Die katholische Kirche in den USA vollzieht einen gewaltigen Wandel

Wenn der "Indietrismus" in die Zukunft weist


Alte Messe, junge Menschen. Wie die Presseagentur AP über die sich verändernde katholische Kirche in den USA berichtet
Alte Messe, junge Menschen. Wie die Presseagentur AP über die sich verändernde katholische Kirche in den USA berichtet

Asso­cia­ted Press (AP), eine der drei inter­na­tio­na­len Pres­se­agen­tu­ren, die in den west­li­chen Medi­en, aber auch welt­weit, das gute und schlech­te Nach­rich­ten­wet­ter machen, ver­öf­fent­lich­te am 1. Mai einen aus­führ­li­chen Bericht über die katho­li­sche Kir­che in den USA. Es geht weni­ger dar­um, ob Tim Sul­li­van, zusam­men mit Jes­sie War­dar­ski Autor des Berichts, zuzu­stim­men ist oder nicht, son­dern in erster Linie dar­um, wel­ches Bild AP von der katho­li­schen Kir­che in den USA zeich­net. Was AP schreibt, hat Ein­fluß auf zahl­rei­che ande­re Jour­na­li­sten und Medi­en inner- und außer­halb der USA. Zudem bie­tet der Bericht durch­aus Inter­es­san­tes und sogar Hoff­nungs­vol­les. Hier der Text zu Ana­ly­se- und Doku­men­ta­ti­ons­zwecken in deut­scher Über­set­zung, der zusam­men mit einer Rei­he von 30 Bil­dern ver­öf­fent­licht wur­de, deren Aus­wahl eben­falls aus­sa­ge­kräf­tig ist.

„Ein Schritt zurück“. Die katholische Kirche vollzieht einen gewaltigen Wandel – hin zu den alten Bräuchen

Anzei­ge

Von Tim Sullivan

Es war die Musik, die sich zuerst änder­te. Oder viel­leicht war das der Zeit­punkt, an dem vie­len Men­schen in der hel­len katho­li­schen Back­stein­kir­che in der ruhi­gen Nach­bar­schaft von Wis­con­sin bewußt wur­de, was hier vor sich ging.

Der Chor­lei­ter, seit fast 40 Jah­ren eine feste Grö­ße in St. Maria Goret­ti, war plötz­lich ver­schwun­den. Moder­ne Lie­der wur­den durch Musik ersetzt, die ihre Wur­zeln im mit­tel­al­ter­li­chen Euro­pa hat.

Vie­le Din­ge änder­ten sich. In den Pre­dig­ten ging es öfter um Sün­de und Beich­te. Prie­ster wur­den sel­ten ohne Sou­ta­ne gese­hen. Mini­stran­tin­nen wur­den abgeschafft.

In den Schu­len der Pfar­rei hör­ten die Schü­ler erst­mals von Abtrei­bung und Hölle.

„Es war wie ein Schritt zurück in die Ver­gan­gen­heit“, sag­te ein ehe­ma­li­ges Gemein­de­mit­glied, das nur unter der Bedin­gung der Anony­mi­tät sprach und noch immer fas­sungs­los über die stür­mi­schen Ver­än­de­run­gen ist, die 2021 mit einem neu­en Pfar­rer begannen.

Es geht nicht nur um St. Maria Goretti

Über­all in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten ist die katho­li­sche Kir­che einem gewal­ti­gen Wan­del unter­wor­fen. Gene­ra­tio­nen von Katho­li­ken, die die Moder­ni­sie­rungs­wel­le, die in den 1960er Jah­ren durch das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil aus­ge­löst wur­de, begrüßt haben, wei­chen zuneh­mend reli­giö­sen Kon­ser­va­ti­ven, die glau­ben, daß die Kir­che durch den Wan­del ver­zerrt wur­de und das Ver­spre­chen der ewi­gen Erlö­sung durch Gitar­ren-Mes­sen, Essens­aus­ga­ben in den Pfar­rei­en und eine form­lo­se Gleich­gül­tig­keit gegen­über der kirch­li­chen Leh­re ersetzt wurde.

Der Wan­del, der durch sin­ken­de Kir­chen­be­su­cher­zah­len, zuneh­mend tra­di­tio­nel­le Prie­ster und eine wach­sen­de Zahl jun­ger Katho­li­ken auf der Suche nach mehr Ortho­do­xie geprägt ist, hat die Pfar­rei­en im gan­zen Land umge­stal­tet, so daß sie manch­mal mit Papst Fran­zis­kus und einem Groß­teil der katho­li­schen Welt in Kon­flikt geraten.

