
Associated Press (AP), eine der drei internationalen Presseagenturen, die in den westlichen Medien, aber auch weltweit, das gute und schlechte Nachrichtenwetter machen, veröffentlichte am 1. Mai einen ausführlichen Bericht über die katholische Kirche in den USA. Es geht weniger darum, ob Tim Sullivan, zusammen mit Jessie Wardarski Autor des Berichts, zuzustimmen ist oder nicht, sondern in erster Linie darum, welches Bild AP von der katholischen Kirche in den USA zeichnet. Was AP schreibt, hat Einfluß auf zahlreiche andere Journalisten und Medien inner- und außerhalb der USA. Zudem bietet der Bericht durchaus Interessantes und sogar Hoffnungsvolles. Hier der Text zu Analyse- und Dokumentationszwecken in deutscher Übersetzung, der zusammen mit einer Reihe von 30 Bildern veröffentlicht wurde, deren Auswahl ebenfalls aussagekräftig ist.
„Ein Schritt zurück“. Die katholische Kirche vollzieht einen gewaltigen Wandel – hin zu den alten Bräuchen
Von Tim Sullivan
Es war die Musik, die sich zuerst änderte. Oder vielleicht war das der Zeitpunkt, an dem vielen Menschen in der hellen katholischen Backsteinkirche in der ruhigen Nachbarschaft von Wisconsin bewußt wurde, was hier vor sich ging.
Der Chorleiter, seit fast 40 Jahren eine feste Größe in St. Maria Goretti, war plötzlich verschwunden. Moderne Lieder wurden durch Musik ersetzt, die ihre Wurzeln im mittelalterlichen Europa hat.
Viele Dinge änderten sich. In den Predigten ging es öfter um Sünde und Beichte. Priester wurden selten ohne Soutane gesehen. Ministrantinnen wurden abgeschafft.
In den Schulen der Pfarrei hörten die Schüler erstmals von Abtreibung und Hölle.
„Es war wie ein Schritt zurück in die Vergangenheit“, sagte ein ehemaliges Gemeindemitglied, das nur unter der Bedingung der Anonymität sprach und noch immer fassungslos über die stürmischen Veränderungen ist, die 2021 mit einem neuen Pfarrer begannen.
Es geht nicht nur um St. Maria Goretti
Überall in den Vereinigten Staaten ist die katholische Kirche einem gewaltigen Wandel unterworfen. Generationen von Katholiken, die die Modernisierungswelle, die in den 1960er Jahren durch das Zweite Vatikanische Konzil ausgelöst wurde, begrüßt haben, weichen zunehmend religiösen Konservativen, die glauben, daß die Kirche durch den Wandel verzerrt wurde und das Versprechen der ewigen Erlösung durch Gitarren-Messen, Essensausgaben in den Pfarreien und eine formlose Gleichgültigkeit gegenüber der kirchlichen Lehre ersetzt wurde.
Der Wandel, der durch sinkende Kirchenbesucherzahlen, zunehmend traditionelle Priester und eine wachsende Zahl junger Katholiken auf der Suche nach mehr Orthodoxie geprägt ist, hat die Pfarreien im ganzen Land umgestaltet, so daß sie manchmal mit Papst Franziskus und einem Großteil der katholischen Welt in Konflikt geraten.
Die Veränderungen finden nicht überall statt. Es gibt immer noch viele liberale Pfarreien, von denen viele als mittelmäßig angesehen werden. Trotz ihres wachsenden Einflusses bleiben die konservativen Katholiken eine Minderheit.

Dennoch ist es unmöglich, die Veränderungen zu übersehen, die sie mit sich gebracht haben.
Die progressiven Priester, die die US-Kirche in den Jahren nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil dominierten, sind jetzt in den 70ern und 80ern. Viele sind im Ruhestand. Einige sind tot. Jüngere Priester, so zeigen Umfragen, sind viel konservativer.
