
Von Roberto de Mattei*
Die dritte Enzyklika von Papst Franziskus, „Fratelli tutti“ (Alle Brüder), die am 3. Oktober in Assisi unterzeichnet wurde, scheint fast das Schlußdokument seines Pontifikats zu sein, eine Art politisches Testament. Denn die Enzyklika ist politisch, so wie das gesamte Pontifikat von Papst Franziskus.
Einer der treuesten Mitarbeiter von Papst Franziskus, Andrea Tornielli, der Kommunikationsdirektor des Heiligen Stuhls, verwendete bei der Vorstellung der Enzyklika nicht den Begriff politisch, sondern den Begriff „sozial“, was im Wesentlichen dasselbe ist, und schreibt:
„Die neue Enzyklika ‚Alle Brüder‘ präsentiert sich als Gesamtheit der Soziallehre von Franziskus, und sammelt auf systematische Weise die Ideen, die durch Verlautbarungen, Reden und Stellungnahmen der ersten sieben Jahre seines Pontifikats geboten wurden“.
Ein Ursprung und eine Inspiration – sagt Tornielli – ist sicherlich das „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“, das am 4. Februar 2019 in Abu Dhabi zusammen mit dem Großimam von Al-Azhar, Ahmad Al-Tayyeb, unterzeichnet wurde .
Al-Tayyeb ist einer der am häufigsten zitierten Autoren in der Enzyklika, und es überrascht nicht, daß er in seinem ersten Kommentar auf Twitter schrieb, daß es eine Botschaft ist, die „der Menschheit ihr Bewußtsein zurückgibt“.
Haben Al-Tayyeb und Papst Franziskus das gleiche Bewußtsein von der Menschheit? Aber in welchem Sinne? Papst Bergoglio erklärt es:
„Träumen wir als eine einzige Menschheit, […] jeder mit dem Reichtum seines Glaubens oder seiner Überzeugungen, jeder mit seiner eigenen Stimme, alles Geschwister“ (Nr. 8).
Die absolute Wahrheit ist nicht Jesus Christus, in dessen Namen und Taufe Christen Brüder sind. Die Brüderlichkeit ist ein noch höherer Wert als Christus selbst, weil er laut Papst Franziskus in der Lage sei, Katholiken, Muslime, Buddhisten und sogar Atheisten zusammenzubringen, die auch ihren eigenen Glauben und ihre eigene Überzeugung haben.
Papst Franziskus erinnert zu Beginn der Enzyklika an den Besuch des heiligen Franz von Assisi bei Sultan Malik-al-Kamil in Ägypten, den er als eine Suche nach Dialog darstellt, obwohl alle zeitgenössischen Quellen uns sagen, daß der Heilige den Sultan bekehren wollte und die Kreuzfahrer unterstützte, die im Heiligen Land kämpften. Aber das Treffen zwischen dem Heiligen und dem Sultan ist gescheitert, und Papst Bergoglio scheint beweisen zu wollen, daß er besser in der Lage ist, das Projekt zu verwirklichen, und der erste Schritt war das Dokument von Abu Dhabi.
Um diesen Dialog herbeizuführen, ersetzt Franziskus die Prinzipien des katholischen Glaubens durch die der Französischen Revolution: insbesondere den Dreiklang „Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit“ (Nr. 104–105). Eine Utopie, die in der Geschichte nie verwirklicht wurde, aber dessen Architekt Papst Bergoglio im 21. Jahrhundert sein möchte.
„Brüderlichkeit“ und „soziale Freundschaft“ sind Schlüsselwörter der Enzyklika schon im Titel und bilden die neue Form der christlichen Liebe. Eine Liebe, deren Maß nicht die vertikale Beziehung zu Gott ist, sondern die horizontale zu unserem Nächsten. Brüderlichkeit wird auch „Solidarität“ genannt:
„Die Solidarität, verstanden in ihrem tiefsten Sinne, ist eine Art und Weise, Geschichte zu machen, und genau das ist es, was die Volksbewegungen tun“ (Nr. 116).