Die Ver­än­de­run­gen fin­den nicht über­all statt. Es gibt immer noch vie­le libe­ra­le Pfar­rei­en, von denen vie­le als mit­tel­mä­ßig ange­se­hen wer­den. Trotz ihres wach­sen­den Ein­flus­ses blei­ben die kon­ser­va­ti­ven Katho­li­ken eine Minderheit.

AP zeich­net ein Bild der katho­li­schen Kir­che in den USA, das nach elf Jah­ren des Pon­ti­fi­kats von Papst Fran­zis­kus man­che über­ra­schen dürfte

Den­noch ist es unmög­lich, die Ver­än­de­run­gen zu über­se­hen, die sie mit sich gebracht haben.

Die pro­gres­si­ven Prie­ster, die die US-Kir­che in den Jah­ren nach dem Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil domi­nier­ten, sind jetzt in den 70ern und 80ern. Vie­le sind im Ruhe­stand. Eini­ge sind tot. Jün­ge­re Prie­ster, so zei­gen Umfra­gen, sind viel konservativer.

„Sie sagen, daß sie ver­su­chen, das wie­der­her­zu­stel­len, was wir alten Leu­te rui­niert haben“, sagt Pfar­rer John For­li­ti, 87, ein pen­sio­nier­ter Prie­ster aus den Twin Cities1, der für Bür­ger­rech­te und Refor­men der Sexu­al­erzie­hung an katho­li­schen Schu­len gekämpft hat.

Doug Koe­sel, ein 72jähriger Prie­ster der Pfar­rei Hei­lig­ste Drei­fal­tig­keit in Cleve­land, war noch unver­blüm­ter: „Sie war­ten nur dar­auf, daß wir sterben.“

In der Pfar­rei St. Maria Goret­ti, die einst vom Geist des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils durch­drun­gen war, sahen vie­le Gemein­de­mit­glie­der die Ver­än­de­run­gen als ein Requi­em an.

„Ich möch­te nicht, daß mei­ne Toch­ter katho­lisch ist“, sag­te Chri­sti­ne Ham­mond, deren Fami­lie die Pfar­rei ver­ließ, als sich die neue Sicht­wei­se auf die kirch­li­che Schu­le und das Klas­sen­zim­mer ihrer Toch­ter aus­brei­te­te. „Nicht, wenn das die kom­men­de römisch-katho­li­sche Kir­che ist.“

Aber dies ist kei­ne ein­fa­che Geschich­te. Denn es gibt vie­le, die die­se neue alte Kir­che begrüßen.

Sie fal­len oft in den Kir­chen­bän­ken auf, wobei die Män­ner Kra­wat­ten tra­gen und die Frau­en manch­mal ihren Kopf mit Schlei­er aus Spit­ze bedecken, die vor mehr als 50 Jah­ren aus den ame­ri­ka­ni­schen Kir­chen prak­tisch ver­schwun­den sind. Oft kom­men Fami­li­en mit vier, fünf oder sogar mehr Kin­dern, was dar­auf hin­deu­tet, daß sie sich an das kirch­li­che Ver­bot der Emp­fäng­nis­ver­hü­tung hal­ten, das die mei­sten ame­ri­ka­ni­schen Katho­li­ken lan­ge Zeit locker igno­riert haben.

Sie gehen regel­mä­ßig zur Beich­te und hal­ten sich streng an die kirch­li­chen Leh­ren. Vie­le seh­nen sich nach Mes­sen, die an mit­tel­al­ter­li­che Tra­di­tio­nen anknüp­fen: mehr Latein, mehr Weih­rauch und mehr Gre­go­ria­ni­sche Gesänge.

„Wir wol­len die­se himm­li­sche Erfah­rung, die sich von allem ande­ren in unse­rem Leben unter­schei­det“, sagt Ben Rou­leau, der bis vor kur­zem die Grup­pe jun­ger Erwach­se­ner in St. Maria Goret­ti lei­te­te, deren Mit­glie­der­zahl sogar dann anstieg, als die Pfar­rei inmit­ten der Tur­bu­len­zen schrumpfte.

Sie sind glück­lich, so Rou­leau, von einer libe­ra­len Stadt wie Madi­son loszukommen.

„In gewis­ser Wei­se ist es radi­kal“, bestä­tigt Rou­leau. „Wir keh­ren zu den Wur­zeln der Kir­che zurück.“ 2

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Wenn die­se Bewe­gung irgend­wo ihren Ursprung hat, dann viel­leicht in einem inzwi­schen abge­ris­se­nen Foot­ball-Sta­di­on in Den­ver und in einem gelie­he­nen Mili­tär­hub­schrau­ber, der Papst Johan­nes Paul II. transportierte.

