Von Pater Paolo M. Siano*
Zwischen Juli und August 2021 veröffentlichte ich eine vierteilige Studie mit dem Titel „Die Metaphysik des Chaos und das radikale Subjekt von Alexander Dugin“, die später, im Jahr 2022, im Verlag Fiducia unter dem Titel „Die Metaphysik des Chaos von Alexander Dugin“ 1 in Buchform veröffentlicht wurde. Die Analyse von Dugins Denken soll nun fortgesetzt werden.
In Italien werden die Schriften des russischen Politikwissenschaftlers im AGA-Verlag von Maurizio Murelli, einem prominenten Mitglied der italienischen radikalen Rechten, der in den 70er Jahren der extremen Rechten angehörte, veröffentlicht. [Deutsche Ausgaben von Dugins Büchern erscheinen vorwiegend im englischen Verlag Arktos in London.] In einem Video aus dem Jahr 2020 erklärten Murelli und sein Freund Rainaldo Graziani2, daß sie ihre Erfahrung mit dem neofaschistischen Milieu und der neofaschistischen Kultur beenden, um anderswo Wurzeln zu schlagen, insbesondere in Dugins Vierter Politischer Theorie. Der „Bruch“ scheint durch einen Artikel Murellis im Jahr 2022 Bestätigung zu finden.
In der Tageszeitung La Repubblica vom 15. Februar 2024 ist zu lesen, daß Maurizio Murelli, Rainaldo Graziani und seine Frau Ines Pedretti an einem Empfang in der russischen Botschaft in Rom teilnahmen, um Alexander Dugins Tochter Darja zu gedenken, die im August 2022 Opfer eines Mordanschlags wurde. Amerikanischen Quellen zufolge (die New York Times am 5. Oktober 2022 und die Washington Post am 23. Oktober 2022 zitierten ukrainische und amerikanische Beamte) wurde Darja Opfer eines von ukrainischen Geheimdienstagenten durchgeführten Attentats, dessen eigentliches Ziel ihr Vater Alexander Dugin war. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei klargestellt, daß aus christlicher Sicht eine wissenschaftliche und friedliche Kritik an der Ideologie eines Philosophen wie Dugin eine Sache, seine physische Beseitigung zu planen hingegen eine ganz andere Sache und natürlich zu verurteilen ist.
Faßt man die oben genannten Angaben zusammen, so kann man zu dem Schluß kommen: 1) daß Dr. Murelli in der russischen Botschaft in Italien wegen seiner verlegerischen Arbeit für Dugin willkommen ist; 2) daß Prof. Alexander Dugin im heutigen Rußland nach wie vor ein kultureller Bezugspunkt und daher in den Augen des russischen Establishments eine respektable Person ist.
Ich möchte nun hier auf die Ideenwelt des berühmten russischen Politikwissenschaftlers zurückkommen, insbesondere nachdem ich kürzlich sein Buch „Die Templer des Proletariats. Metaphysik des Nationalbolschewismus“ (russische Ausgabe 1997), italienische Ausgabe von Maurizio Murellis Verlag AGA, 2021, in die Hände bekommen und darin eine weitere Bestätigung für das gefunden habe, was ich 2021 und 2022 bereits geschrieben habe.
Auch in „Die Templer des Proletariats. Metaphysik des Nationalbolschewismus“ preist Prof. Dugin die Gnosis, den Pfad der linken Hand, und fördert damit ein Denken, das nicht christlich ist (weder römisch-katholisch noch orthodox) und das zu einer wahrhaft teuflischen, subversiven und mörderischen Praxis führen kann.
Am Anfang des Buches steht eine Einführung des Verlegers Maurizio Murelli (S. 7–12), gefolgt von der Einleitung der italienischen Ausgabe: „Ein Dokument der Vergangenheit oder ein Programm für die Zukunft?“, verfaßt von Alexander Dugin (S. 13–20). Laut Dugin müssen sich die extreme Rechte und die extreme Linke, der Nationalbolschewismus also, im Kampf gegen den totalitären westlichen Liberalismus vereinen (vgl. S. 15). Dugin verherrlicht die Templer, in dem Sinn, daß er sie als (rechte) Esoteriker versteht wie René Guénon und Julius Evola, d. h. als kriegerische Hüter einer traditionellen und hierarchischen Gesellschaft (vgl. S. 17)… Ja, aber von welcher Tradition spricht Dugin? Von einer initiatorischen, esoterischen, gnostischen, aber sicherlich nicht von der katholischen und apostolischen.
