Die Erklärung Dignitas Infinita und das Geheimnis der Kirche in unserer Zeit

Ein Dokument mit Unzulänglichkeiten, aber auch zentralen Aussagen


Dignitas infinita über die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen ist ein wichtiges Dokument, das als solches anzuerkennen ist
Dignitas infinita über die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen ist ein wichtiges Dokument, das als solches anzuerkennen ist

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Am 8. April 2024 hat das Dik­aste­ri­um für die Glau­bens­leh­re unter der Lei­tung von Kar­di­nal Víc­tor Manu­el Fernán­dez die Erklä­rung Digni­tas infi­ni­ta über die Men­schen­wür­de ver­öf­fent­licht, die von Papst Fran­zis­kus „ex audi­en­tia“ geneh­migt wur­de. Kar­di­nal Fernán­dez, der sich in der Ein­lei­tung der Erklä­rung über deren Ent­ste­hung aus­läßt, stellt klar, daß das erste Grund­ge­rüst des Tex­tes aus dem Jahr 2019 stammt und auf sei­nen Vor­gän­ger, Kar­di­nal Luis Fran­cis­co Lada­ria Fer­rer, zurückgeht.

Die „unend­li­che Wür­de“, die der Erklä­rung ihren Titel gibt, hat ihre Grund­la­ge in der klas­si­schen Defi­ni­ti­on der Per­son als „indi­vi­du­el­le Sub­stanz der ver­nünf­ti­gen Natur“ gemäß der klas­si­schen For­mel von Seve­ri­nus Boe­thi­us (Nr. 9). Das Doku­ment kri­ti­siert „die Miß­ver­ständ­nis­se“ jener, die glau­ben, daß „es bes­ser ist, den Aus­druck ‚per­sön­li­che Wür­de‘ (und Rech­te ‚der Per­son‘) anstel­le von ‚Men­schen­wür­de‘ (und Men­schen­rech­te) zu ver­wen­den“ (Nr. 24), indem Wür­de und Rech­te aus der Fähig­keit zu Erkennt­nis und Frei­heit abge­lei­tet wer­den, mit der nicht alle Men­schen aus­ge­stat­tet sind. „Das unge­bo­re­ne Kind hät­te dem­nach kei­ne per­sön­li­che Wür­de, eben­so wenig wie ein unselb­stän­dig gewor­de­ner alter Mensch, oder jemand mit einer gei­sti­gen Behin­de­rung. Die Kir­che besteht im Gegen­teil auf der Tat­sa­che, daß die Wür­de jeder mensch­li­chen Per­son, gera­de weil ihr untrenn­bar ver­bun­den, ‚jen­seits aller Umstän­de‘ bleibt und ihre Aner­ken­nung in kei­ner Wei­se von der Beur­tei­lung der Fähig­keit zu Erkennt­nis und zu frei­em Han­deln einer Per­son abhän­gen kann“ (ebd.).

Hier sind wir weit ent­fernt von einem gewis­sen Per­so­na­lis­mus, der den Anspruch erhebt, die Men­schen­wür­de und die Men­schen­rech­te auf die „Per­son“ und nicht auf die mensch­li­che Natur zu grün­den. Die Bekräf­ti­gung des Natur­rechts ist ein Eck­pfei­ler des Doku­ments. Aus die­sem Grund bekräf­tigt Digni­tas Infi­ni­ta gegen­über den soge­nann­ten „neu­en Rech­ten“: „Viel­mehr beruht die Ver­tei­di­gung der Men­schen­wür­de auf kon­sti­tu­ti­ven For­de­run­gen der mensch­li­chen Natur, die weder von indi­vi­du­el­ler Will­kür noch von gesell­schaft­li­cher Aner­ken­nung abhän­gen. Die Pflich­ten, die sich aus der Aner­ken­nung der Wür­de des ande­ren erge­ben, und die ent­spre­chen­den Rech­te, die sich dar­aus ablei­ten, haben daher einen kon­kre­ten und objek­ti­ven Inhalt, der auf der gemein­sa­men mensch­li­chen Natur beruht“ (Nr. 25).

Kar­di­nal Fernán­dez beton­te bei der Vor­stel­lung des Doku­ments, daß der Papst dar­um gebe­ten habe, bestimm­te The­men, die ihm am Her­zen lägen, in dem Doku­ment her­vor­zu­he­ben: das Dra­ma der Armut, die Situa­ti­on der Migran­ten, die Gewalt gegen Frau­en, der Men­schen­han­del, der Krieg und ande­re. Alle Beob­ach­ter beton­ten jedoch, daß der wich­tig­ste Teil der Erklä­rung der ist, der den Ver­let­zun­gen der Men­schen­wür­de gewid­met ist, die in der heu­ti­gen Welt gegen das Leben und die Fami­lie began­gen werden.