Etwa 500.000 Men­schen kamen 1993 zur katho­li­schen Fei­er des Welt­ju­gend­tags nach Den­ver. Als der Hub­schrau­ber des Pap­stes vor dem Mile High Sta­di­um lan­de­te, beb­te der Boden unter dem Tram­peln der Men­schen.

Der Papst, des­sen groß­vä­ter­li­che Erschei­nung ein elek­tri­sie­ren­des Cha­ris­ma ver­mit­tel­te und der für sei­ne Freund­lich­keit eben­so geliebt wur­de wie für sei­ne Stren­ge, stand einer ame­ri­ka­ni­schen Kir­che gegen­über, die durch drei Jahr­zehn­te des pro­gres­si­ven Wan­dels geprägt war.

Wäh­rend die Kir­che unter Nicht­ka­tho­li­ken oft am besten für ihre Ableh­nung der Abtrei­bung bekannt ist, ist sie seit dem Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil immer libe­ra­ler gewor­den. Gebur­ten­kon­trol­le wur­de in vie­len Kir­chen­ge­mein­den still­schwei­gend akzep­tiert und die Beich­te wur­de kaum mehr erwähnt. Die katho­li­sche Sozi­al­leh­re zum The­ma Armut war in den Kir­chen vor­ran­gig. Die mei­sten Prie­ster tausch­ten ihre Sou­ta­ne gegen ein schlich­tes schwar­zes Hemd mit römi­schem Kra­gen. Weih­rauch und Latein wur­den immer seltener.

In eini­gen Fra­gen stimm­te Johan­nes Paul II. die­sen libe­ral gesinn­ten Katho­li­ken zu. Er sprach sich gegen die Todes­stra­fe aus und setz­te sich für die Rech­te der Arbei­ter ein. Er pre­dig­te uner­müd­lich über Ver­ge­bung: „der Sau­er­stoff, der die Luft des Has­ses rei­nigt“. Er selbst ver­gab dem, der ihn ermor­den wollte.

Aber er war auch kom­pro­miß­los in bezug auf Dog­men, warn­te vor Ver­än­de­run­gen und ging hart mit libe­ra­len Theo­lo­gen ins Gericht. Er dräng­te auf eine Rück­kehr zu ver­ges­se­nen Ritualen.

Die Katho­li­ken „lau­fen Gefahr, ihren Glau­ben zu ver­lie­ren“, sag­te er bei der Abschluß­mes­se in Den­ver und pran­ger­te Abtrei­bung, Dro­gen­miß­brauch und „sexu­el­le Stö­run­gen“ an, eine kaum ver­hüll­te Anspie­lung auf die wach­sen­de Akzep­tanz der Rech­te von Homosexuellen.

Über­all im Land hör­ten jun­ge Katho­li­ken begei­stert zu.

Die New­man Cen­ters, die sich an katho­li­sche Col­lege-Stu­den­ten wen­den, wur­den immer belieb­ter. Das glei­che gilt für FOCUS, eine tra­di­tio­na­li­sti­sche Orga­ni­sa­ti­on, die auf den ame­ri­ka­ni­schen Col­lege-Cam­pus arbei­tet. Die kon­ser­va­ti­ven katho­li­schen Medi­en wuch­sen, ins­be­son­de­re der Kabel­fern­seh­sen­der EWTN, eine füh­ren­de Stim­me für mehr Rechtgläubigkeit.

Heu­te hat das kon­ser­va­ti­ve katho­li­sche Ame­ri­ka sei­ne eige­ne Kon­stel­la­ti­on von Online-Pro­mi­nen­ten, die sich an jun­ge Men­schen wen­den. Da gibt es Schwe­ster Miri­am James, eine immer lächeln­de Non­ne in vol­ler Ordens­tracht, die offen über ihre aus­ge­las­se­ne Par­ty­zeit am Col­lege spricht. Da ist Jackie Fran­cis Angel, die mit über­ra­schen­der Offen­heit über Sex, Ehe und Katho­li­zi­tät spricht. Da ist Mike Schmitz, ein Film­star-ähn­lich gut­aus­se­hen­der Prie­ster aus Min­ne­so­ta, der Freund­lich­keit aus­strahlt und gleich­zei­tig auf der Dok­trin besteht.

