Hegemonie vor Sozialismus – wie es zur Allianz von politischer Linken und liberaler Hochfinanz kam

Der modifizierte Gramscismus


Die Kommunisten mußten Gramscis Thesen zur Machtergreifung modifizieren, wie der Christdemokrat, Philosoph und ehemalige italienische Europaminister Rocco Buttiglione bereits 1975 analysierte.
Die Kommunisten mußten Gramscis Thesen zur Machtergreifung modifizieren, wie der Christdemokrat, Philosoph und ehemalige italienische Europaminister Rocco Buttiglione bereits 1975 analysierte.

Vie­le Men­schen stau­nen und wol­len es noch immer nicht wahr­ha­ben, daß sich vor ihren Augen und den­noch unbe­merkt nach dem Zusam­men­bruch schnell und flie­ßend eine Alli­anz aus libe­ra­ler Hoch­fi­nanz und poli­ti­scher Lin­ken bil­den konn­te, wo doch die­se bei­den Kräf­te wäh­rend des Kal­ten Krie­ges erbit­ter­te Geg­ner waren. Die­se Alli­anz, die nach der Auf­lö­sung der Sowjet­uni­on 1991 ent­stand und heu­te eine domi­nan­te Rol­le in der EU und in ver­schie­de­nen west­li­chen Staa­ten spielt, hat­te eine Vor­ge­schich­te, die wei­ter zurück­reicht. Erst durch den Zusam­men­bruch des Ost­blocks und das Weg­fal­len des bis dahin vor­herr­schen­den Ant­ago­nis­mus konn­te sie sich jedoch unter neu­en Vor­zei­chen und Namen voll­stän­dig und dafür umso schnel­ler entfalten.

Anzei­ge

Bei einer Tagung, die 1975 von der neu­en Gemein­schaft Comu­nio­ne e Libe­ra­zio­ne (CL) in Rimi­ni ver­an­stal­tet wur­de, erklär­te der Christ­de­mo­krat und spä­te­re ita­lie­ni­sche Euro­pa­mi­ni­ster Roc­co But­tig­li­o­ne, wie sich die Prä­mis­sen zu die­ser Alli­anz im Anfangs­sta­di­um befan­den.1 But­tig­li­o­ne wur­de 2004, fast 30 Jah­re nach sei­nem Vor­trag, als EU-Kom­mis­sar für Justiz, Frei­heit und Sicher­heit, nomi­niert von der Regie­rung Ber­lus­co­ni, von eben die­ser Alli­anz im EU-Par­la­ment ver­hin­dert. Wegen sei­ner christ­li­chen Posi­ti­on zu Homo­se­xua­li­tät und Abtrei­bung erklär­te ihn die Mehr­heit aus Lin­ken und Libe­ra­len für „untrag­bar“. Die­se Alli­anz sta­tu­ier­te ein Exem­pel an ihm, um ihre gewon­ne­ne Macht zu demonstrieren.

So klar­sich­tig But­tig­li­o­ne in der früh­zei­ti­gen Ana­ly­se die­ser Alli­anz war, so deut­lich tre­ten in sei­nen Aus­füh­run­gen Defi­zi­te auf, wenn er die katho­li­sche Gemein­schaft und ihren Ein­satz im öffent­li­chen Leben ana­ly­siert. In die­sem Zusam­men­hang war er ganz ein Kind sei­ner Zeit, die vom „mün­di­gen Katho­li­ken“ geprägt war und der Über­zeu­gung, es brau­che struk­tu­rel­le Kir­chen­re­for­men, um sich dem eman­zi­pa­to­ri­schen Geg­ner wider­set­zen zu können.

Im macht­po­li­ti­schen Dua­lis­mus der Nach­kriegs­zeit fand eine fata­le Hin­nei­gung der Katho­li­ken zur einen oder ande­ren Sei­te, zum Kom­mu­nis­mus oder dem libe­ra­len rela­ti­vi­sti­schen Kapi­ta­lis­mus, statt, was die Ent­fal­tung und Wirk­mäch­tig­keit eines drit­ten, katho­li­schen Weges hemm­te. Im Gegen­satz dazu zeig­ten sich die poli­ti­sche Lin­ke und die libe­ra­le Hoch­fi­nanz nach dem Zusam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus viel fle­xi­bler, um schnell auf neu­er Grund­la­ge eine uner­war­te­te Alli­anz zu schmie­den, deren Radi­ka­lis­mus uns heu­te zu ersticken droht.