Schauen wir uns das Buch von Dugin an und lesen wir einige seiner Hauptthesen. Die unterstrichenen Stellen sind Hervorhebungen im Original.
Dugin schreibt: „Der Nationalbolschewismus ist die gemeinsame Meta-Ideologie aller Feinde der offenen Gesellschaft. Er ist nicht nur eine der Ideologien, die einer solchen Gesellschaft feindlich gegenüberstehen, sondern ihre totale und wesentliche Antithese. Er ist eine Art Weltanschauung, die auf der totalen und radikalen Leugnung des Individuums und seiner zentralen Rolle beruht; in ihm wird das Absolute, in dessen Namen das Individuum geleugnet wird, in seinem weitesten und allgemeinsten Sinn verstanden. Man kann sogar sagen, daß der Nationalbolschewismus der Ursprung jeder Idee des Absoluten ist, jeder Ablehnung der offenen Gesellschaft ist“ (S. 27).
In seinem Konzept des Absoluten läßt sich Dugin vom Hinduismus inspirieren: „Man könnte sagen, daß die oberste Metaphysik des Nationalbolschewismus die hinduistische Formel Atman ist Brahman ist“ (S. 29). Dugin erklärt, da Atman das Selbst ist, der innere Geist, der im Menschen ist, jenseits des individuellen Selbst… Brahman ist das Absolute… Atman muß sich mit Brahman vereinigen, der Mensch muß über sein „kleines individuelles Selbst“ hinausgehen (vgl. S. 29).
Dugins Denken trieft vor ideologischem Haß auf alles Nicht-Russische: „das ideokratisch-kontinentale Rußland […] gegen den plutokratisch-insularen angelsächsischen Westen. Die Schar der Engel Eurasiens gegen die Armeen des atlantischen Kapitalismus“ (S. 41).
Dugin teilt den Standpunkt von Guénon und Evola: „[…] Mit anderen Worten, in dem Maße, in dem die traditionellen konservativen Institutionen – die Monarchie, die Kirche, die soziale Hierarchie, das Kastensystem usw. – degenerieren, gewinnen die mit dem Pfad der linken Hand verbundenen besonderen, gefährlichen und riskanten initiatischen Praktiken an Bedeutung“ (S. 46).
„Der dem Nationalbolschewismus eigene Traditionalismus ist im Allgemeinen sicherlich eine linke Esoterik, deren Merkmale die Prinzipien der tantrischen Kaula und die Lehre von der zerstörerischen Transzendenz wiederholen“ (S. 46).
„Die Herrschaft des Nationalbolschewismus, das Regnum, das Reich des Endes, ist die vollkommene Verwirklichung der größten Revolution der Geschichte, der kontinentalen und der universellen. Sie ist die Rückkehr der Engel, die Auferstehung der Helden, die Revolte des Herzens gegen die Diktatur der Vernunft. Diese letzte Revolution ist die Aufgabe des Acephalus, des kopflosen Trägers des Kreuzes, des Hammers und der Sichel, gekrönt mit dem ewigen Hakenkreuz der Sonne“ (S. 48).
„Rußland ist zum auserwählten Reich geworden, die Russen erhalten wirklich eine eschatologische Mission zu erfüllen“ (S. 56).
Dugin verbindet den „Nationalbolschewismus“ und „den russischen Staat als messianischen Pfad für die Auserwählten“ zum „eschatologischen Unternehmen der orthodoxen Gemeinschaft mit allen Extremen, allen Exzessen und Paradoxien […]“ (S. 79). Hier wird die ideologisch-messianische Rechtfertigung Eurasiens und des Krieges (sogar des Atomkrieges) gegen den Westen serviert!