Selbst heu­te noch zei­gen Umfra­gen, daß die Mehr­heit der ame­ri­ka­ni­schen Katho­li­ken weit von der Ortho­do­xie ent­fernt ist. Die mei­sten unter­stüt­zen das Recht auf Abtrei­bung. Die gro­ße Mehr­heit benutzt Verhütungsmittel.

Aber die­se Katho­li­ken neh­men in der Kir­che nicht mehr zu.

Im Jahr 1970 gab mehr als die Hälf­te der ame­ri­ka­ni­schen Katho­li­ken an, min­de­stens ein­mal pro Woche zur Mes­se zu gehen. Nach Anga­ben von CARA, einem der George­town Uni­ver­si­ty ange­schlos­se­nen For­schungs­zen­trum, ist die­se Zahl bis 2022 auf 17 Pro­zent gesun­ken. Unter den Mil­len­ni­als sind es nur 9 Prozent.

Obwohl die katho­li­sche Bevöl­ke­rung in den USA auf mehr als 70 Mil­lio­nen ange­wach­sen ist, was zum Teil auf die Ein­wan­de­rung aus Latein­ame­ri­ka zurück­zu­füh­ren ist, neh­men immer weni­ger Katho­li­ken an den wich­tig­sten Riten der Kir­che teil. Die Zahl der Tau­fen von Klein­kin­dern ist laut CARA von 1,2 Mil­lio­nen im Jahr 1965 auf 440.000 im Jahr 2021 gesun­ken. Katho­li­sche Ehe­schlie­ßun­gen sind um mehr als zwei Drit­tel zurückgegangen.

Die sin­ken­den Zah­len bedeu­ten, daß die­je­ni­gen, die in der Kir­che blei­ben, im Ver­gleich zur gesam­ten katho­li­schen Bevöl­ke­rung einen enor­men Ein­fluß haben.

Auf natio­na­ler Ebe­ne domi­nie­ren die Kon­ser­va­ti­ven zuneh­mend die US-Kon­fe­renz der katho­li­schen Bischö­fe und die katho­li­sche Gei­stes­welt. Zu ihnen gehö­ren alle, vom phil­an­thro­pi­schen Grün­der von Domino’s Piz­za bis zu sechs der neun Rich­ter des Ober­sten Gerichts­hofs der USA.

Und dann ist da noch die Priesterschaft

Jun­ge Prie­ster, die sich von libe­ra­ler Poli­tik und pro­gres­si­ver Theo­lo­gie lei­ten las­sen, wie es in den 1960er und 1970er Jah­ren üblich war, sind „so gut wie ver­schwun­den“, heißt es in einem Bericht von The Catho­lic Pro­ject at Catho­lic Uni­ver­si­ty aus dem Jahr 2023, der auf einer Umfra­ge unter mehr als 3.500 Prie­stern beruht.

Die jun­gen Prie­ster von heu­te sind viel eher der Mei­nung, daß sich die Kir­che nach dem Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil zu sehr ver­än­dert hat und sie sich in den sich schnell ändern­den Ansich­ten Ame­ri­kas über alles ver­strickt hat, von der Rol­le der Frau bis hin zu LGBTQ-Personen.

„Es gibt wirk­lich nicht mehr vie­le Libe­ra­le in den Semi­na­ren“, sagt ein jun­ger, frisch geweih­ter Prie­ster aus dem Mitt­le­ren Westen. Er sprach unter der Bedin­gung der Anony­mi­tät, weil sei­ne Gemein­de in Auf­ruhr gera­ten war, nach­dem er sich für mehr ortho­do­xe Got­tes­dien­ste ein­ge­setzt hat­te. „Sie wür­den sich nicht wohl fühlen.“

Manch­mal voll­zieht sich der Wan­del zur Ortho­do­xie lang­sam. Viel­leicht gibt es etwas mehr Latein in der Mes­se oder eine gele­gent­li­che Erin­ne­rung, zur Beich­te zu gehen. Viel­leicht wer­den Gitar­ren in die Vor­abend­mes­se ver­legt oder ganz abgeschafft.

Und manch­mal kom­men die Ver­än­de­run­gen wie ein Wir­bel­wind und spal­ten die Gemein­den in die­je­ni­gen, die sich nach einem ehr­fürch­ti­ge­ren Katho­li­zis­mus seh­nen, und die­je­ni­gen, die das Gefühl haben, daß ihnen ihre gei­sti­ge Hei­mat genom­men wurde.

„Oh mein Gott, was ist da gera­de pas­siert?“, sag­te ein ande­res ehe­ma­li­ges Gemein­de­mit­glied von St. Maria Goret­ti, des­sen Fami­lie schließ­lich die Kir­che ver­ließ, und beschrieb damit die Beför­de­rung eines neu­en Pfar­rers im Jahr 2021 und die plötz­li­che Kon­zen­tra­ti­on auf Sün­de und Beichte.