Die Volksbewegungen sind die marxistischen in Lateinamerika, denen Papst Franziskus immer nahestand. In der Enzyklika kritisiert er ausführlich die „populistischen politischen Regime“ und die „liberalen wirtschaftlichen Kreise“ (Nr. 37) sowie „Formen von engstirnigen und gewalttätigen Nationalismen“ (Nr. 86), ignoriert jedoch den Kommunismus. Die erste Weltmacht ist heute aber das kommunistische China, das sich offiziell auf Marx, Lenin und Mao beruft. Aber laut einem Mitarbeiter des Papstes wie Msgr. Sanchez Sorondo ist China das Land, das heute die Soziallehre der Kirche am besten anwendet, und vielleicht möchte der Heilige Stuhl deshalb privilegierte Beziehungen zu ihm haben. Der Papst ignoriert auch die Verantwortung des kommunistischen China bei der Ausbreitung des Coronavirus und schließt aus, daß diese Pandemie eine göttliche Strafe sein könnte (Nr. 134). Alle Päpste haben jedoch gelehrt, dass Epidemien, Kriege, Hungersnöte und alle Formen einer kollektiven Plage eine Folge menschlicher Sünde sind.
Doch von der Sünde und von ihren Folgen, auch den sozialen, spricht die Enzyklika nicht. Die einzige Sünde scheint die Ablehnung der Einwanderung zu sein, die das Werkzeug ist, um die „kreative Integration“ (Nr. 41) zu erreichen, die Papst Franziskus am Herzen liegt. Er scheint die Globalisierung zu kritisieren, aber das Ziel seiner Kritik ist in Wirklichkeit die von oben nach unten gerichtete und ungleiche Handhabung des globalistischen Projekts. Was er will, ist eine Globalisierung von unten, die sich auf alle sozialen Schichten und insbesondere auf den Süden des Planeten erstreckt und von den marxistischen Volksbewegungen verwaltet wird – und vielleicht von China.
„Aber wenn man als grundlegendes Rechtsprinzip akzeptiert, dass diese Rechte aus der bloßen Tatsache des Besitzes einer unveräußerlichen Menschenwürde hervorgehen, kann man die Herausforderung annehmen, von einer anderen Menschheit zu träumen und über eine solche nachzudenken. Es ist möglich, einen Planeten zu wünschen, der allen Menschen Land, Heimat und Arbeit bietet.“ (Nr. 127).
Wenn es jedoch ein Land gibt, in dem die Menschenrechte verletzt werden, dann ist es die Volksrepublik China. Wie kann das in einem Dokument, das sich auf die Menschenrechte als Grundlage des sozialen Zusammenlebens beruft, verschwiegen werden?
Vor allem aber bietet Papst Franziskus keinen Hinweis, wie seine Utopie verwirklicht werden sollte. Die Kirche verfügt jedoch über alle Mittel, nicht um einen utopischen Frieden auf Erden herbeizuführen, sondern um das Leben in diesem „Tal der Tränen“ zu erleichtern. Diese Werkzeuge sind das Gebet, die Sakramente, die Achtung des natürlichen und christlichen Rechts und das private und öffentliche Glaubensbekenntnis zu Jesus Christus, dem einzigen Weg, der Wahrheit und dem Leben. Diese übernatürliche Dimension fehlt leider völlig im Dokument von Papst Franziskus. Und die Tatsache, daß dieser Appell an die planetarische Brüderlichkeit genau zu einer Zeit erfolgt, in der ein Bruderkrieg die Kirchenführung auseinanderreißt, wird sicherlich nicht dazu beitragen, einen Erfolg sicherzustellen.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL
Wahllos einige Punkte herausgegriffen:
Pkt 19. „Der Geburtenrückgang, der zu einer Alterung der Bevölkerung führt, und die Tatsache, dass die älteren Menschen einer schmerzlichen Einsamkeit überlassen werden, bringen implizit zum Ausdruck, dass alles mit uns vorbei sein wird, wo nur unsere individuellen Interessen zählen. So »werden heute nicht nur Nahrung und überflüssige Güter zu Abfall, sondern oft werden sogar die Menschen „weggeworfen“«.[14] Wir haben gesehen, was mit den älteren Menschen an einigen Orten der Welt aufgrund des Corona-Virus geschehen ist. Sie sollten nicht auf diese Weise sterben. Tatsächlich aber war etwas Ähnliches schon bei mancher Hitzewelle und unter anderen Umständen vorgefallen: Sie wurden brutal weggeworfen. Es wird uns bewusst, dass eine Isolierung der älteren Menschen und ihre Übergabe in die Obhut anderer ohne eine angemessene und gefühlvolle familiäre Begleitung die Familie selbst verstümmelt und ärmer macht. Im Übrigen führt es dazu, dass den jungen Menschen der nötige Kontakt mit ihren Wurzeln und mit einer Weisheit, welche die Jugend von sich aus nicht erreichen kann, vorenthalten wird.“
In diesem Zusammenhang mit an den Haaren herbeigezogenen Beispielen auf die Abtreibung zu vergessen, erscheint bemerkenswert.