But­tig­li­o­nes selbst erwies sich damit als Aus­druck die­ses katho­li­schen Versagens.

Sei­ne The­se von 1975, um die es hier geht, läßt sich wie folgt zusam­men­fas­sen: Weil die Kom­mu­ni­sti­sche Par­tei Ita­li­ens (PCI), die stärk­ste kom­mu­ni­sti­sche Par­tei im Westen, die Hege­mo­nie dem Sozia­lis­mus vor­zog, ver­bün­de­te sie sich mit den Finanz­bos­sen. Sie folg­te dar­in ganz ihrem Vor­den­ker, dem Berufs­re­vo­lu­tio­när Anto­nio Gram­sci, einem ihrer Grün­der, der von 1924 bis 1927, was meist unter­schla­gen wird, auch ihr Vor­sit­zen­der war. Aller­dings muß­te Gram­scis Leh­re von der kul­tu­rel­len Hege­mo­nie, die zur poli­ti­schen Macht­über­nah­me füh­ren wür­de, wenn auch wider­wil­lig, um ein Ele­ment erwei­tert werden.

Gram­scis „Phi­lo­so­phie“, so But­tig­li­o­ne damals, kon­zen­triert sich mehr auf die Macht­über­nah­me als auf die Inter­es­sen des von ihr im Mund geführ­ten Pro­le­ta­ri­ats. Dar­aus müs­se sich, so der Christ­de­mo­krat, gera­de­zu zwangs­läu­fig ein „Kon­do­mi­ni­um zwi­schen dem PCI und dem fort­schritt­li­chen Kapi­ta­lis­mus“ ergeben.

But­tig­li­o­ne arbei­te­te her­aus, wie die Kom­mu­ni­sti­sche Par­tei ihren Kurs nach dem Ansatz Gram­scis aus­rich­te­te, wonach das Ver­hält­nis zwi­schen Struk­tur und Über­struk­tur umge­sto­ßen wird und „das Pro­le­ta­ri­at“ nicht mehr auf die sozia­li­sti­sche Revo­lu­ti­on abzielt, son­dern auf die Erobe­rung der Zivil­ge­sell­schaft durch die Par­tei, die zu ihrer hege­mo­nia­len Kraft und orga­ni­schen Intel­lek­tu­el­len wird.

„Die Par­tei übt gegen­über der Arbei­ter­klas­se, nicht weni­ger als gegen­über ande­ren sozia­len Klas­sen, eine Ver­mitt­ler­funk­ti­on aus, die ihr Klas­sen­in­ter­es­se in ein Gesamt­pro­jekt der Umge­stal­tung der Gesell­schaft ein­ord­net, das sowohl die objek­ti­ven Mög­lich­kei­ten als auch die not­wen­di­gen Klas­sen­bünd­nis­se berücksichtigt.“

Die­ser histo­ri­schen Trans­for­ma­ti­on „muß auch das Klas­sen­in­ter­es­se des Pro­le­ta­ri­ats unter­ge­ord­net werden“.

„Das erklärt, war­um die ent­schei­den­den Kämp­fe des PCI vor allem Kämp­fe um die Hege­mo­nie und nicht um den Sozia­lis­mus sind. Der Kampf um die Ehe­schei­dung zum Bei­spiel ist ein typi­scher Kampf, der ins­be­son­de­re des­halb geführt wur­de, um sei­ne hege­mo­nia­le Fähig­keit und das Ende der kirch­li­chen Hege­mo­nie zu demon­strie­ren. Die­se Stra­te­gie macht sich für den PCI bezahlt. Aber sie birgt die stän­di­ge Gefahr, daß sie der Anlaß für die Eta­blie­rung einer poli­ti­schen Kraft in unse­rem Land ist, die den lau­fen­den Trans­for­ma­ti­ons­pro­zeß hin zu einem voll­stän­di­gen Neo­ka­pi­ta­lis­mus umleitet.“

Die Aufgabe, die kirchliche Hegemonie in Frage zu stellen

Die genann­te Gefahr, daß nicht sie am Ende die Nutz­nie­ßer ihrer Kämp­fe gegen die natür­li­che Ord­nung sein könn­ten, war den Kom­mu­ni­sten genau bewußt.