„Sie sagen, daß sie versuchen, das wiederherzustellen, was wir alten Leute ruiniert haben“, sagt Pfarrer John Forliti, 87, ein pensionierter Priester aus den Twin Cities1, der für Bürgerrechte und Reformen der Sexualerziehung an katholischen Schulen gekämpft hat.
Doug Koesel, ein 72jähriger Priester der Pfarrei Heiligste Dreifaltigkeit in Cleveland, war noch unverblümter: „Sie warten nur darauf, daß wir sterben.“
In der Pfarrei St. Maria Goretti, die einst vom Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils durchdrungen war, sahen viele Gemeindemitglieder die Veränderungen als ein Requiem an.
„Ich möchte nicht, daß meine Tochter katholisch ist“, sagte Christine Hammond, deren Familie die Pfarrei verließ, als sich die neue Sichtweise auf die kirchliche Schule und das Klassenzimmer ihrer Tochter ausbreitete. „Nicht, wenn das die kommende römisch-katholische Kirche ist.“
Aber dies ist keine einfache Geschichte. Denn es gibt viele, die diese neue alte Kirche begrüßen.
Sie fallen oft in den Kirchenbänken auf, wobei die Männer Krawatten tragen und die Frauen manchmal ihren Kopf mit Schleier aus Spitze bedecken, die vor mehr als 50 Jahren aus den amerikanischen Kirchen praktisch verschwunden sind. Oft kommen Familien mit vier, fünf oder sogar mehr Kindern, was darauf hindeutet, daß sie sich an das kirchliche Verbot der Empfängnisverhütung halten, das die meisten amerikanischen Katholiken lange Zeit locker ignoriert haben.
Sie gehen regelmäßig zur Beichte und halten sich streng an die kirchlichen Lehren. Viele sehnen sich nach Messen, die an mittelalterliche Traditionen anknüpfen: mehr Latein, mehr Weihrauch und mehr Gregorianische Gesänge.
„Wir wollen diese himmlische Erfahrung, die sich von allem anderen in unserem Leben unterscheidet“, sagt Ben Rouleau, der bis vor kurzem die Gruppe junger Erwachsener in St. Maria Goretti leitete, deren Mitgliederzahl sogar dann anstieg, als die Pfarrei inmitten der Turbulenzen schrumpfte.
Sie sind glücklich, so Rouleau, von einer liberalen Stadt wie Madison loszukommen.
„In gewisser Weise ist es radikal“, bestätigt Rouleau. „Wir kehren zu den Wurzeln der Kirche zurück.“ 2
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Wenn diese Bewegung irgendwo ihren Ursprung hat, dann vielleicht in einem inzwischen abgerissenen Football-Stadion in Denver und in einem geliehenen Militärhubschrauber, der Papst Johannes Paul II. transportierte.
Etwa 500.000 Menschen kamen 1993 zur katholischen Feier des Weltjugendtags nach Denver. Als der Hubschrauber des Papstes vor dem Mile High Stadium landete, bebte der Boden unter dem Trampeln der Menschen.
Der Papst, dessen großväterliche Erscheinung ein elektrisierendes Charisma vermittelte und der für seine Freundlichkeit ebenso geliebt wurde wie für seine Strenge, stand einer amerikanischen Kirche gegenüber, die durch drei Jahrzehnte des progressiven Wandels geprägt war.
Während die Kirche unter Nichtkatholiken oft am besten für ihre Ablehnung der Abtreibung bekannt ist, ist sie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil immer liberaler geworden. Geburtenkontrolle wurde in vielen Kirchengemeinden stillschweigend akzeptiert und die Beichte wurde kaum mehr erwähnt. Die katholische Soziallehre zum Thema Armut war in den Kirchen vorrangig. Die meisten Priester tauschten ihre Soutane gegen ein schlichtes schwarzes Hemd mit römischem Kragen. Weihrauch und Latein wurden immer seltener.