Wie vie­le ehe­ma­li­ge Gemein­de­mit­glie­der sprach er nur unter der Bedin­gung der Anony­mi­tät, da er befürch­te­te, Freun­de, die noch in der Kir­che sind, zu ver­är­gern. Die Geist­li­chen der Diö­ze­se reagier­ten nicht auf Bit­ten um Interviews.

„Ich bin mein gan­zes Leben Katho­lik. Ich bin damit auf­ge­wach­sen, jeden Sonn­tag in die Kir­che zu gehen“, sag­te er. „Aber so etwas habe ich noch nie gesehen.“

Die neue Sichtweise hat sich in den gesamten Vereinigten Staaten verbreitet

In Kir­chen von Min­ne­so­ta bis Kali­for­ni­en haben Gemein­de­mit­glie­der gegen die von den neu­en kon­ser­va­ti­ven Prie­stern ein­ge­führ­ten Ände­run­gen pro­te­stiert. In Cin­cin­na­ti kam es dazu, als der neue Pfar­rer die Gos­pel­mu­sik und das afri­ka­ni­sche Trom­meln abschaff­te. In einer Klein­stadt in North Caro­li­na wur­de die latei­ni­sche Spra­che stark betont. In Ost­te­xas war es ein rechts­ge­rich­te­ter Bischof3, der vom Vati­kan abge­setzt wur­de, nach­dem er Papst Fran­zis­kus beschul­digt hat­te, die kirch­li­chen Leh­ren zu untergraben.

Jedes die­ser Ereig­nis­se mag wie ein wei­te­res Schar­müt­zel in den kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Kämp­fen erschei­nen, die in den USA toben.

Aber die Bewe­gung, ob man sie nun kon­ser­va­tiv, ortho­dox, tra­di­tio­na­li­stisch oder authen­tisch nennt, läßt sich nur schwer definieren.

Sie reicht von Katho­li­ken, die mehr Weih­rauch wol­len, bis zu Anhän­gern der latei­ni­schen Mes­se und sol­chen, die alte Gebe­te wie­der­be­lebt haben, in denen der „treu­lo­se Jude“ erwähnt wird. Es gibt rechts­ge­rich­te­te Prep­per, pro­mi­nen­te Exor­zi­sten, über­zeug­te Natur­schüt­zer und eine Hand­voll Quasi-Sozialisten.

Es gibt die katho­li­schen Medi­en, die gegen die „böse Entou­ra­ge“ des Vati­kans wet­tern, und den Klein­stadt­prie­ster aus Wis­con­sin, der COVID-19 mit einer jahr­hun­der­te­al­ten Pro­phe­zei­ung in Ver­bin­dung bringt und vor einer bevor­ste­hen­den Dik­ta­tur warnt. Kürz­lich fand das „Catho­lic Pray­er for Trump“ statt, ein Abend­essen im Wert von 1.000 Dol­lar pro Tel­ler im Mar-a-Lago-Resort des ehe­ma­li­gen Prä­si­den­ten in Flo­ri­da, an dem eine Rei­he von Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kern teilnahmen.

Doch die ortho­do­xe Bewe­gung kann auch als ein Gewirr aus Ver­ge­bung und Stren­ge erschei­nen, in dem sich das Behar­ren auf Barm­her­zig­keit und Freund­lich­keit mit War­nun­gen vor der Ewig­keit in der Höl­le vermischt.

Über der ame­ri­ka­ni­schen Spal­tung schwebt Papst Fran­zis­kus, der die Welt­kir­che zu mehr Inklu­si­on gedrängt hat, auch wenn sie an den mei­sten Dog­men festhält.

Die ortho­do­xe Bewe­gung hat seit den ersten Tagen sei­nes Pon­ti­fi­kats ner­vös auf ihn geschaut, ver­är­gert über sei­ne libe­ra­le­ren Ansich­ten zu The­men wie gleich­ge­schlecht­li­che Bezie­hun­gen und Schei­dung. Eini­ge leh­nen ihn sogar ganz ab.

Der Papst macht sich offen­sicht­lich Sor­gen um Amerika.