Tatsächlich gibt es weiter unten den Absatz „Die Legitimation der Aggression in der Tradition“ (S. 118f), und damit ist nicht die christliche Tradition gemeint, sondern die heidnische, gnostische…
Dugin zufolge betrachtete die „Tradition“ die Existenz von Grenzen als „Ausdruck der Unvollständigkeit des Kosmos in bezug auf seine Ursache, die als etwas Absolutes und Einzigartiges, jenseits aller Grenzen gedacht wird“ (S. 118). Daher wurde die Aggression, d. h. die Ausdehnung über die eigenen Grenzen hinaus, laut Dugin, als „der tiefe Impuls einer Bewegung hin zum Göttlichen […]“ (S. 118) gesehen. So sind „alle metaphysischen und asketischen Praktiken“ „reine Formen der Aggression; in solchen Praktiken versuchen Eingeweihte, alle Grenzen zu überschreiten […]“ (S. 118). Die „direkte Anbetung“ ist das Ziel des „höchsten aggressiven Impulses“, weil „das Göttliche mit der Aufhebung aller Grenzen und Begrenzungen zusammenfällt, die das Wesen des Nicht-Göttlichen, des Immanenten ausmachen“ (S. 118). So erklärt Dugin, daß „Satan“ „Hindernis“, „Grenze“ bedeutet, was die „nächste Stufe“ auslöst, nämlich die „Dämonisierung des Feindes“ (vgl. S. 118). Und so rechtfertigt Dugin einen russischen Krieg gegen den Westen! Das ist reine gnostische Ideologie.
Mit einer verdrehten, auf den Kopf gestellten ideologischen Argumentation wirft Dugin der modernen Welt, dem Humanismus, der Aufklärung usw. vor, die Tradition, wie sie oben verstanden wurde, umgestürzt zu haben und „eine einseitige Sicht der Aggression, die ausschließlich auf dem Standpunkt des Opfers basiert“, eingeschärft zu haben (vgl. S. 119). Dugin wirft der Moderne, dem Westen und dem Liberalismus vor, die Aggression als illegale Übertretung dargestellt und stattdessen das Individuum und sein natürliches Recht verherrlicht zu haben (vgl. S. 119–121)… Dugin räumt ein, daß der „Terrorismus“ zur „letzten Zuflucht“ jener wird, die „die Totalisierung einer Welt anstreben, in der letztere geächtet ist“ (S. 122). Es ist logisch zu behaupten, daß Dugin im Namen seiner Idee der Tradition Aggression, Krieg, Terrorismus rechtfertigt – oder zumindest andere veranlaßt, sie zu rechtfertigen… Aber ist der Weg von der kulturellen/ideologischen Rechtfertigung zur praktischen Umsetzung lang oder kurz? Das hängt von den Anhängern dieser Duginschen Theorien ab.
Dugin preist das „grenzenlose Subjekt“, das „absolute Subjekt“, das „auf sehr reine Weise den metaphysischen Sinn der Aggression“ anzeigt und „den letzten Akt des eschatologischen Dramas“ vollziehen kann (vgl. S. 124). Dieses Subjekt entspricht im wesentlichen der vom deutschen Schriftsteller Ernst Jünger theoretisierten Figur des „Arbeiters“ (vgl. S. 125–128), der auch ein kultureller Bezugspunkt in jener italienischen radikalen Rechten war, die Dugins Denken und damit seine Vorstellung von Rußland und Eurasien rühmt… Weiter schreibt Dugin: „Vor seinem Tod äußerte der französische faschistische Schriftsteller Robert Brasillach eine einzigartige Prophezeiung: ‚Im Osten, in Rußland, sehe ich den Faschismus aufsteigen, einen riesigen und roten Faschismus‘“ (S. 145).
Dugin läßt auch verschiedene esoterische Kenntnisse erkennen. Im Kapitel „Die Macht der gekrönten Kinder“ (S. 163–169) schreibt er: „Die Tradition behandelte Kinder als besondere Wesen, die direkt mit dem Geheimnis der universellen Seele verbunden sind. […]. Operative zeremonielle Magie erfordert die Teilnahme von Kindern an Ritualen […]“ (S. 163). In einer „sakralen Zivilisation“ wurde das Kind „als fast übernatürlich angesehen, gleichgestellt mit Priestern und Sehern“ (S. 164). „Das Kind verkörpert das Mögliche“ (S. 165). „Das Kind gehört nicht zur Erde. Genauer gesagt, steht es über der sexuellen Polarisierung, über der starren Rollenverteilung“ (S. 165). „Es ist kein Zufall, daß in der Alchemie – der Wissenschaft, die behauptet, daß alle Objekte (einschließlich der Mineralien) eine Seele haben und daß alle Wesen okkult androgyn sind – die Symbolik des Säuglings in höchstem Maße entwickelt ist“ (S. 165f). Dugin fährt fort: „Der Stein der Weisen – die Krönung des Roten Werks, das Rubedo – wird als spielendes Kind dargestellt“ (S. 166). Wenn sie erwachsen werden, verlieren Kinder „die subtile Verbindung mit den unsichtbaren Welten“ (S. 167)… Dugin befürwortet einen Staat, eine Gesellschaft, die von „gekrönten Kindern“ oder „jenen, die einem kindlichen Status am nächsten kommen: Seher, Heilige, Propheten, Wundergläubige, Gerechte, die schon vor der Geburt mit der Welt der Seele in Kontakt waren“ (S. 168), regiert wird.