In einigen Fragen stimmte Johannes Paul II. diesen liberal gesinnten Katholiken zu. Er sprach sich gegen die Todesstrafe aus und setzte sich für die Rechte der Arbeiter ein. Er predigte unermüdlich über Vergebung: „der Sauerstoff, der die Luft des Hasses reinigt“. Er selbst vergab dem, der ihn ermorden wollte.
Aber er war auch kompromißlos in bezug auf Dogmen, warnte vor Veränderungen und ging hart mit liberalen Theologen ins Gericht. Er drängte auf eine Rückkehr zu vergessenen Ritualen.
Die Katholiken „laufen Gefahr, ihren Glauben zu verlieren“, sagte er bei der Abschlußmesse in Denver und prangerte Abtreibung, Drogenmißbrauch und „sexuelle Störungen“ an, eine kaum verhüllte Anspielung auf die wachsende Akzeptanz der Rechte von Homosexuellen.
Überall im Land hörten junge Katholiken begeistert zu.
Die Newman Centers, die sich an katholische College-Studenten wenden, wurden immer beliebter. Das gleiche gilt für FOCUS, eine traditionalistische Organisation, die auf den amerikanischen College-Campus arbeitet. Die konservativen katholischen Medien wuchsen, insbesondere der Kabelfernsehsender EWTN, eine führende Stimme für mehr Rechtgläubigkeit.
Heute hat das konservative katholische Amerika seine eigene Konstellation von Online-Prominenten, die sich an junge Menschen wenden. Da gibt es Schwester Miriam James, eine immer lächelnde Nonne in voller Ordenstracht, die offen über ihre ausgelassene Partyzeit am College spricht. Da ist Jackie Francis Angel, die mit überraschender Offenheit über Sex, Ehe und Katholizität spricht. Da ist Mike Schmitz, ein Filmstar-ähnlich gutaussehender Priester aus Minnesota, der Freundlichkeit ausstrahlt und gleichzeitig auf der Doktrin besteht.
Selbst heute noch zeigen Umfragen, daß die Mehrheit der amerikanischen Katholiken weit von der Orthodoxie entfernt ist. Die meisten unterstützen das Recht auf Abtreibung. Die große Mehrheit benutzt Verhütungsmittel.
Aber diese Katholiken nehmen in der Kirche nicht mehr zu.
Im Jahr 1970 gab mehr als die Hälfte der amerikanischen Katholiken an, mindestens einmal pro Woche zur Messe zu gehen. Nach Angaben von CARA, einem der Georgetown University angeschlossenen Forschungszentrum, ist diese Zahl bis 2022 auf 17 Prozent gesunken. Unter den Millennials sind es nur 9 Prozent.
Obwohl die katholische Bevölkerung in den USA auf mehr als 70 Millionen angewachsen ist, was zum Teil auf die Einwanderung aus Lateinamerika zurückzuführen ist, nehmen immer weniger Katholiken an den wichtigsten Riten der Kirche teil. Die Zahl der Taufen von Kleinkindern ist laut CARA von 1,2 Millionen im Jahr 1965 auf 440.000 im Jahr 2021 gesunken. Katholische Eheschließungen sind um mehr als zwei Drittel zurückgegangen.
Die sinkenden Zahlen bedeuten, daß diejenigen, die in der Kirche bleiben, im Vergleich zur gesamten katholischen Bevölkerung einen enormen Einfluß haben.
Auf nationaler Ebene dominieren die Konservativen zunehmend die US-Konferenz der katholischen Bischöfe und die katholische Geisteswelt. Zu ihnen gehören alle, vom philanthropischen Gründer von Domino’s Pizza bis zu sechs der neun Richter des Obersten Gerichtshofs der USA.