In bezug auf die Abtrei­bung „hört die Kir­che nicht auf, dar­an zu erin­nern, daß ‚die Wür­de eines jeden Men­schen einen intrin­si­schen Cha­rak­ter hat und sie gilt von der Emp­fäng­nis bis zum natür­li­chen Tod‘ “ (Nr. 47). Das Doku­ment zitiert Johan­nes Paul II. in Evan­ge­li­um Vitae und bekräf­tigt: „Doch kein Wort ver­mag die Rea­li­tät der Din­ge zu ändern: die vor­sätz­li­che Abtrei­bung ist, wie auch immer sie vor­ge­nom­men wer­den mag, die beab­sich­tig­te und direk­te Tötung eines mensch­li­chen Geschöp­fes in dem zwi­schen Emp­fäng­nis und Geburt lie­gen­den Anfangs­sta­di­um sei­ner Exi­stenz“ (ebd.).

Beson­ders bedeut­sam ist die Ver­ur­tei­lung der Pra­xis der Leih­mut­ter­schaft, die „die Wür­de der Frau“ (Nr. 50) und „des Kin­des“ (Nr. 49) ver­letzt: „Das Kind hat kraft sei­ner unver­äu­ßer­li­chen Wür­de das Recht auf eine voll­stän­dig mensch­li­che und nicht künst­lich her­bei­ge­führ­te Her­kunft und auf das Geschenk eines Lebens, das zugleich die Wür­de des Gebers und des Emp­fän­gers zum Aus­druck bringt. […] In die­sem Sin­ne kann der legi­ti­me Wunsch, ein Kind zu bekom­men, nicht in ein „Recht auf ein Kind“ umge­wan­delt wer­den, das die Wür­de des Kin­des selbst als Emp­fän­ger der frei­en Gabe des Lebens nicht respek­tiert.“ Papst Fran­zis­kus for­dert eine Ver­pflich­tung, „daß sich die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft für ein welt­wei­tes Ver­bot die­ser Pra­xis ein­setzt“ (Nr. 48). Es sei dar­an erin­nert, daß in Ita­li­en ein Pro­jekt, das die Leih­mut­ter­schaft zu einem „all­ge­mei­nen Ver­bre­chen“ machen soll, von der Abge­ord­ne­ten­kam­mer gebil­ligt wur­de und nun im Senat dis­ku­tiert wird.

Er ver­ur­teil­te auch die Eutha­na­sie und die Bei­hil­fe zum Selbst­mord, „einen beson­de­ren Fall der Ver­let­zung der Men­schen­wür­de, der zwar lei­ser ist, aber immer mehr an Bedeu­tung gewinnt“. „Die­se heu­te weit ver­brei­te­te Ver­wechs­lung tritt bei der Dis­kus­si­on über die Eutha­na­sie zuta­ge. So wer­den Geset­ze, die die Mög­lich­keit der Ster­be­hil­fe oder des assi­stier­ten Sui­zids aner­ken­nen, manch­mal als „Geset­ze zum wür­de­vol­len Ster­ben“ („death with dignity acts“) bezeich­net. Es herrscht die weit ver­brei­te­te Auf­fas­sung, daß Ster­be­hil­fe oder Bei­hil­fe zum Sui­zid mit der Ach­tung der Wür­de des Men­schen ver­ein­bar sei­en. Ange­sichts die­ser Tat­sa­che muß mit Nach­druck bekräf­tigt wer­den, daß das Lei­den nicht dazu führt, daß der kran­ke Mensch die ihm inne­woh­nen­de und unver­äu­ßer­li­che Wür­de ver­liert, son­dern daß es zu einer Gele­gen­heit wer­den kann, die Ban­de der gegen­sei­ti­gen Zuge­hö­rig­keit zu stär­ken und sich der Kost­bar­keit eines jeden Men­schen für die gesam­te Mensch­heit bewuß­ter zu wer­den“ (Nr. 51).