Dann widmet Dugin ein Kapitel dem Matriarchat (S. 170–174) und lobt „die Verehrung des höheren Prinzips als weiblich“ (S. 171). „Der Verlust des Matriarchats stellte eine Katastrophe in der Welt der Tradition dar“ (S. 171). „Der hinduistische Tantrismus, der Mythos der gnostischen Sophia und die kabbalistische Idee der Schekina, der weiblichen Götterpräsenz, sind Motive, die auf die frühesten Perioden des arischen Matriarchats zurückgehen“ (S. 172). „Deshalb […] ist die Wiederherstellung des hyperboreischen nördlichen Matriarchats, der tantrische Triumph der Shakti, die Verkündigung der großen Formel der Hindu-Initianten ‚Ich bin sie‘ (identisch mit der Aussage ‚Ich bin die Sonne‘), unsere heilige Sache, die Aufgabe unserer Revolution. Rußlands nationales, messianisches Unternehmen, die Sache des Sozialismus“ (S. 174).
Das Kapitel „Der Gnostiker“ (S. 181–185) ist ebenfalls sehr interessant. Dugin lobt den „Pfad der linken Hand“, der „zerstörerisch, schrecklich, das Reich des Zorns und der Gewalt“ sei (S. 183). „Ketten von Eingeweihten“ beschreiten ihn und wissen, daß er zum „Triumph der totalen Befreiung“ führen wird (S. 183). „Der Pfad der linken Hand wird Gnosis, Wissen, genannt“ (S. 183). Ihm folgen die „Roten“ und die „Schwarzen“ (im Nationalbolschewismus vereint), es ist der Weg des Gnostikers, der „allen Grund hat, innerlich zu triumphieren“ (S. 185).
Über das Androgyne, das Weibliche, das Chaos, den Pfad der linken Hand bei Dugin habe ich bereits früher geschrieben.
Im weiteren Verlauf preist Dugin die Templer als „Träger“ von „esoterischem Wissen“ (S. 193). Dann widmet er ein Kapitel dem „Pentagramm“ (S. 199–208), d. h. dem fünfzackigen Stern, der „in der Tradition“ die „Engelsarmee“ anzeigt (S. 200). Dugin geht auf den „Morgenstern“ ein, der auch „Venus“ oder „Luzifer“ genannt wird… Ein solcher Stern ist ein Symbol des „gefallenen Engels“, der „Göttin der Liebe und der Erotik“, aber auch von Christus (vgl. S. 202f).
Dugin weiß, daß der fünfzackige Stern, ein wichtiges Symbol der Freimaurerei, der Rosenkreuzer und des Okkultismus, zu einem Symbol des Bolschewismus geworden ist. Dugin weiß, daß der revolutionäre Humanismus initiatische, gnostische Wurzeln hat (vgl. S. 207f). „Der rote Stern leuchtet über dem Kreml, dem Zentrum des Dritten Roms, der Dritten Internationale. Er ist das Bild für das Zentrum der Welt, für den Pol“ (S. 208). Weiter spricht Dugin von der „Lehre des Sterns“, d. h. von der Überwindung des Dualismus (vgl. S. 221f). „Das Hohe und das Niedrige tauschen ihre Plätze, die unmögliche und undenkbare Vermählung von Himmel und Hölle, die der geniale William Blake geahnt hatte, wird verwirklicht. Es ist die sogenannte ‚Lehre vom Stern‘ “ (S. 222), die auch die Lehre von Aleister Crowleys Ordo Templi Orientis ist (vgl. S. 222).
