
Viele Menschen staunen und wollen es noch immer nicht wahrhaben, daß sich vor ihren Augen und dennoch unbemerkt nach dem Zusammenbruch schnell und fließend eine Allianz aus liberaler Hochfinanz und politischer Linken bilden konnte, wo doch diese beiden Kräfte während des Kalten Krieges erbitterte Gegner waren. Diese Allianz, die nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 entstand und heute eine dominante Rolle in der EU und in verschiedenen westlichen Staaten spielt, hatte eine Vorgeschichte, die weiter zurückreicht. Erst durch den Zusammenbruch des Ostblocks und das Wegfallen des bis dahin vorherrschenden Antagonismus konnte sie sich jedoch unter neuen Vorzeichen und Namen vollständig und dafür umso schneller entfalten.
Bei einer Tagung, die 1975 von der neuen Gemeinschaft Comunione e Liberazione (CL) in Rimini veranstaltet wurde, erklärte der Christdemokrat und spätere italienische Europaminister Rocco Buttiglione, wie sich die Prämissen zu dieser Allianz im Anfangsstadium befanden.1 Buttiglione wurde 2004, fast 30 Jahre nach seinem Vortrag, als EU-Kommissar für Justiz, Freiheit und Sicherheit, nominiert von der Regierung Berlusconi, von eben dieser Allianz im EU-Parlament verhindert. Wegen seiner christlichen Position zu Homosexualität und Abtreibung erklärte ihn die Mehrheit aus Linken und Liberalen für „untragbar“. Diese Allianz statuierte ein Exempel an ihm, um ihre gewonnene Macht zu demonstrieren.
So klarsichtig Buttiglione in der frühzeitigen Analyse dieser Allianz war, so deutlich treten in seinen Ausführungen Defizite auf, wenn er die katholische Gemeinschaft und ihren Einsatz im öffentlichen Leben analysiert. In diesem Zusammenhang war er ganz ein Kind seiner Zeit, die vom „mündigen Katholiken“ geprägt war und der Überzeugung, es brauche strukturelle Kirchenreformen, um sich dem emanzipatorischen Gegner widersetzen zu können.
Im machtpolitischen Dualismus der Nachkriegszeit fand eine fatale Hinneigung der Katholiken zur einen oder anderen Seite, zum Kommunismus oder dem liberalen relativistischen Kapitalismus, statt, was die Entfaltung und Wirkmächtigkeit eines dritten, katholischen Weges hemmte. Im Gegensatz dazu zeigten sich die politische Linke und die liberale Hochfinanz nach dem Zusammenbruch des Kommunismus viel flexibler, um schnell auf neuer Grundlage eine unerwartete Allianz zu schmieden, deren Radikalismus uns heute zu ersticken droht.
Buttigliones selbst erwies sich damit als Ausdruck dieses katholischen Versagens.
Seine These von 1975, um die es hier geht, läßt sich wie folgt zusammenfassen: Weil die Kommunistische Partei Italiens (PCI), die stärkste kommunistische Partei im Westen, die Hegemonie dem Sozialismus vorzog, verbündete sie sich mit den Finanzbossen. Sie folgte darin ganz ihrem Vordenker, dem Berufsrevolutionär Antonio Gramsci, einem ihrer Gründer, der von 1924 bis 1927, was meist unterschlagen wird, auch ihr Vorsitzender war. Allerdings mußte Gramscis Lehre von der kulturellen Hegemonie, die zur politischen Machtübernahme führen würde, wenn auch widerwillig, um ein Element erweitert werden.
Gramscis „Philosophie“, so Buttiglione damals, konzentriert sich mehr auf die Machtübernahme als auf die Interessen des von ihr im Mund geführten Proletariats. Daraus müsse sich, so der Christdemokrat, geradezu zwangsläufig ein „Kondominium zwischen dem PCI und dem fortschrittlichen Kapitalismus“ ergeben.