Und dann ist da noch die Priesterschaft
Junge Priester, die sich von liberaler Politik und progressiver Theologie leiten lassen, wie es in den 1960er und 1970er Jahren üblich war, sind „so gut wie verschwunden“, heißt es in einem Bericht von The Catholic Project at Catholic University aus dem Jahr 2023, der auf einer Umfrage unter mehr als 3.500 Priestern beruht.
Die jungen Priester von heute sind viel eher der Meinung, daß sich die Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu sehr verändert hat und sie sich in den sich schnell ändernden Ansichten Amerikas über alles verstrickt hat, von der Rolle der Frau bis hin zu LGBTQ-Personen.
„Es gibt wirklich nicht mehr viele Liberale in den Seminaren“, sagt ein junger, frisch geweihter Priester aus dem Mittleren Westen. Er sprach unter der Bedingung der Anonymität, weil seine Gemeinde in Aufruhr geraten war, nachdem er sich für mehr orthodoxe Gottesdienste eingesetzt hatte. „Sie würden sich nicht wohl fühlen.“
Manchmal vollzieht sich der Wandel zur Orthodoxie langsam. Vielleicht gibt es etwas mehr Latein in der Messe oder eine gelegentliche Erinnerung, zur Beichte zu gehen. Vielleicht werden Gitarren in die Vorabendmesse verlegt oder ganz abgeschafft.
Und manchmal kommen die Veränderungen wie ein Wirbelwind und spalten die Gemeinden in diejenigen, die sich nach einem ehrfürchtigeren Katholizismus sehnen, und diejenigen, die das Gefühl haben, daß ihnen ihre geistige Heimat genommen wurde.
„Oh mein Gott, was ist da gerade passiert?“, sagte ein anderes ehemaliges Gemeindemitglied von St. Maria Goretti, dessen Familie schließlich die Kirche verließ, und beschrieb damit die Beförderung eines neuen Pfarrers im Jahr 2021 und die plötzliche Konzentration auf Sünde und Beichte.
Wie viele ehemalige Gemeindemitglieder sprach er nur unter der Bedingung der Anonymität, da er befürchtete, Freunde, die noch in der Kirche sind, zu verärgern. Die Geistlichen der Diözese reagierten nicht auf Bitten um Interviews.
„Ich bin mein ganzes Leben Katholik. Ich bin damit aufgewachsen, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen“, sagte er. „Aber so etwas habe ich noch nie gesehen.“
Die neue Sichtweise hat sich in den gesamten Vereinigten Staaten verbreitet
In Kirchen von Minnesota bis Kalifornien haben Gemeindemitglieder gegen die von den neuen konservativen Priestern eingeführten Änderungen protestiert. In Cincinnati kam es dazu, als der neue Pfarrer die Gospelmusik und das afrikanische Trommeln abschaffte. In einer Kleinstadt in North Carolina wurde die lateinische Sprache stark betont. In Osttexas war es ein rechtsgerichteter Bischof3, der vom Vatikan abgesetzt wurde, nachdem er Papst Franziskus beschuldigt hatte, die kirchlichen Lehren zu untergraben.
Jedes dieser Ereignisse mag wie ein weiteres Scharmützel in den kulturellen und politischen Kämpfen erscheinen, die in den USA toben.
Aber die Bewegung, ob man sie nun konservativ, orthodox, traditionalistisch oder authentisch nennt, läßt sich nur schwer definieren.
Sie reicht von Katholiken, die mehr Weihrauch wollen, bis zu Anhängern der lateinischen Messe und solchen, die alte Gebete wiederbelebt haben, in denen der „treulose Jude“ erwähnt wird. Es gibt rechtsgerichtete Prepper, prominente Exorzisten, überzeugte Naturschützer und eine Handvoll Quasi-Sozialisten.
Es gibt die katholischen Medien, die gegen die „böse Entourage“ des Vatikans wettern, und den Kleinstadtpriester aus Wisconsin, der COVID-19 mit einer jahrhundertealten Prophezeiung in Verbindung bringt und vor einer bevorstehenden Diktatur warnt. Kürzlich fand das „Catholic Prayer for Trump“ statt, ein Abendessen im Wert von 1.000 Dollar pro Teller im Mar-a-Lago-Resort des ehemaligen Präsidenten in Florida, an dem eine Reihe von Verschwörungstheoretikern teilnahmen.