„Die Kämp­fe um die Hege­mo­nie füh­ren dazu, daß sich der PCI, wenn auch wider­wil­lig, mit den Kräf­ten ver­bün­det, die offen die Ratio­na­li­sie­rung des Kapi­ta­lis­mus unter­stüt­zen. Und die­se kapi­ta­li­sti­sche Ratio­na­li­sie­rung ist für Katho­li­ken der tota­len Herr­schaft des PCI kei­nes­wegs vor­zu­zie­hen. Wenn hier der Kom­mu­nis­mus besiegt wird, dann im Namen einer noch radi­ka­le­ren Form der Reli­gi­ons­lo­sig­keit. In die­sem Zusam­men­hang spal­tet sich der Mar­xis­mus in zwei Aspek­te: Einer­seits hat er, redu­ziert auf blo­ße Ideo­lo­gie, die Auf­ga­be, die Hege­mo­nie der Kir­che anzu­fech­ten, indem er sie an ihrem emp­find­lich­sten Punkt, der Ein­heit der Katho­li­ken, trifft; ande­rer­seits wird er als wirk­sa­mes Instru­ment der poli­ti­schen Pla­nung durch den Gram­scis­mus ersetzt oder von die­sem zumin­dest wesent­lich absorbiert.

Wenn wir sagen, daß die Ein­heit der Katho­li­ken den emp­find­lich­sten Punkt der kirch­li­chen Hege­mo­nie über das Volks­be­wußt­sein in unse­rem Lan­de dar­stellt, so wol­len wir damit kei­nes­wegs bevor­zugt auf die Erfah­rung der katho­li­schen Par­tei und die Ein­heit ver­wei­sen, die den in ihren Rei­hen poli­tisch enga­gier­ten Katho­li­ken in dis­zi­pli­na­ri­scher Form auf­ge­zwun­gen wird. Es ver­steht sich von selbst, daß es nicht die Auf­ga­be der Hier­ar­chie ist, die Katho­li­ken auf eine poli­ti­sche Linie ein­zu­schwö­ren, und daß die poli­ti­schen Optio­nen das Gewis­sen und die poli­ti­sche Ver­ant­wor­tung jedes Ein­zel­nen for­dern. Wir möch­ten viel­mehr beto­nen, daß dort, wo die Kir­che leben­dig ist, auch eine stän­di­ge Span­nung in Rich­tung auf die Ein­heit des Urteils besteht und daß die Aner­ken­nung und der Dia­log unter den Katho­li­ken als ein vor­ran­gi­ges Moment erlebt wird, des­sen Aus­wir­kun­gen auch poli­tisch sind. Es geht uns also nicht um die Mög­lich­keit, alle Katho­li­ken in der Demo­cra­zia Cri­stia­na (DC) zu hal­ten, viel­mehr besorgt uns die Ent­ste­hung einer syste­ma­ti­schen Ver­wei­ge­rung zur Begeg­nung und dem Dia­log zwi­schen Katholiken.

Dies ist nicht nur eine Ver­wei­ge­rung gegen­über einer metho­disch falsch erzwun­ge­nen Ein­heit, die der Leben­dig­keit der katho­li­schen Bewe­gung in die­ser Nach­kriegs­zeit so viel Scha­den zuge­fügt hat, son­dern auch eine Ableh­nung der metho­di­schen Bedeu­tung der Aus­ein­an­der­set­zung und der Ein­heit unter den Katho­li­ken, auch inso­fern, als sie für jede Glau­bens­er­fah­rung lebens­wich­tig und wesent­lich ist.“

Die Strategie zur Eroberung der Zivilgesellschaft

Ohne eine sol­che Stra­te­gie sei das poli­ti­sche Schick­sal Ita­li­ens besie­gelt. Da Gram­scis The­sen zur Erobe­rung der Macht an ihre Gren­zen sto­ßen, wer­de man ver­su­chen, sie um ein neu­es Ele­ment zu erweitern.

