
Von Gianfranco Battisti*
im Namen des International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church
Im Hinblick auf die jüngsten Wahlen muß eine Prämisse aufgestellt werden. Das Europäische Parlament ist eine juristische Fiktion, die keine politischen Befugnisse besitzt. Es ist Teil eines komplexen Kontroll- und Lenkungssystems (die Begrifflichkeit deutet bereits darauf hin, daß sich dahinter ein Trick verbirgt), das darauf abzielt, die Bürger aus dem Kontrollraum fernzuhalten. Bestenfalls ist es ein Schaufenster der Stimmung auf dem Kontinent, die die Verantwortlichen ohnehin berücksichtigen wollen, um nicht zu offen gegen den Strom zu schwimmen. Punktum.
Immerhin geben uns die Wahlen ein aktuelles Bild von der Situation in den einzelnen Ländern. In dieser Hinsicht erscheint das Ergebnis in Italien sehr positiv, wo sich die Regierung halten konnte, obwohl Giorgia Meloni viele der traditionellen Forderungen ihrer Partei Fratelli d’Italia (FdI) zum Schweigen gebracht hat. In einer Zeit der Wirtschaftskrise ist das ein doppelter Erfolg. Zweifelsohne gibt es internationale Unterstützung (USA und EZB), die hinter den Kulissen dafür sorgt, daß der Tisch nicht kippt. Gleichzeitig zeigt der Aufschwung der italienischen Linksdemokraten (PD) (einzigartig unter den europäischen Sozialisten), daß das Land in den Händen der Mächtigen ist. Hinter dem PD scheint heute auch die Kirche zu stehen, die sich zunehmend mit den starken Mächten der Welt verbündet. Das sind sehr deutliche Anzeichen dafür, daß ein Regierungswechsel jederzeit möglich ist. Die PD ist die italienische Schwesterpartei der amerikanischen Demokraten, was unterstreicht, daß die atlantische Haltung von Ministerpräsidentin Meloni auf realpolitischen Motiven beruht, die weit über ihren kritisierten politischen Stammbaum hinausgehen. Das Scheitern von Matteo Renzi und seiner Liste1 zeigt, daß die Zeit ein Gentleman ist. Niemand erinnert sich mehr an ihn, aber ihnen verdanken wir die Einengung der Demokratie-Räume, die wir heute auch in Form von Wahlverdrossenheit bezahlen.
Was den Rest der EU betrifft, so wird der Niedergang von Macrons Bewegung Frankreich weiter schwächen, auch wenn die eilig einberufenen Parlamentsneuwahlen dazu dienen sollen, die endgültige Verankerung der Le-Pen-Rechten im Land zu verhindern. Das französische Wahlsystem, ein Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen, wird es jenen, die die Politik kontrollieren (schätzungsweise ein Drittel der Abgeordneten sind direkter Ausdruck der Freimaurerei), ermöglichen, sich geschlossen gegen die drohende Gefahr einer Veränderung der Machtstrukturen zu stellen. In diesem Zusammenhang scheint die persönliche Zukunft Macrons völlig irrelevant zu sein. Nicht unbedeutend ist hingegen die Zunahme der politisch-religiösen Gewalt im Land, die sich mehr noch gegen Katholiken als gegen Juden richtet.
Kurzfristig dürften die unvermeidlichen Umwälzungen Italien weiter stärken, das sich nun in einer guten Position zwischen der EVP und der Rechten befindet. Ein Vorteil, der beim heute beginnenden G7-Gipfel auf italienischem Boden sofort genutzt werden dürfte.
Meloni ist weit davon entfernt, in Europa isoliert zu sein, und wird von nun an die Fraktion der Konservativen und Reformer (EKR), eine der politischen Familien der EU, in einer Phase wachsender Unterstützung maßgeblich leiten. Mit 24 der 76 italienischen Abgeordneten dürfte die Fraktionsstärke 73 Mandate erreichen. Ein Stimmenpaket, das in der gesamten Legislaturperiode berücksichtigt werden muß.