Doch die orthodoxe Bewegung kann auch als ein Gewirr aus Vergebung und Strenge erscheinen, in dem sich das Beharren auf Barmherzigkeit und Freundlichkeit mit Warnungen vor der Ewigkeit in der Hölle vermischt.
Über der amerikanischen Spaltung schwebt Papst Franziskus, der die Weltkirche zu mehr Inklusion gedrängt hat, auch wenn sie an den meisten Dogmen festhält.
Die orthodoxe Bewegung hat seit den ersten Tagen seines Pontifikats nervös auf ihn geschaut, verärgert über seine liberaleren Ansichten zu Themen wie gleichgeschlechtliche Beziehungen und Scheidung. Einige lehnen ihn sogar ganz ab.
Der Papst macht sich offensichtlich Sorgen um Amerika.
Die amerikanische Kirche hat „eine sehr starke reaktionäre Haltung“, sagte er im vergangenen Jahr einer Gruppe von Jesuiten. „Rückwärts zu schauen ist sinnlos.“
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Diese neue Vision des katholischen Amerikas kann man bei lateinischen Messen in Milwaukee erleben, wo die Kirchenbänke selbst an Wochentagen zur Mittagszeit voll besetzt sind. Man findet sie auf Konferenzen in der kalifornischen Weingegend, in wiederbelebten Pfarreien in Tennessee und in Gebetsgruppen in Washington DC.
Und sie findet an einer kleinen Universität in Kansas statt, die hoch auf einer Klippe über dem Missouri River liegt.
Auf den ersten Blick scheint das Benedictine College nichts Ungewöhnliches zu sein.
Studenten machen sich Gedanken über unfertige Essays und die Komplexität der Partnersuche. An warmen Herbstnachmittagen tragen sie abgeschnittene Shorts. Fußball wird großgeschrieben. Das Essen in der Cafeteria ist mittelprächtig.
Aber schauen wir genauer hin.
An der Benediktinerhochschule kann die katholische Lehre über Empfängnisverhütung zu einer Lektion über Platon werden, und niemand ist überrascht, wenn man sich freiwillig zum Gebet um 3 Uhr morgens meldet. Pornografie, vorehelicher Sex und Sonnenbaden in Badekleidung sind verboten.
Auch wenn diese Regeln wie Vorschriften aus einer vergangenen Ära erscheinen, hat das die Studenten nicht davon abgehalten, in Scharen an das Benedictine College und andere konservative katholische Colleges zu strömen.
In einer Zeit, in der die Studentenzahlen in den USA rückläufig sind, hat das Benedictine in den vergangenen 15 Jahren vier neue Wohnheime, eine neue Mensa und ein akademisches Zentrum errichtet. Eine riesige neue Bibliothek befindet sich im Bau. Der Lärm der Bautrupps scheint kein Ende zu nehmen.
Die Zahl der Immatrikulationen hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt und liegt jetzt bei etwa 2.200.
Die Studenten, von denen viele in konservativen katholischen Familien aufgewachsen sind, nennen es scherzhaft „the Benedictine bubble“. Und es könnte ein Fenster in die Zukunft der katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten sein.
In einem zutiefst säkularen Amerika, in dem eine ständig in Aufruhr befindliche Kultur nur wenige absolute Antworten bietet, bietet das Benedictine die Gewißheit der Klarheit.