Buttiglione arbeitete heraus, wie die Kommunistische Partei ihren Kurs nach dem Ansatz Gramscis ausrichtete, wonach das Verhältnis zwischen Struktur und Überstruktur umgestoßen wird und „das Proletariat“ nicht mehr auf die sozialistische Revolution abzielt, sondern auf die Eroberung der Zivilgesellschaft durch die Partei, die zu ihrer hegemonialen Kraft und organischen Intellektuellen wird.
„Die Partei übt gegenüber der Arbeiterklasse, nicht weniger als gegenüber anderen sozialen Klassen, eine Vermittlerfunktion aus, die ihr Klasseninteresse in ein Gesamtprojekt der Umgestaltung der Gesellschaft einordnet, das sowohl die objektiven Möglichkeiten als auch die notwendigen Klassenbündnisse berücksichtigt.“
Dieser historischen Transformation „muß auch das Klasseninteresse des Proletariats untergeordnet werden“.
„Das erklärt, warum die entscheidenden Kämpfe des PCI vor allem Kämpfe um die Hegemonie und nicht um den Sozialismus sind. Der Kampf um die Ehescheidung zum Beispiel ist ein typischer Kampf, der insbesondere deshalb geführt wurde, um seine hegemoniale Fähigkeit und das Ende der kirchlichen Hegemonie zu demonstrieren. Diese Strategie macht sich für den PCI bezahlt. Aber sie birgt die ständige Gefahr, daß sie der Anlaß für die Etablierung einer politischen Kraft in unserem Land ist, die den laufenden Transformationsprozeß hin zu einem vollständigen Neokapitalismus umleitet.“
Die Aufgabe, die kirchliche Hegemonie in Frage zu stellen
Die genannte Gefahr, daß nicht sie am Ende die Nutznießer ihrer Kämpfe gegen die natürliche Ordnung sein könnten, war den Kommunisten genau bewußt.
„Die Kämpfe um die Hegemonie führen dazu, daß sich der PCI, wenn auch widerwillig, mit den Kräften verbündet, die offen die Rationalisierung des Kapitalismus unterstützen. Und diese kapitalistische Rationalisierung ist für Katholiken der totalen Herrschaft des PCI keineswegs vorzuziehen. Wenn hier der Kommunismus besiegt wird, dann im Namen einer noch radikaleren Form der Religionslosigkeit. In diesem Zusammenhang spaltet sich der Marxismus in zwei Aspekte: Einerseits hat er, reduziert auf bloße Ideologie, die Aufgabe, die Hegemonie der Kirche anzufechten, indem er sie an ihrem empfindlichsten Punkt, der Einheit der Katholiken, trifft; andererseits wird er als wirksames Instrument der politischen Planung durch den Gramscismus ersetzt oder von diesem zumindest wesentlich absorbiert.
Wenn wir sagen, daß die Einheit der Katholiken den empfindlichsten Punkt der kirchlichen Hegemonie über das Volksbewußtsein in unserem Lande darstellt, so wollen wir damit keineswegs bevorzugt auf die Erfahrung der katholischen Partei und die Einheit verweisen, die den in ihren Reihen politisch engagierten Katholiken in disziplinarischer Form aufgezwungen wird. Es versteht sich von selbst, daß es nicht die Aufgabe der Hierarchie ist, die Katholiken auf eine politische Linie einzuschwören, und daß die politischen Optionen das Gewissen und die politische Verantwortung jedes Einzelnen fordern. Wir möchten vielmehr betonen, daß dort, wo die Kirche lebendig ist, auch eine ständige Spannung in Richtung auf die Einheit des Urteils besteht und daß die Anerkennung und der Dialog unter den Katholiken als ein vorrangiges Moment erlebt wird, dessen Auswirkungen auch politisch sind. Es geht uns also nicht um die Möglichkeit, alle Katholiken in der Democrazia Cristiana (DC) zu halten, vielmehr besorgt uns die Entstehung einer systematischen Verweigerung zur Begegnung und dem Dialog zwischen Katholiken.