„Das Pro­jekt zur Erobe­rung der Zivil­ge­sell­schaft, das, wie wir gese­hen haben, dem PCI eigen ist und die eine spe­zi­fi­sche, der ita­lie­ni­schen Situa­ti­on ange­paß­te Stra­te­gie dar­stellt, zielt dar­auf ab, die Macht durch die Selbst­auf­lö­sung ihrer histo­ri­schen Geg­ner zu erlan­gen. Der Geg­ner, der dar­auf abzielt, Iden­ti­täts­er­fah­run­gen des Vol­kes durch ein ande­res glo­ba­les kul­tu­rel­les Pro­jekt zu kon­sti­tu­ie­ren, wird besiegt, indem der radi­ka­le Cha­rak­ter sei­nes Ver­suchs offen­ge­legt wird. Der bür­ger­li­che Geg­ner, der sei­nen Ver­such aber nicht auf einen ideel­len Anspruch auf Zusam­men­halt, son­dern ein­fach auf die Beset­zung der öko­no­mi­schen Macht stützt, kann hin­ge­gen mit einer sol­chen Tak­tik nicht geschla­gen wer­den: Man muß mit ihm einen Kom­pro­miß ein­ge­hen. Die­ses Ele­ment zeigt die Gren­zen in Gram­scis Ansatz auf, die sich aus den idea­li­sti­schen Vor­aus­set­zun­gen erge­ben, von denen er ausgeht.

Wäh­rend er also die Bedin­gun­gen der Selbst­auf­lö­sung der kul­tu­rel­len Kräf­te, die die kom­mu­ni­sti­sche Hege­mo­nie her­aus­for­dern könn­ten, sehr genau erkennt, bleibt er gegen­über einer Kraft unzu­läng­lich, deren Wur­zeln nicht kul­tu­rell, son­dern ein­fach fak­tisch sind. Dar­aus folgt, daß die Art der Macht­er­grei­fung des PCI die eines Kon­do­mi­ni­ums zwi­schen der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei und dem fort­ge­schrit­te­nen Kapi­ta­lis­mus sein dürf­te. In der Tat fragt sich die wirt­schaft­lich domi­nan­te Klas­se heu­te, ob als Ver­wal­ter der poli­ti­schen Macht letzt­lich nicht der PCI mehr Ver­trau­en ver­dient als die DC.“

Katholischer Widerstand

Dage­gen stell­te But­tig­li­o­ne den Vor­schlag der Katho­li­schen Bewe­gung:

„Wir sagen, daß die christ­li­che Gemein­schaft inner­halb der bestehen­den Gesell­schaft bereits dort, wo sie in der Gesamt­heit ihrer Dimen­sio­nen gelebt wird, eine Über­gangs­struk­tur und ein Fet­zen, oder bes­ser gesagt, ein Vor­griff auf die­se neue Gesell­schaft ist. Wir glau­ben, daß es den Katho­li­ken durch die metho­di­sche Ent­fal­tung des Wer­tes die­ser Erfah­rung in einer Ein­heit von Theo­rie und Pra­xis mög­lich ist, Trans­for­ma­ti­ons­vor­schlä­ge zu machen, die in der Lage sind, den Kon­sens brei­ter Volks­schich­ten zu errei­chen. Die spon­ta­ne Ideo­lo­gie der Volks­mas­sen, die Wer­te, nach denen die Men­schen, die Pro­le­ta­ri­er, die Bau­ern und die ande­ren Arbei­ter unse­res Lan­des, das Leben, ihre Kul­tur unmit­tel­bar beur­tei­len, sind noch tief vom christ­li­chen Gedächt­nis durchdrungen.

Dazu ist es in erster Linie not­wen­dig, daß die christ­li­che Gemein­schaft Gegen­stand der Betei­li­gung des Vol­kes ist, denn nur aus einer sol­chen Betei­li­gung des Vol­kes erwächst die Fähig­keit, die tra­di­tio­nel­le Tren­nung von Theo­rie und Pra­xis zu über­win­den. Die erste Bedin­gung ist also eine ech­te und tief­grei­fen­de Reform der Kirche.“

Buttigliones Schlußfolgerung

„Das Exi­stenz­recht der Kir­che als eine Gemein­schaft zu ver­tei­di­gen, die bis zur Mate­ria­li­tät der Exi­stenz reicht, bedeu­tet heu­te, die Mög­lich­keit einer wirk­sa­men Frei­heit für jeden zu ver­tei­di­gen, der in die­ser gespal­te­nen und auto­ri­tä­ren Gesell­schaft Lebens­for­men ver­su­chen will, die die Spal­tung bekämp­fen und eine Alter­na­ti­ve vorbereiten.“

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: MiL


Roc­co But­tig­li­o­nes Refe­rat hieß: „Per una scuo­la libe­ra popola­re e demo­cra­ti­ca“ (Für eine freie, volks­be­zo­ge­ne und demo­kra­ti­sche Schule).

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