher Mißbrauch“. Hier der vollständige Wortlaut in deutscher Übersetzung. Der Text wurde vom Heiligen Stuhl bisher auf englisch, spanisch, französisch und italienisch publiziert. Da nicht zwischen echten und falschen Phänomenen unterschieden wird, soll der Straftatbestand generell und unabhängig von der Echtheitsfrage gelten, was sich wiederum aus den neuen Normen ergibt, die die Echtheitsfrage ausklammern:
Der sogenannte „falsche Mystizismus“ taucht in den Vorschriften des Dikasteriums für die Glaubenslehre (DDF) in einem sehr präzisen Kontext auf: den Fragen im Zusammenhang mit Spiritualität und angeblichen übernatürlichen Phänomenen, die heute zur Sektion für doktrinäre Fragen gehören: „Probleme und Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Glaubensdisziplin, wie Fälle von Pseudomystik, angebliche Erscheinungen, Visionen und Botschaften, die einem übernatürlichen Ursprung zugeschrieben werden…“ (Art. 10, 2).
In diesem Zusammenhang bezieht sich der Begriff „falsche Mystik“ auf spirituelle Vorschläge, die die Harmonie der katholischen Gottesvorstellung und unsere Beziehung zum Herrn beeinträchtigen. Genau in diesem Sinne taucht er im Lehramt auf, zum Beispiel in der Enzyklika Haurietis Aquas, wo Papst Pius XII. die Gottesvorstellung der jansenistischen Gruppen, die in ihrer Spiritualität das Geheimnis der Menschwerdung nicht berücksichtigten, als „falschen Mystizismus“ zurückweist.
Es ist also unrecht, zu behaupten, die Betrachtung des leiblichen Herzens Jesu hindere daran, zur inneren Gottesliebe zu kommen, und die Seele werde auf dem Wege zur höchsten Tugend aufgehalten. Diese falsche mystische Lehre verwirft die Kirche durchaus, wie sie durch Unseren Vorgänger seligen Andenkens Innozenz XI. auch das Gerede derer zurückgewiesen hat, die solches daherredeten: „Auch dürfen sie (die Seelen dieses inneren Weges) keine Liebesakte zur allerseligsten Jungfrau, den Heiligen oder der Menschheit Christi erwecken; denn, da diese Gegenstände sinnlich sind, ist es auch die Liebe zu ihnen. Kein Geschöpf, auch nicht die allerseligste Jungfrau, noch die Heiligen dürfen einen Platz haben in unserem Herzen: Gott allein will es einnehmen und besitzen“ (Enzyklika Haurietis Aquas, 15. Mai 1956, IV: AAS 48 [1956], 344).
Im Kirchenrecht gibt es kein Verbrechen, das mit dem Namen „falscher Mystizismus“ bezeichnet wird, auch wenn der Ausdruck manchmal von Kanonisten in einem Sinne verwendet wird, der eng mit Mißbrauchsdelikten verbunden ist.
Andererseits hat das Dikasterium für die Glaubenslehre in den neuen Normen für die Unterscheidung angeblicher übernatürlicher Phänomene präzisiert: „Die Verwendung behaupteter übernatürlicher Erfahrungen oder anerkannter mystischer Elemente als Mittel oder Vorwand, um Menschen zu beherrschen oder Mißbrauch zu begehen, ist als moralisch besonders schwerwiegend anzusehen“ (Art. 16). Diese Überlegung ermöglicht es, die dort beschriebene Situation als erschwerenden Umstand zu bewerten, wenn sie zusammen mit den Straftaten auftritt.
Gleichzeitig ist es möglich, den „spirituellen Mißbrauch“ unter Strafe zu stellen und dabei den zu weit gefaßten und vieldeutigen Begriff der „falschen Mystik“ zu vermeiden.
Es wird vorgeschlagen, das Dikasterium für Gesetzestexte und das Dikasterium für die Glaubenslehre mit der Analyse dieser Möglichkeit und der Vorlage konkreter Vorschläge zu betrauen und eine Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz des Präfekten des Dikasteriums für Gesetzestexte einzurichten.Víctor Manuel Card. Fernández
Präfekt
Ex Audientia Die 22.11.2024 FranciscusDer Präfekt des Dikasteriums für Gesetzestexte hat den Vorschlag angenommen und ist dabei, die vorgesehene Arbeitsgruppe zu bilden, die sich aus den von beiden Dikasterien angegebenen Mitgliedern zusammensetzt, um die ihr übertragene Aufgabe so bald wie möglich zu erfüllen.
Das Glaubensdikasterium begründet, warum es den Begriff „falsche Mystik“ vermeidet. Der Terminus „geistlicher Mißbrauch“ dürfte allerdings nicht leichter zu handhaben zu sein.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: VaticanMedia (Screenshot)
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