Weiter schreibt Dugin: „Es ist nun an der Zeit zu fragen: Was ist der Unterschied zwischen der Einweihung und dem gewöhnlichen religiösen Dogma?“ (S. 236). Dugin antwortet: „Die Religion ist geistig analog zur Newtonschen Welt: Alle Aussagen sind der Wahrheit auffallend ähnlich, unendlich nahe an ihr, aber doch etwas anders. […] Die Initiation folgt einem radikal anderen Weg. Es ist ein Unterschied von größter Bedeutung. Die Suche nach dem Absoluten schließt den Kompromiß aus. Wir müssen in die Hölle hinabsteigen, uns ins Chaos stürzen“ (S. 236). Dann schreibt Dugin: „Nur durch diese traumatische Erfahrung ist es möglich, radikal und unwiderruflich auf der anderen Seite der Materie aufzutauchen. Hier ist das große Ideal der Befreiung. Der Weg ist extrem gefährlich, aber unvermeidlich“ (S. 236f). „Das Wissen um das Böse ist im Grunde genommen nicht böse. Wäre es nicht da, gäbe es auch keine Erlösung. Felix culpa [glückliche Schuld]. Eva hat das Richtige getan. Eva ist Leben. […]. Der Kreationismus, das Rationale sind hoffnungslos. Ihre Exaktheit ist widerwärtig“ (S. 237).
Die Farbe „Rot-Braun“ weist nicht nur auf das Bündnis zwischen Nationalsozialisten und Bolschewisten hin, sondern auch auf den „Hindu-Gott Shiva“, dessen Persönlichkeit dem „rot-braunen“ Element nahe steht… Shiva ist der Beschützer des Tantrismus (vgl. S. 262f).
Weiters zeigt Dugin eine gnostische Auffassung des christlichen Lebens, wenn er die Zehn Gebote für einen Christen als überholt betrachtet (vgl. S. 350f): „Die Menschheit des Neuen Testaments unterscheidet sich grundlegend von der alten, jüdischen (oder heidnischen) Menschheit. Sie steht unter dem Zeichen der transzendenten Liebe; deshalb machen die Dichotomien des Gesetzes – anbeten oder nicht anbeten, einer oder viele, stehlen oder nicht stehlen, verführen oder nicht verführen, töten oder nicht töten – letztlich keinen Sinn mehr. […]. Auf jeden Fall hat die volle christliche Existenz nichts mit den Zehn Geboten des Alten Testaments zu tun, die durch die heilige Taufe ein für allemal aufgehoben sind. Es gibt nur die Verwirklichung der Gnade“ (S. 350).
Weiter heißt es bei Dugin: „Je heiliger ein Mensch ist, desto elender, sündiger, böser erscheint er vor dem Antlitz der strahlenden Dreifaltigkeit. […]. Die Einhaltung der Zehn Gebote hat für den orthodoxen Christen keine entscheidende Bedeutung. […]. Wenn die Liebe fehlt, führen die Zehn Gebote in die Hölle. Wenn die Liebe da ist, dann haben sie keine Bedeutung. All dies wurde von den radikalen russischen Intellektuellen klar verstanden“ (S. 351).
Dann widmet Dugin ein Kapitel dem russischen Schriftsteller Pimen Karpow (1886–1963) und seinem gnostischen Roman „Flamme“, der 1913 veröffentlicht und 1924 und dann wieder 1991 neu aufgelegt wurde. Dugin schreibt: „Der Punkt ist, daß Pimen Karpow in seinem Roman eine einzigartige esoterische Botschaft verschlüsselt hat, einen grandiosen gnostischen Mythos […]. Er hat die Geheimnisse der tiefen russischen Heiligkeit entschlüsselt und die geheimen nationalen Lehren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht […]“ (S. 359).
Der Roman spricht von: „Finsternis, blutigen Verbrechen, bösartigem Sadomasochismus, Perversionen, Todesfällen, Fäulnis, schwarzen Messen, Sakrilegien, Blasphemie […], Selbstmord von Müttern, Gruppenvergewaltigungen, Folter“ (S. 359). Dugin stellt fest, daß „die blutigen und obszönen Beschreibungen den einzigen Zweck haben, bestimmte gnostische Konzepte zu illustrieren, die das Rückgrat des Werkes bilden“ (S. 360).