Die Abtreibung kommt weiter unten tatsächlich vor:
so heißt es in Pkt 24:
„Die Verirrung kennt keine Grenzen, wenn man Frauen versklavt, die dann zur Abtreibung gezwungen werden. Es kommt sogar zu abscheulichen Taten wie der Entführung von Menschen, um ihre Organe zu verkaufen. All das macht den Menschenhandel und andere aktuelle Formen der Sklaverei zu einem weltweiten Problem…“
Natürlich sind das abscheuliche Verbrechen, aber wer braucht einen Papst dazu, um das zu erkennen? Was soll überhaupt damit gesagt sein in einer Zeit, in welcher die „freiwillige Abtreibung“ gang und gäbe ist, also schon so etwas wie gesellschaftlichen Konsens gefunden hat?
Obiger Artikel nimmt an Passagen wie Pkt 20 Anstoß:
„Diese Aussonderung zeigt sich auf vielfältige Weise, wie etwa in der Versessenheit, die Kosten der Arbeit zu reduzieren, ohne sich der schwerwiegenden Konsequenzen bewusst zu werden, die eine solche Maßnahme auslöst; denn die entstandene Arbeitslosigkeit führt direkt zu einer zunehmenden Verbreitung der Armut.[15] Die Aussonderung nimmt zudem abscheuliche Formen an, die wir als überwunden glaubten, wie etwa der Rassismus, der verborgen ist und immer wieder neu zum Vorschein kommt. Die verschiedenen Ausprägungen des Rassismus erfüllen uns erneut mit Scham, denn sie zeigen, dass die vermeintlichen Fortschritte der Gesellschaft nicht so real und ein für alle Mal abgesichert sind.“
Das ist politisierende Leerformeln. Begriffe „Rassimus“ und „Kapitalismus“ würden zunächst, ehe man damit in Enzyklopädien herumwirft, einer Definition durch das Lehramt bedürfen, wie es bei „Modernismus“ erfolgt ist. „Modernismus“ ist ja auch nicht unbedingt das, was gerade „modern“ ist bzw sich in irgendeiner Form zur „Moderne“ bekennt. Wo fängt „Rassismus“ an, und wo hört er auf? wohl jeder wird von sich behaupten, kein Rassist zu sein, „aber“ … dieses und jenes zu vertreten, was ein anderer wiederum als „Rassismus“ auslegen würde. Arbeitslohnsenkung kann den Umständen entsprechend geboten oder nützlich oder ausbeuterisch verwerflich sein. In dieser Allgemeinheit ist diese Aussage völlig nutzlos.
Hingegen ist das hier:
Pkt 23 „Entsprechend sind die Gesellschaften auf der ganzen Erde noch lange nicht so organisiert, dass sie klar widerspiegeln, dass die Frauen genau die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben wie die Männer.“
eine glatte Häresie. (vgl Paulus, Epheser 5, 22–24).
Zweifellos werden sich etliche andere Beispiele finden lassen. Man sollte aufgrund des Naheliegenden nicht das ganz Spezielle übersehen, nämlich dass hier im Rahmen des kirchlichen Lehramtes eine neue Lehre geschaffen wird, die nicht nur in politischer Hinsicht naiv bis obskur anmutet, sondern zum Evangelium in krassestem Widerspruch steht, also erwiesenermaßen unchristlich ist.