Nach der Ver­ur­tei­lung der „Weg­werf-Kul­tur“ von Men­schen mit Behin­de­run­gen (Nr. 53) geht die Erklä­rung auf die Gen­der-Theo­rie ein, die sie als „sehr gefähr­lich“ bezeich­net, „weil sie in ihrem Anspruch, alle gleich zu machen, die Unter­schie­de aus­löscht“ (Nr. 56). „Über sich selbst ver­fü­gen zu wol­len, wie es die Gen­der-Theo­rie vor­schreibt, bedeu­tet unge­ach­tet die­ser grund­le­gen­den Wahr­heit des mensch­li­chen Lebens als Gabe nichts ande­res, als der uralten Ver­su­chung des Men­schen nach­zu­ge­ben, sich selbst zu Gott zu machen und in Kon­kur­renz zu dem wah­ren Gott der Lie­be zu tre­ten, den uns das Evan­ge­li­um offen­bart“ (Nr. 57). Die Gen­der-Theo­rie „ver­sucht, den größt­mög­li­chen Unter­schied zwi­schen Lebe­we­sen zu leug­nen: den der Geschlech­ter“ (Nr. 58). Die­se Ideo­lo­gie „stellt eine Gesell­schaft ohne Geschlechts­un­ter­schie­de in Aus­sicht und höhlt die anthro­po­lo­gi­sche Grund­la­ge der Fami­lie aus“ (Nr. 59). „Man darf nicht igno­rie­ren, daß ‚das bio­lo­gi­sche Geschlecht (sex) und die sozio­kul­tu­rel­le Rol­le des Geschlechts (gen­der) unter­schie­den, aber nicht getrennt wer­den [kön­nen]‘ “. … „Alle Ver­su­che, die den Hin­weis auf den unauf­heb­ba­ren Geschlechts­un­ter­schied zwi­schen Mann und Frau ver­schlei­ern, sind daher abzu­leh­nen“ (ebd.).

Eben­so radi­kal ist die Ver­ur­tei­lung der Geschlechts­um­wand­lung, die sich eben­falls auf „die Not­wen­dig­keit der Ach­tung der natür­li­chen Ord­nung der mensch­li­chen Per­son“ stützt (Nr. 60). Digni­tas infi­ni­ta bekräf­tigt, daß „jeder geschlechts­ver­än­dern­der Ein­griff in der Regel die Gefahr birgt, die ein­zig­ar­ti­ge Wür­de zu bedro­hen, die ein Mensch vom Moment der Emp­fäng­nis an besitzt“. Dies schließt natür­lich nicht aus, daß eine Per­son mit offen­sicht­li­chen Anoma­lien bei der Geburt sich dafür ent­schei­den kann, die­se Anoma­lien behe­ben zu las­sen, aber, wie das Doku­ment betont, „in die­sem Fall wür­de die Ope­ra­ti­on kei­ne Geschlechts­um­wand­lung dar­stel­len“ (ebd.).

In der Erklä­rung Digni­tas infi­ni­ta steht eine Aus­sa­ge im Wider­spruch zur katho­li­schen Leh­re: Die Todes­stra­fe wird nicht ver­ur­teilt, weil sie unan­ge­mes­sen ist, son­dern weil sie als inhä­rent unmo­ra­lisch ange­se­hen wird. Die stän­di­ge Leh­re der Kir­che, bis hin zum Kate­chis­mus von Johan­nes Paul II, bekräf­tigt hin­ge­gen ihre prin­zi­pi­el­le Recht­mä­ßig­keit. Es las­sen sich noch eini­ge ande­re Unzu­läng­lich­kei­ten auf­zei­gen, jedoch mit der Vor­sicht, die päpst­li­chen Doku­men­ten gegen­über gebo­ten ist. Es sei denn, man ent­deckt in ihnen Feh­ler oder Unklar­hei­ten, die den See­len direkt scha­den kön­nen, wie im Fall der Ermah­nung Amo­ris lae­ti­tia (2016) in bezug auf wie­der­ver­hei­ra­te­te Geschie­de­ne oder der Erklä­rung Fidu­cia sup­pli­cans (2023) in bezug auf die Seg­nung homo­se­xu­el­ler Paa­re. In die­sem Fall war und ist Wider­stand not­wen­dig. Wenn es jedoch stimmt, daß die Wor­te Bene­dikts XVI. und Johan­nes Pauls II. über die nicht ver­han­del­ba­ren Wer­te eine wich­ti­ge Hil­fe gegen die Dik­ta­tur des Rela­ti­vis­mus sind, ohne daß dies not­wen­di­ger­wei­se bedeu­tet, daß man sich jedem Akt oder jeder Aus­sa­ge die­ser Päp­ste anschlie­ßen muß, dann muß man auch die Leh­re von Papst Fran­zis­kus begrü­ßen, wenn sie auf der Linie sei­ner Vor­gän­ger liegt, wie es im jüng­sten Doku­ment der Fall ist. Die Geschich­te besteht aus Schat­ten und Licht, und man darf nicht ver­ges­sen, daß die Kir­che ein Geheim­nis ist, wie das Kreu­zes­op­fer, aus dem sie auf dem Kal­va­ri­en­berg gebo­ren wur­de (Pius XII., Anspra­che vom 4. Dezem­ber 1943). In der Stun­de der Ver­wir­rung, in der wir leben, muß die­ses Geheim­nis ange­nom­men und mit all unse­rer Barm­her­zig­keit und Fröm­mig­keit betrach­tet werden.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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