Dugin macht deutlich, daß in den Hauptfiguren in Karpows „Flamme“ gnostische Konzepte erkennbar werden, wie zum Beispiel: die Notwendigkeit des Bösen, das Böse als Weg zum Guten und die Transzendenz, der Abstieg in die Hölle, der notwendig ist, um zum Himmel aufzusteigen (vgl. S. 360–364). Dies ist die „gnostische Tradition, der Pfad der linken Hand (wie ihn der Hinduismus nennt)“ (S. 361). Laut Dugin erinnert die Figur Gideonow in „Flamme“, Anführer einer Sekte von Satanisten, an Aleister Crowley und Julius Evola (vgl. S. 364).
In dem Roman „Flamme“ (1913) sagt der Satanist Wjatscheslaw: „Laßt uns alle dem Dunklen dienen… Gemeinsam werden wir die Welt erobern… Nur durch den russischen Gott, den Dunklen… Er hat nicht seinesgleichen! Bald wird die Welt an ihn glauben! Der Planet wird unser sein!“ (zitiert nach Dugin, S. 368). Wjatscheslaw sagt auch: „Nachdem wir Europa erobert haben, ist nun Amerika an der Reihe. Und warum? Weil Europa sich vor dem Dunklen verbeugt hat. […] Und der Osten gehört schon lange uns… Dort sind der Drache und Mohammed die Essenz der Hypostase des Dunklen…“ (zitiert von Dugin, S. 369). Hier ist Dugins positiver Kommentar dazu: „Der Dunkle, Gott des Blutes und des Lebens, vereint die extreme Rechte und die extreme Linke in einer Einheitsfront gegen die eisige liberale Zivilisation. Die deutschen revolutionären Konservativen der 1920er und 1930er Jahre und die russischen Eurasier waren zu demselben Schluß gekommen“ (S. 369).
Am Ende des Romans wird zwar nicht die ersehnte „nationalbolschewistische Synthese“ oder „die Hochzeit von Rot und Braun“ (S. 371) verwirklicht, aber, wie Dugin schreibt: „Das ‚unterirdische Amerika‘, die Bastion der nichtrussischen, antirussischen, antignostischen Obskurität, wurde erobert“ (S. 371).
Mit dem Wjatscheslaw der „Flamme“ ruft Dugin: a) zu einer „globalen Verschwörung gegen die Kälte“ (S. 372) auf, d. h. gegen die liberale, westliche, amerikanische Zivilisation (vgl. S. 373); b) argumentiert für die Notwendigkeit des „Pfades der linken Hand, des ‚Weges des Blutes‘“, um sich mit dem Absoluten zu vereinen (vgl. S. 372). Dugin weiß, daß dieser „Weg des Blutes“ („Kreuzigung von Frauen, kollektive Orgien russischer Tantra-Adepten, Erlösungsopfer junger Menschen auf dem dunklen ‚satanischen‘ Altar“ usw.) „die von Pimen Karpow beschriebene Geheimdoktrin“ darstellt und „sehr gefährlich“ ist (vgl. S. 371–373).
Dugin schreibt: „Rußland ist ein außergewöhnliches Land, und die Geschöpfe, die es bewohnen […], sind von metaphysischer Bedeutung, den ‚Tiefen des Abgrunds‘, umgeben. ‚Das ist fesselnd, es gibt Hoffnung, es ist erschreckend… Karpows Ideen sind an uns gerichtet und sind (soweit möglich) auch heute noch relevant: ‚Wir alle, Brüder der Finsternis, haben unser eigenes Licht – dunkel, unsichtbar, unwissenschaftlich – ultraviolett… Das ist es, was wir auf unserem gemeinsamen Planeten und auf eurem errichten werden… Aber um von Russen regiert zu werden…‘. Blut gegen Kälte. Rußland tanzt, engelsgleich und wahnsinnig, gegen das ‚unterirdische Amerika‘. Es ist ein ohrenbetäubender nostalgischer Schrei nach Tradition, gegen die stille Degeneration der gefrorenen Toten. Die Weltrevolution ist unvermeidlich. Es ist unmöglich, dem Jüngsten Gericht und der Gemeinschaft des Feuers zu entkommen“ (S. 373).