Doch die Zukunft ist natürlich nicht nur rosig. Für Italien gilt, was für alle anderen auch gilt. Heute weiß man noch nicht, welchen Preis Meloni für Kompromisse mit den europäischen Partnern – die in mehreren Fragen andere Interessen haben als Italien – und mit den Wirtschaftsmächten, die das Land in diesen schwierigen Zeiten stützen (siehe Privatisierungen, Ukraine-Frage usw.), zahlen muß.
Wie dem auch sei, im übrigen Europa haben die meisten Regierungsparteien Stimmen verloren, ein deutliches Zeichen dafür, daß die Dinge tatsächlich sehr schlecht laufen. Der begrenzte, aber weit verbreitete Rechtsruck der Wählerschaft zeigt eine allgemeine Reaktion auf die Politik der derzeitigen Mehrheit, die auf der Konvergenz der (vor allem deutschen) EVP, der Sozialisten und der Macronisten beruht. Diese Koalition befindet sich in einer tiefen Krise, während in der Bundesrepublik Deutschland, wo die AfD zur zweitstärksten Partei geworden ist (und auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sogar die Führung übernommen hat), die Aktionen des rechten Unions-Flügels zunehmen. Wir stehen vor der Ablehnung des sogenannten Green Deals mit seinen verheerenden Folgen für die Wirtschaft und die Landwirtschaft, der unterschiedslosen Öffnung für die Einwanderung, der kulturellen/moralischen Homologisierung, der grassierenden Kriegspropaganda und der Stärkung der EU-Befugnisse. Das birgt erhebliche Spannungen für die neue Legislaturperiode und geht einher mit dem Rückgang der Grünen, ausgenommen in Italien: eine Bewegung, die an die historische Analogie erinnert, die besagt: „Faschisten sind wie Feigen: außen schwarz, innen rot“. Es gibt also mehrere Unsicherheitsfaktoren und Tendenzen, die in naher Zukunft auf die parlamentarischen Strukturen der einzelnen Länder übergreifen könnten.
Wenn es, wie zu hoffen ist, im nächsten Jahr zu einem Waffenstillstand in der Ukraine kommt – nach den Wahlen in den USA wird der Krieg kein Wahlkampfthema mehr sein, sondern nur noch ein wirtschaftlicher Kostenfaktor, der sorgfältig zu bewerten sein muß –, wird es auch möglich sein, eine Einigung über die kontinentalen Probleme zu erzielen. Wenn nicht, werden wir beten müssen. Es verheißt nichts Gutes, daß im Gedenkjahr an die Matteotti-Affäre2 wieder politische Morde begangen werden (siehe das Attentat in der Slowakei und die unverhohlenen Drohungen gegen den georgischen Premierminister), ganz zu schweigen vom Terrorismus in Rußland und Israel. Diese Tragödien sprechen Bände über den Ernst der Lage. Bei näherer Betrachtung hängt dieser ganz mit der realen Lage der US-Wirtschaft zusammen, jenseits der glänzenden Ergebnisse, mit denen Washington immer dann prahlt, wenn die Präsidentschaftswahlen näher rücken.
Was die leidige Frage „wählen oder sich enthalten“ betrifft, so lohnt es sich, das Ergebnis einiger Kandidaten, die katholischen Positionen nahestehen, näher zu betrachten. Gut 55 Personen (offensichtlich aus dem Mitte-rechts-Lager) haben sich exponiert, indem sie das Manifest von Pro Vita & Famiglia im Rahmen der Kampagne „Wenn Europa die Werte verändert, verändert man Europa“ unterzeichnet haben. Es sei daran erinnert, daß diese verdiente Vereinigung anläßlich der jüngsten Abtreibungsabstimmung in Brüssel mit großer Energie aktiv wurde. Unter anderem schickte sie einen Bus mit einer Aufschrift zur Verteidigung des Lebens um das EU-Parlamentsgebäude. Bei diesem Anblick rief jemand vom Gebäude aus die belgische Polizei und bat um sofortiges Eingreifen wegen der Anwesenheit von „Extremisten“. Das Eingreifen erfolgte pünktlich, aber zum Glück ohne irgendwelche Folgen.