„Natürlich sind wir nicht immer alle einer Meinung“, sagt John Welte, ein Student der Wirtschaftswissenschaften und Philosophie. „Aber ich würde sagen, daß jeder ein Verständnis für die Wahrheit hat.“
„Es gibt bestimmte Dinge, von denen jeder wissen kann: Das ist richtig und das ist falsch.“
Manchmal, so geben die Leute hier leise zu, gehen manche auch zu weit. Wie die Studenten, die lautstark verkünden, wie oft sie zur Messe gehen, oder der junge Mann, der sein Studium der klassischen Philologie abbrach, weil er sich weigerte, die Werke der alten griechischen Heiden zu lesen.
Sehr häufig wird hier von den Schriften des heiligen Thomas von Aquin aus dem 13. Jahrhundert gesprochen, der glaubte, daß Gott im Wahren, Guten und Schönen gefunden werden kann. Manchmal, so heißt es, bedeutet das, Gott in strengen Grundsätzen über die Sexualität zu finden. Manchmal auch in der eindringlichen Schönheit des Gregorianischen Gesangs.
„Es ist eine Erneuerung einiger wirklich guter Dinge, die wir vielleicht verloren haben“, sagt Madeline Hays, eine nachdenkliche 22jährige Biologiestudentin.
Sie nimmt die Kirchenregeln ernst, vom vorehelichen Sex bis zur Beichte. Sie kann die moderne Kirchenarchitektur nicht ausstehen. Sie erwägt ernsthaft, Ordensfrau zu werden.
Aber sie macht sich auch Sorgen über die Armut und die Verschwendung in Amerika und die Art und Weise, wie Amerikaner – sie selbst eingeschlossen – in politische Spaltungen verwickelt werden können, ohne es zu wissen.
Sie ringt mit ihrem Glauben an eine unfehlbare katholische Doktrin, die gute Menschen, einschließlich einiger ihrer eigenen Freunde, als Sünder ansehen kann.
Dennoch will sie keine Veränderung.
„Die Kirche wäre nicht die Kirche, wenn sie die Dinge ändern würde: Was sie als unfehlbare Lehre festgelegt hat, wird sich auch in Jahrhunderten nicht ändern“, sagt sie.
Das verstehen sie in der kleinen, verschlossenen Homo-Gemeinschaft von Benedictine. Wie der einst tief religiöse junge Mann, der stillschweigend darunter leidet, daß die Leute auf dem Campus beiläufig schwulenfeindliche Beleidigungen ausstoßen.
Schon oft hat er daran gedacht, die Schule zu verlassen, aber die großzügige finanzielle Unterstützung hält ihn hier. Und nach vielen Jahren hat er seine Sexualität akzeptiert.
Er hat gesehen, wie viel Freude die Benediktinerhochschule den Menschen bringen kann und wie einige nach ihrem Abschluß nach Atchison zurückkehren, nur um in ihrer Nähe zu bleiben.
Aber er nicht.
„Ich glaube nicht, daß ich jemals wieder nach Atchison zurückkehren werde, nie und nimmer.“
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Jahrzehntelang füllten sich die Kirchenbänke von St. Maria Goretti mit den Familien von Klempnern, Ingenieuren und Professoren der University of Wisconsin nur ein paar Kilometer an der Straße entfernt. Die Kirche ist eine Insel des gepflegten Katholizismus, eingebettet in die grünen Wohnstraßen einer der liberalsten Städte Amerikas.
Wie so viele andere Kirchengemeinden wurde sie von den Idealen der 1960er und 1970er Jahre geprägt. Armut und soziale Gerechtigkeit waren eng mit den Predigten und dem Gemeindeleben verwoben. Homosexuelle fühlten sich willkommen. Einige der moralischen Absolutheiten der Kirche, wie das Verbot der Empfängnisverhütung, wurden zu vergessenen Dogmen.
Der Wandel kam 2003 mit dem neuen Bischof Robert C. Morlino, einem bekennenden Konservativen. Viele Liberale erinnern sich an ihn als den Mann, der gegen die moderne Hymne der Willkommensbotschaft „All are welcome“ wetterte.