Im letzten Kapitel seines Buches bespricht Dugin den Roman „Das fahle Pferd“ von Boris Sawinkow (1879–1925), einem russischen Revolutionär (Terroristen, Attentäter) und Politiker.3 Dugin hält ihn für „einen brillanten Text“ (S. 376): „Er ist ein Testament. Es ist Literatur. Es ist eine Anleitung zum Handeln“ (S. 376). Dugin schreibt: „Sawinkow wird eindeutig von einem apokalyptischen Motiv beherrscht. ‚Ich werde dir den Morgenstern geben‘: Dieser Ausdruck taucht mehrfach und hypnotisch im Tagebuch eines Terroristen auf. Der ‚Morgenstern‘ steht für Luzifer, den Tag. Ein gefallener, aber unversehrter Engel, Gottes erste Schöpfung, der zeitlose Archetyp des wahren Revolutionärs“ (S. 376). In der Fußnote 15 schreibt dann der Herausgeber der italienischen Ausgabe von Dugins Buch, Andrea Scarabelli, über Luzifer: „Zu dieser Figur, die metaphysisch und symbolisch dem jüdisch-christlichen Teufel und Satan gegenübersteht, vgl. Otto Rahn: Luzifers Hofgesind“ (S. 376). Scarabelli scheint also die esoterische und gnostische Unterscheidung zwischen Luzifer und Satan zu akzeptieren… Dugin ist auch mit dem Buch des SS-Gnostikers Otto Rahn (veröffentlicht 1937) vertraut, in dem Luzifer gepriesen und zum Lichtbringer umgedeutet wird (vgl. S. 369).
Dugin fährt bezüglich Morgenstern/Luzifer fort: „ ‚Der Morgenstern‘ ist ein zweideutiges Versprechen, ein Symbol für eine Wahl und einen Fluch, das die trockene Vorstellungskraft eines Menschen heimsucht, der den Tod zu seinem Beruf, seiner Berufung, seinem Schicksal gemacht hat. Der ‚Morgenstern‘ ist die Belohnung für den rücksichtslosen Kastellan, für den Träger des Geheimnisses der absoluten Rache, der sowohl das Gute als auch das Böse schlagen muß“ (S. 376).
Dugin scheint Sawinkows Lob des Terrorismus und des Mordes in seinem Roman tatsächlich zu teilen: Das Töten wird sogar zu einem Akt des Glaubens an Gott, an Christus, zu einer Tat im Namen des russischen Volkes (vgl. S. 376)… Dann schreibt Dugin: „Der Russe tötet anders. Er hat die tiefe Schicht der nationalen orthodoxen Metaphysik hinter sich, das ganze tragische Drama der Apokalypse […]. Der russische Terrorist ist das Opfer. Er vollbringt einen magischen Akt, der nicht nur die Gesellschaft, das Volk, die Klasse, sondern die gesamte Realität retten soll“ (S. 377).
Dugin stellt fest, daß Boris Sawinkow „sich zum Faschismus, zu Mussolini hingezogen fühlt; im bolschewistischen Rußland findet er sich in der Nähe der Kommunisten wieder. Diese politischen Veränderungen machen ihn organisch zu einem Nationalbolschewisten. Er steht jenseits der Parteidoktrinen. Ein Held, der sich einer metaphysischen Idee verschrieben hat. Ein Heldentod. Ein kalter Mörder mit der Seele eines Lammes“ (S. 378).
Gegen Ende seines Buches schreibt Dugin: „Wir lesen Boris Sawinkows Fahles Pferd. Wir atmen die Beschreibung seines Lebens, seiner Erotik, seines Kampfes. Wir wollen den Morgenstern so sehr – wir wollen ihn leidenschaftlich“ (S. 379).
Dieser „Morgenstern“, nach dem sich auch Dugin so sehr sehnt, ist Luzifer, derselbe Luzifer des Nationalsozialisten Otto Rahn…
Es folgt das „Nachwort. Die okkulte Sonne der leuchtenden Stadt“ von Andrea Scarabelli (S. 381–413), der die wichtigsten Elemente von Dugins Denken und insbesondere seines Buches „Die Templer des Proletariats“ zusammenfaßt:
- „aktiver Nihilismus“ (S. 385);
- der „Pfad der linken Hand“ oder „Tantra“ als „Metaphysik des Nationalbolschewismus“ (vgl. S. 393–396), derselbe „Pfad“, dem auch der neonazistische Philosoph Miguel Serrano anhängt (vgl. S. 396);
- Dugins „Templer“ sind also Anhänger des Weges der Linken, der Nationalbolschewiken (vgl. S. 400–403);
- das radikale Subjekt als Inkarnation und Erfüllung der „Templer des Proletariats“ und damit als absoluter Protagonist des Pfades der linken Hand (vgl. S. 406–413). Über Dugins Radikales Subjekt habe ich bereits an anderer Stelle geschrieben.