Die ame­ri­ka­ni­sche Kir­che hat „eine sehr star­ke reak­tio­nä­re Hal­tung“, sag­te er im ver­gan­ge­nen Jahr einer Grup­pe von Jesui­ten. „Rück­wärts zu schau­en ist sinnlos.“

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Die­se neue Visi­on des katho­li­schen Ame­ri­kas kann man bei latei­ni­schen Mes­sen in Mil­wau­kee erle­ben, wo die Kir­chen­bän­ke selbst an Wochen­ta­gen zur Mit­tags­zeit voll besetzt sind. Man fin­det sie auf Kon­fe­ren­zen in der kali­for­ni­schen Wein­ge­gend, in wie­der­be­leb­ten Pfar­rei­en in Ten­nes­see und in Gebets­grup­pen in Washing­ton DC.

Und sie fin­det an einer klei­nen Uni­ver­si­tät in Kan­sas statt, die hoch auf einer Klip­pe über dem Mis­sou­ri River liegt.

Auf den ersten Blick scheint das Bene­dic­ti­ne Col­lege nichts Unge­wöhn­li­ches zu sein.

Stu­den­ten machen sich Gedan­ken über unfer­ti­ge Essays und die Kom­ple­xi­tät der Part­ner­su­che. An war­men Herbst­nach­mit­ta­gen tra­gen sie abge­schnit­te­ne Shorts. Fuß­ball wird groß­ge­schrie­ben. Das Essen in der Cafe­te­ria ist mittelprächtig.

Aber schau­en wir genau­er hin.

An der Bene­dik­ti­ner­hoch­schu­le kann die katho­li­sche Leh­re über Emp­fäng­nis­ver­hü­tung zu einer Lek­ti­on über Pla­ton wer­den, und nie­mand ist über­rascht, wenn man sich frei­wil­lig zum Gebet um 3 Uhr mor­gens mel­det. Por­no­gra­fie, vor­ehe­li­cher Sex und Son­nen­ba­den in Bade­klei­dung sind verboten.

Auch wenn die­se Regeln wie Vor­schrif­ten aus einer ver­gan­ge­nen Ära erschei­nen, hat das die Stu­den­ten nicht davon abge­hal­ten, in Scha­ren an das Bene­dic­ti­ne Col­lege und ande­re kon­ser­va­ti­ve katho­li­sche Col­leges zu strömen.

In einer Zeit, in der die Stu­den­ten­zah­len in den USA rück­läu­fig sind, hat das Bene­dic­ti­ne in den ver­gan­ge­nen 15 Jah­ren vier neue Wohn­hei­me, eine neue Men­sa und ein aka­de­mi­sches Zen­trum errich­tet. Eine rie­si­ge neue Biblio­thek befin­det sich im Bau. Der Lärm der Bau­trupps scheint kein Ende zu nehmen.

Die Zahl der Imma­tri­ku­la­tio­nen hat sich in den letz­ten 20 Jah­ren ver­dop­pelt und liegt jetzt bei etwa 2.200.

Die Stu­den­ten, von denen vie­le in kon­ser­va­ti­ven katho­li­schen Fami­li­en auf­ge­wach­sen sind, nen­nen es scherz­haft „the Bene­dic­ti­ne bubble“. Und es könn­te ein Fen­ster in die Zukunft der katho­li­schen Kir­che in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten sein.

In einem zutiefst säku­la­ren Ame­ri­ka, in dem eine stän­dig in Auf­ruhr befind­li­che Kul­tur nur weni­ge abso­lu­te Ant­wor­ten bie­tet, bie­tet das Bene­dic­ti­ne die Gewiß­heit der Klarheit.

„Natür­lich sind wir nicht immer alle einer Mei­nung“, sagt John Wel­te, ein Stu­dent der Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten und Phi­lo­so­phie. „Aber ich wür­de sagen, daß jeder ein Ver­ständ­nis für die Wahr­heit hat.“

„Es gibt bestimm­te Din­ge, von denen jeder wis­sen kann: Das ist rich­tig und das ist falsch.“

Manch­mal, so geben die Leu­te hier lei­se zu, gehen man­che auch zu weit. Wie die Stu­den­ten, die laut­stark ver­kün­den, wie oft sie zur Mes­se gehen, oder der jun­ge Mann, der sein Stu­di­um der klas­si­schen Phi­lo­lo­gie abbrach, weil er sich wei­ger­te, die Wer­ke der alten grie­chi­schen Hei­den zu lesen.

Sehr häu­fig wird hier von den Schrif­ten des hei­li­gen Tho­mas von Aquin aus dem 13. Jahr­hun­dert gespro­chen, der glaub­te, daß Gott im Wah­ren, Guten und Schö­nen gefun­den wer­den kann. Manch­mal, so heißt es, bedeu­tet das, Gott in stren­gen Grund­sät­zen über die Sexua­li­tät zu fin­den. Manch­mal auch in der ein­dring­li­chen Schön­heit des Gre­go­ria­ni­schen Gesangs.