Sein Nachfolger, Bischof Donald J. Hying4, hält sich von öffentlichen Kämpfen fern. Doch in vielerlei Hinsicht führt er Morlinos Erbe im stillen fort und warnt vor dem „verworrenen Denken des Modernismus“.
Im Jahr 2021 ernannte Hying Reverend Scott Emerson, einen ehemaligen engen Mitarbeiter von Morlino, zum Pfarrer der Kirche in Madison.
Die Pfarrangehörigen beobachteten, manche erfreut, andere beunruhigt, wie ihr geistliches Zuhause umgestaltet wurde.
Es gab mehr Weihrauch, mehr Latein, mehr Reden über Sünde und Beichte.
Nicht alle von Emersons Predigten sind Feuer und Schwefel. Er spricht oft von Vergebung und Mitgefühl. Aber sein Ton hat viele langjährige Gemeindemitglieder schockiert.
In einem Gottesdienst im Jahr 2023 sagte er, man müsse sich vor der „geistlichen Verderbnis der weltlichen Laster“ schützen. Er warnte vor „Atheisten, Journalisten, Politikern, exkommunizierten Katholiken“, die, wie er sagte, die Kirche unterminierten.
Für einige waren Emersons Änderungen willkommen.
„Viele von uns sagten: ‚Hey, mehr Beichte! Gut!‘“, sagte Rouleau, der die Gruppe junger Erwachsener in der Gemeinde leitet. „Bessere Musik!“
Aber die Pfarrei, die Mitte 2023 im Rahmen einer diözesanweiten Umstrukturierung Teil einer Zwei-Kirchen-Pastoraleinheit wurde, schrumpfte rapide.
Seit Jahrzehnten haben sich viele traditionelle Katholiken gefragt, ob die Kirche auf einen kleineren, aber treueren Kern schrumpfen würde – und vielleicht auch sollte.
In gewisser Weise sieht St. Maria Goretti heute genau so aus. Die Freitagsmesse um 6.30 Uhr in der Früh, sagt Rouleau, ist bei jungen Leuten immer beliebter. Aber bei den einst vollen Sonntagsmessen sind die Bänke jetzt leer. Die Spenden sind rückläufig. Die Zahl der Schulanmeldungen ist stark zurückgegangen.
Einige von jenen, die die Pfarrei verließen, gingen zu liberaleren Gemeinden. Einige schlossen sich protestantischen Kirchen an. Einige gaben die Religion ganz auf.
„Ich bin nicht mehr katholisch“, sagte Hammond, die Frau, die ging, als die kirchliche Schule sich zu verändern begann. „Nicht einmal ein kleines bißchen mehr.“
Doch Emerson besteht darauf, daß die Kritiker der katholischen Kirche eines Besseren belehrt werden.
„Wie viele haben über die Kirche gelacht und verkündet, daß sie überholt sei, daß ihre Tage vorbei seien und sie sie begraben würden“, sagte er bei einer Messe im Jahr 2021.
„Die Kirche“, sagte er, „hat jeden ihrer Totengräber begraben.“
Übersetzung/Fußnoten: Giuseppe Nardi
Bild: New Liturgical Movement/AP (Screenshots)
1 Gemeint ist die Zwillingsstadt Minneapolis im Staat Minnesota und St. Paul im Staat Wisconsin, die durch den Mississippi getrennt sind.
2 Ein Wortspiel, das der Autor nicht ganz verstanden haben könnte: radikal von radix, pl. radices, Wurzeln.
3 Bischof Joseph Edward Strickland, Jg. 1958, war seit 2012 Bischof von Tyler in Texas, bis ihn Papst Franziskus ohne Nennung von Gründen am 11. November 2023 seines Amtes enthob, nachdem Msgr. Strickland zuvor deutliche Worte der Kritik am Pontifikat von Franziskus geäußert hatte.
4 Bischof Donald Hying wurde 2019 von Papst Franziskus zum Bischof von Madison ernannt.