Dies ist nicht nur eine Verweigerung gegenüber einer methodisch falsch erzwungenen Einheit, die der Lebendigkeit der katholischen Bewegung in dieser Nachkriegszeit so viel Schaden zugefügt hat, sondern auch eine Ablehnung der methodischen Bedeutung der Auseinandersetzung und der Einheit unter den Katholiken, auch insofern, als sie für jede Glaubenserfahrung lebenswichtig und wesentlich ist.“
Die Strategie zur Eroberung der Zivilgesellschaft
Ohne eine solche Strategie sei das politische Schicksal Italiens besiegelt. Da Gramscis Thesen zur Eroberung der Macht an ihre Grenzen stoßen, werde man versuchen, sie um ein neues Element zu erweitern.
„Das Projekt zur Eroberung der Zivilgesellschaft, das, wie wir gesehen haben, dem PCI eigen ist und die eine spezifische, der italienischen Situation angepaßte Strategie darstellt, zielt darauf ab, die Macht durch die Selbstauflösung ihrer historischen Gegner zu erlangen. Der Gegner, der darauf abzielt, Identitätserfahrungen des Volkes durch ein anderes globales kulturelles Projekt zu konstituieren, wird besiegt, indem der radikale Charakter seines Versuchs offengelegt wird. Der bürgerliche Gegner, der seinen Versuch aber nicht auf einen ideellen Anspruch auf Zusammenhalt, sondern einfach auf die Besetzung der ökonomischen Macht stützt, kann hingegen mit einer solchen Taktik nicht geschlagen werden: Man muß mit ihm einen Kompromiß eingehen. Dieses Element zeigt die Grenzen in Gramscis Ansatz auf, die sich aus den idealistischen Voraussetzungen ergeben, von denen er ausgeht.
Während er also die Bedingungen der Selbstauflösung der kulturellen Kräfte, die die kommunistische Hegemonie herausfordern könnten, sehr genau erkennt, bleibt er gegenüber einer Kraft unzulänglich, deren Wurzeln nicht kulturell, sondern einfach faktisch sind. Daraus folgt, daß die Art der Machtergreifung des PCI die eines Kondominiums zwischen der Kommunistischen Partei und dem fortgeschrittenen Kapitalismus sein dürfte. In der Tat fragt sich die wirtschaftlich dominante Klasse heute, ob als Verwalter der politischen Macht letztlich nicht der PCI mehr Vertrauen verdient als die DC.“
Katholischer Widerstand
Dagegen stellte Buttiglione den Vorschlag der Katholischen Bewegung:
„Wir sagen, daß die christliche Gemeinschaft innerhalb der bestehenden Gesellschaft bereits dort, wo sie in der Gesamtheit ihrer Dimensionen gelebt wird, eine Übergangsstruktur und ein Fetzen, oder besser gesagt, ein Vorgriff auf diese neue Gesellschaft ist. Wir glauben, daß es den Katholiken durch die methodische Entfaltung des Wertes dieser Erfahrung in einer Einheit von Theorie und Praxis möglich ist, Transformationsvorschläge zu machen, die in der Lage sind, den Konsens breiter Volksschichten zu erreichen. Die spontane Ideologie der Volksmassen, die Werte, nach denen die Menschen, die Proletarier, die Bauern und die anderen Arbeiter unseres Landes, das Leben, ihre Kultur unmittelbar beurteilen, sind noch tief vom christlichen Gedächtnis durchdrungen.
Dazu ist es in erster Linie notwendig, daß die christliche Gemeinschaft Gegenstand der Beteiligung des Volkes ist, denn nur aus einer solchen Beteiligung des Volkes erwächst die Fähigkeit, die traditionelle Trennung von Theorie und Praxis zu überwinden. Die erste Bedingung ist also eine echte und tiefgreifende Reform der Kirche.“
Buttigliones Schlußfolgerung
„Das Existenzrecht der Kirche als eine Gemeinschaft zu verteidigen, die bis zur Materialität der Existenz reicht, bedeutet heute, die Möglichkeit einer wirksamen Freiheit für jeden zu verteidigen, der in dieser gespaltenen und autoritären Gesellschaft Lebensformen versuchen will, die die Spaltung bekämpfen und eine Alternative vorbereiten.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL
Rocco Buttigliones Referat hieß: „Per una scuola libera popolare e democratica“ (Für eine freie, volksbezogene und demokratische Schule).