„Es ist eine Erneue­rung eini­ger wirk­lich guter Din­ge, die wir viel­leicht ver­lo­ren haben“, sagt Made­line Hays, eine nach­denk­li­che 22jährige Biologiestudentin.

Sie nimmt die Kir­chen­re­geln ernst, vom vor­ehe­li­chen Sex bis zur Beich­te. Sie kann die moder­ne Kir­chen­ar­chi­tek­tur nicht aus­ste­hen. Sie erwägt ernst­haft, Ordens­frau zu wer­den.
Aber sie macht sich auch Sor­gen über die Armut und die Ver­schwen­dung in Ame­ri­ka und die Art und Wei­se, wie Ame­ri­ka­ner – sie selbst ein­ge­schlos­sen – in poli­ti­sche Spal­tun­gen ver­wickelt wer­den kön­nen, ohne es zu wissen.

Sie ringt mit ihrem Glau­ben an eine unfehl­ba­re katho­li­sche Dok­trin, die gute Men­schen, ein­schließ­lich eini­ger ihrer eige­nen Freun­de, als Sün­der anse­hen kann.

Den­noch will sie kei­ne Veränderung.

„Die Kir­che wäre nicht die Kir­che, wenn sie die Din­ge ändern wür­de: Was sie als unfehl­ba­re Leh­re fest­ge­legt hat, wird sich auch in Jahr­hun­der­ten nicht ändern“, sagt sie.

Das ver­ste­hen sie in der klei­nen, ver­schlos­se­nen Homo-Gemein­schaft von Bene­dic­ti­ne. Wie der einst tief reli­giö­se jun­ge Mann, der still­schwei­gend dar­un­ter lei­det, daß die Leu­te auf dem Cam­pus bei­läu­fig schwu­len­feind­li­che Belei­di­gun­gen ausstoßen.

Schon oft hat er dar­an gedacht, die Schu­le zu ver­las­sen, aber die groß­zü­gi­ge finan­zi­el­le Unter­stüt­zung hält ihn hier. Und nach vie­len Jah­ren hat er sei­ne Sexua­li­tät akzep­tiert.
Er hat gese­hen, wie viel Freu­de die Bene­dik­ti­ner­hoch­schu­le den Men­schen brin­gen kann und wie eini­ge nach ihrem Abschluß nach Atchison zurück­keh­ren, nur um in ihrer Nähe zu bleiben.

Aber er nicht.

„Ich glau­be nicht, daß ich jemals wie­der nach Atchison zurück­keh­ren wer­de, nie und nimmer.“

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Jahr­zehn­te­lang füll­ten sich die Kir­chen­bän­ke von St. Maria Goret­ti mit den Fami­li­en von Klemp­nern, Inge­nieu­ren und Pro­fes­so­ren der Uni­ver­si­ty of Wis­con­sin nur ein paar Kilo­me­ter an der Stra­ße ent­fernt. Die Kir­che ist eine Insel des gepfleg­ten Katho­li­zis­mus, ein­ge­bet­tet in die grü­nen Wohn­stra­ßen einer der libe­ral­sten Städ­te Amerikas.

Wie so vie­le ande­re Kir­chen­ge­mein­den wur­de sie von den Idea­len der 1960er und 1970er Jah­re geprägt. Armut und sozia­le Gerech­tig­keit waren eng mit den Pre­dig­ten und dem Gemein­de­le­ben ver­wo­ben. Homo­se­xu­el­le fühl­ten sich will­kom­men. Eini­ge der mora­li­schen Abso­lut­hei­ten der Kir­che, wie das Ver­bot der Emp­fäng­nis­ver­hü­tung, wur­den zu ver­ges­se­nen Dogmen.

Der Wan­del kam 2003 mit dem neu­en Bischof Robert C. Mor­li­no, einem beken­nen­den Kon­ser­va­ti­ven. Vie­le Libe­ra­le erin­nern sich an ihn als den Mann, der gegen die moder­ne Hym­ne der Will­kom­mens­bot­schaft „All are wel­co­me“ wetterte.

Sein Nach­fol­ger, Bischof Donald J. Hying4, hält sich von öffent­li­chen Kämp­fen fern. Doch in vie­ler­lei Hin­sicht führt er Mor­li­nos Erbe im stil­len fort und warnt vor dem „ver­wor­re­nen Den­ken des Modernismus“.