Scarabelli zufolge „kann man in dem Pfad der linken Hand der Templer des Proletariats die Grundlage der Vierten Politischen Theorie sehen“ (S. 402, Fußnote 56), in der das Herzstück von Dugins Denken zusammengefaßt ist.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen, daß das bisher skizzierte Denken von Alexander Dugin gnostisch und esoterisch ist und seine Theorien eine ideologische, wahnwitzige und teuflische Rechtfertigung für Krieg, Terrorismus und die totale und apokalyptische Verwüstung darstellen, kurz gesagt, für alles, was der Pfad der linken Hand und die Romane von Pimen Karpow und Boris Sawinkow vorsehen.
Ich habe bereits an anderer Stelle über eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Pfad der linken Hand und der Gnosis im Denken des heterodoxen Kabbalisten Jakob Frank und in der Freimaurerei geschrieben. Wie werden die gnostischen Thesen von Dugin in der russischen Freimaurerei beurteilt? Die Großloge von Rußland und die Großloge der Ukraine gehören beide der regulären Freimaurerei an, sind also von der Vereinigten Großloge von England anerkannt und stehen in brüderlichem Verhältnis zueinander, da sie im April 2022 jeweils eine Delegation zur Großloge des Großorientes von Italien entsandt haben.
Weder Russen, orthodoxe Christen, noch römische Katholiken sollten sich auf die nihilistischen, gnostischen und subversiven Ideen von Alexander Dugin einlassen. Statt des von Dugin angestrebten Pfades der linken Hand sollten wir hoffnungsvoll auf die Worte hören, die die Gottesmutter am 13. Juli 1917, am Ende des dritten Teils des „Geheimnisses“, zu den drei Hirtenkindern von Fatima sagte: „Am Ende aber wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren. Der Heilige Vater wird mir Rußland weihen, das sich bekehren wird, und der Welt wird eine Zeit des Friedens geschenkt werden.“
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Durch seine Veröffentlichungen bringt er den Nachweis, daß die Freimaurerei von Anfang an bis heute esoterische und gnostische Elemente enthielt, die ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen Glaubenslehre begründen.
Übersetzung/Fußnoten: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
1 Paolo M. Siano: La metafisica del Caos di Aleksandr Dugin, Edizioni Fiducia, 2022.
2 Sohn des Gründers der rechtsradikalen Organisation Ordine Nuovo (1969–1973), die 1973 wegen versuchter Wiedergründung der Faschistischen Partei verboten wurde. Clemente Graziani flüchtete ins Ausland, um der Verhaftung zu entgehen. Ein Teil der Organisation ging in den Untergrund und verübte Terroranschläge, bis sie 1977 von der Polizei zerschlagen werden konnte.
3 Sawinkow war ein Sozialrevolutionär, der im Zarenreich an der Ermordung des deutschstämmigen russischen Innenministers und vormaligen Außenministers Wjatscheslaw von Plehwe und von Großfürst Alexander Romanow-Holstein-Gottrop, dem Onkel des regierenden Zaren, beteiligt war. Nach der Oktoberrevolution kämpfte er gegen die Bolschewisten und wurde dabei vom britischen Geheimdienst unterstützt. 1924 wurde Sawinkow in der Sowjetunion verhaftet und stürzte im Jahr darauf, ob freiwillig oder gestoßen, aus dem fünften Stock des Moskauer Geheimdienstgefängnisses.
Dugin 1995, Gedenken an den Satanisten Aleister Crowley.
11:19: Eduard Limonov, Mitbegründer der NAZBOL-Partei mit Dugin, spricht von „Luzifer, Satan“
15:05: Sich drehende Kruzifixe
22:30: Dugin lobt Satan, aus Texten von Crowley
https://youtu.be/X26mgR3wQx0?t=1
Dugin: „Die Tradition der Kabbala ist die größte Errungenschaft des menschlichen Geistes.“
https://x.com/2022moshiachnow/status/1561822508785061890