Welche Schlußfolgerungen können aus diesen Zahlen gezogen werden? Entgegen dem allgemeinen Eindruck sind die nicht verhandelbaren Werte in der italienischen Politik keineswegs abwesend; die Vereinigungen, die sie vertreten, verfügen über ein keineswegs zu verachtendes Stimmenpotential und die Zahlen zeigen, daß konkrete Ergebnisse erzielt werden können.
Die Zukunft bietet einen Ausblick auf die Möglichkeit, Schritt für Schritt eine neue Generation von Politikern mit einem rechtschaffenen Sinn aufzubauen. Vor allem von unten, d. h. aus dem Netz von Tausenden von Gemeinderäten, wo buchstäblich oft eine Handvoll Stimmen ausreicht, um gewählt zu werden. Voraussetzung ist eine gründliche außerparlamentarische Formung. Diese Möglichkeit wird umso realistischer sein, je besser die verschiedenen Seelen der katholischen Rechtgläubigkeit eine Einheit bilden, anstatt sich in tausend Etiketten zu zerstreuen und sich vor allem durch das „Nichtwählen“ zu vernichten. Wie das Sprichwort sagt, „die Abwesenden haben immer Unrecht“. Selbst die Kirche hat dies zur Zeit Leos XIII. erkannt.
*Gianfranco Battisti, Experte für Geopolitik, em. Professor für Geographie und Leiter der Abteilung Geographie und Geschichte an der Universität Triest, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Italienischen Geographischen Gesellschaft und langjähriger Mitarbeiter des International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church
1 Der aus linkskatholischem Milieu stammende Matteo Renzi ging mit der christdemokratischen Italienischen Volkspartei (PPI), der er ursprünglich angehörte, ab 1996 den Weg in eine Allianz mit den gewandelten Kommunisten, die 2007 zur Gründung der gemeinsamen Linksdemokraten (PD) führte. Von 2009 bis 2014 war er für eine PD-Koalition Bürgermeister von Florenz, von 2013 bis 2017 Vorsitzender der Linksdemokraten (PD) und von 2014 bis 2016 für eine PD-geführte Koalition italienischer Ministerpräsident. Nach der Wahlniederlage bei den Parlamentswahlen 2018 verließ er den PD und gründete die pro atlantisch und pro EU ausgerichtete liberale Partei Italia Viva, die mit 3,7 Prozent der Stimmen den Einzug in das EU-Parlament verfehlte.
2 Giacomo Matteotti (1885–1924), ein Journalist, war ab 1919 Abgeordneter der Sozialistischen Partei Italiens (PSI) zum Italienischen Parlament, als sich diese spaltete, ab 1922 der Sozialistischen Einheitspartei (PSU), deren Vorsitzender er war. Am 10. Juni 1924 wurde er von einer faschistischen Kampfgruppe entführt und ermordet. Das Ereignis gilt als Beginn der faschistischen Diktatur des seit Oktober 1922 regierenden Benito Mussolini.
Da die Abgeordneten des Europäischen Parlaments als Ausgleich für ihre Machtlosigkeit und Überflüssigkeit mit fürstlichen Gagen versehen sind, stellt das europ. Parlament auch einen gutdotierten Vorruhestand für ausrangierte Politdarsteller der Mitgliedsstaaten dar. Aber auch innerhalb der europäischen Administation tummeln sich viele ausrangierte Politiker, z. B. die erfolglose SPÖ-Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner, die wohl nicht zuletzt a. G. ihrer Bilderberger-Verankerung jetzt in Brüssel einen Tedros für Arme spielen darf.