Im Jahr 2021 ernann­te Hying Rever­end Scott Emer­son, einen ehe­ma­li­gen engen Mit­ar­bei­ter von Mor­li­no, zum Pfar­rer der Kir­che in Madison.

Die Pfarr­an­ge­hö­ri­gen beob­ach­te­ten, man­che erfreut, ande­re beun­ru­higt, wie ihr geist­li­ches Zuhau­se umge­stal­tet wurde.

Es gab mehr Weih­rauch, mehr Latein, mehr Reden über Sün­de und Beichte.

Nicht alle von Emer­sons Pre­dig­ten sind Feu­er und Schwe­fel. Er spricht oft von Ver­ge­bung und Mit­ge­fühl. Aber sein Ton hat vie­le lang­jäh­ri­ge Gemein­de­mit­glie­der schockiert.

In einem Got­tes­dienst im Jahr 2023 sag­te er, man müs­se sich vor der „geist­li­chen Ver­derb­nis der welt­li­chen Laster“ schüt­zen. Er warn­te vor „Athe­isten, Jour­na­li­sten, Poli­ti­kern, exkom­mu­ni­zier­ten Katho­li­ken“, die, wie er sag­te, die Kir­che unterminierten.

Für eini­ge waren Emer­sons Ände­run­gen willkommen.

„Vie­le von uns sag­ten: ‚Hey, mehr Beich­te! Gut!‘“, sag­te Rou­leau, der die Grup­pe jun­ger Erwach­se­ner in der Gemein­de lei­tet. „Bes­se­re Musik!“

Aber die Pfar­rei, die Mit­te 2023 im Rah­men einer diö­ze­san­wei­ten Umstruk­tu­rie­rung Teil einer Zwei-Kir­chen-Pasto­ral­ein­heit wur­de, schrumpf­te rapide.

Seit Jahr­zehn­ten haben sich vie­le tra­di­tio­nel­le Katho­li­ken gefragt, ob die Kir­che auf einen klei­ne­ren, aber treue­ren Kern schrump­fen wür­de – und viel­leicht auch sollte.

In gewis­ser Wei­se sieht St. Maria Goret­ti heu­te genau so aus. Die Frei­tags­mes­se um 6.30 Uhr in der Früh, sagt Rou­leau, ist bei jun­gen Leu­ten immer belieb­ter. Aber bei den einst vol­len Sonn­tags­mes­sen sind die Bän­ke jetzt leer. Die Spen­den sind rück­läu­fig. Die Zahl der Schul­an­mel­dun­gen ist stark zurückgegangen.

Eini­ge von jenen, die die Pfar­rei ver­lie­ßen, gin­gen zu libe­ra­le­ren Gemein­den. Eini­ge schlos­sen sich pro­te­stan­ti­schen Kir­chen an. Eini­ge gaben die Reli­gi­on ganz auf.

„Ich bin nicht mehr katho­lisch“, sag­te Ham­mond, die Frau, die ging, als die kirch­li­che Schu­le sich zu ver­än­dern begann. „Nicht ein­mal ein klei­nes biß­chen mehr.“

Doch Emer­son besteht dar­auf, daß die Kri­ti­ker der katho­li­schen Kir­che eines Bes­se­ren belehrt wer­den.
„Wie vie­le haben über die Kir­che gelacht und ver­kün­det, daß sie über­holt sei, daß ihre Tage vor­bei sei­en und sie sie begra­ben wür­den“, sag­te er bei einer Mes­se im Jahr 2021.

„Die Kir­che“, sag­te er, „hat jeden ihrer Toten­grä­ber begraben.“

Übersetzung/​Fußnoten: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: New Lit­ur­gi­cal Movement/​AP (Screen­shots)


1 Gemeint ist die Zwil­lings­stadt Min­nea­po­lis im Staat Min­ne­so­ta und St. Paul im Staat Wis­con­sin, die durch den Mis­sis­sip­pi getrennt sind.

2 Ein Wort­spiel, das der Autor nicht ganz ver­stan­den haben könn­te: radi­kal von radix, pl. radi­ces, Wur­zeln.

3 Bischof Joseph Edward Strick­land, Jg. 1958, war seit 2012 Bischof von Tyler in Texas, bis ihn Papst Fran­zis­kus ohne Nen­nung von Grün­den am 11. Novem­ber 2023 sei­nes Amtes ent­hob, nach­dem Msgr. Strick­land zuvor deut­li­che Wor­te der Kri­tik am Pon­ti­fi­kat von Fran­zis­kus geäu­ßert hatte.

4 Bischof Donald Hying wur­de 2019 von Papst Fran­zis­kus zum Bischof von Madi­son ernannt.

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