(Rom) Kardinal Gianfranco Ravasi wird heute 80 Jahre alt und verliert damit sein Recht, an einem künftigen Konklave teilzunehmen. Er scheidet damit nicht de jure, aber de facto auch als Papabile aus.
Vor wenigen Wochen wurde Ravasi als Vorsitzender des Päpstlichen Kulturrates von dem Portugiesen José Kardinal Tolentino abgelöst, den Papst Franziskus zum Präfekten des neuerrichteten Dikasteriums für Kultur und Bildung ernannte. In diesem Dikasterium wurden der Päpstliche Kulturrat und die Kongregation für das katholische Bildungswesen zusammengeführt.
Das Kardinalskollegium setzt sich nun aus 128 (129) Papstwählern und 98 (97) Nichtwählern über 80 zusammen. Das Kardinalskollegium wird insgesamt von 226 Kardinälen aus der ganzen Welt gebildet. Die unterschiedliche Zählweise ergibt sich aus der ungeklärten Position von Kardinal Angelo Becciu, der – nur soviel weiß die Öffentlichkeit – laut eigener Aussage im Herbst 2020 freiwillig auf eine Teilnahme an einem Konklave verzichten würde.
Gianfranco Ravasi wurde am 18. Oktober 1942 in der Nähe von Mailand geboren. Seine Mutter war Lehrerin, sein Vater Steuerbeamter und Antifaschist, der während des Zweiten Weltkriegs in Sizilien diente, später aber desertierte und 18 Monate lang brauchte, um sich während der deutschen Besetzung bis zu seiner Familie in Mailand durchzuschlagen, sodaß die Abwesenheit seines Vaters in einer entscheidenden Phase seines Lebens einer der Faktoren gewesen sein könnte, die ihn auf seiner Suche nach Beständigkeit und Sicherheit zu Gottvater und zur Religion geführt haben.
Aufstieg mit Eleganz und Stolpersteinen
Am 28. Juni 1966 wurde er zum Priester geweiht. Ravasi eilte der Ruf voraus, überdurchschnittlich intelligent zu sein, deshalb schickte ihn die Diözese Mailand zum Studium an die Päpstliche Universität Gregoriana (Theologie), das Päpstliche Bibelinstitut (Heilige Schrift) und die Hebräische Universität Jerusalem (Archäologie). Am Päpstlichen Bibelinstitut lehrte damals sein zukünftiger Erzbischof Carlo Maria Martini SJ, der ihn prägen sollte. Ravasi nahm anschließend die Lehrtätigkeit auf und wurde in die Päpstliche Bibelkommission berufen. Kardinal Martini ernannte ihn 1989 zum Direktor der Biblioteca Ambrosiana.
Ravasi wurde zum unermüdlichen, hochproduktiven Autor zahlreicher Bücher, meist über die Heilige Schrift. Das sollte auch der Grund sein, der ihm die Wertschätzung von Benedikt XVI. einbrachte, der eine „Schwäche“ für fachkundige Exegeten hat, auch wenn sie nicht immer orthodox sind. Der wirklich große Wurf sollte Ravasi allerdings nicht gelingen. Und es fehlte im Schlepptau der Martini-Schule nicht an Stolpersteinen. Nicht alle wurden ihm nachgetragen. So stellte er 1989 in einem Artikel für das katholische Wochenmagazin Famiglia Crstiana selbst die Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift in Frage, um eine jüdische Beteiligung an der Hinrichtung Jesu zu bestreiten. Der Vatikan schwieg dazu und wollte keine Bekanntschaft mit der Antisemitismus-Keule riskieren.
Einige Jahre später verlief es weniger glimpflich: Im Jahr 2005 galt Ravasi als sicherer Kandidat für das Amt des Bischofs von Assisi, aber die Bischofskongregation zog seine Kandidatur wegen eines Artikels über Ostern zurück, den Ravasi 2002 in der Wirtschaftszeitung Il Sole 24Ore veröffentlicht hatte mit der Aussage: „Er ist nicht auferstanden, er hat sich erhoben“, die als potentiell heterodox gewertet wurde. Bischof der Diözese Assisi (seit der 2021 von Papst Franziskus verfügten Zusammenlegung der Diözese Assisi-Nocera Umbra-Gualdo Tadino) wurde stattdessen der Liturgiker Msgr. Domenico Sorrentino, den Papst Benedikt XVI. gerade aus Rom wegbefördern wollte, da er liturgisch der Linie von Annibale Bugnini verpflichtet ist.
2007 beauftragte Benedikt XVI. Ravasi, obwohl dieser mehrfach sogar die Echtheit der Evangelien bezweifelte (etwa die tatsächliche Auferweckung des Lazarus von den Toten), die Karfreitagsmeditationen für den Kreuzweg am Kolosseum zu formulieren. Wenige Monate später ernannte ihn derselbe Papst zum Vorsitzenden des Päpstlichen Kulturrates und Titularerzbischof. Benedikt XVI. selbst spendete Ravasi die Bischofsweihe im Petersdom. Im Konsistorium vom 20. November 2010 wurde Ravasi dafür zum Kardinal ernannt und erhielt mit dem Purpur die römische Kirche San Giorgio in Velabro als Titelkirche und weitere Ämter an der Römischen Kurie zugewiesen. Er wurde Mitglied der Kongregation für das katholische Bildungswesen und der beiden Päpstlichen Räte für den interreligiösen Dialog und für die Förderung der Neuevangelisierung.
Von P wie Papabile zu P wie Pachamama
2011 startete Kardinal Ravasi die Initiative „Vorhof der Völker“ für den Dialog zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Die Initiative schien dem Wunsch Benedikts XVI. nach einer Neuevangelisierung des Westens zu entsprechen, erwies sich jedoch schnell als Flop, was Benedikt 2012 den Versuch unternehmen ließ, sie wieder auf Kurs zu bringen: nicht Dialog als Selbstzweck, sondern Evangelisierung.
Nach dem überraschenden Rücktritt von Benedikt XVI. galt Ravasi im Konklave von 2013 als Papabile, auch deshalb, weil Benedikt XVI. ihn kurz vor seiner Abdankung beauftragt hatte, der Römischen Kurie die Fastenexerzitien zu predigen.
Unter Papst Franziskus wurde es eher still um Kardinal Ravasi, dessen Kulturrat von Franziskus schrittweise durch Neuernennung umgebaut wurde. Messa in Latino schrieb 2014: „Während orthodoxe Kirchenvertreter aus dem Vatikan rausfliegen, werden Häretiker hineingeholt“. Die Anspielung war auf die Berufung eines spanischen Priesters zum Consultor des Kulturrates gemünzt, der sich selbst als „erotischen Buddhisten“ bezeichnete. Plötzlich standen auch Themen wie das „Frauenpriestertum“ und die Abschaffung des priesterlichen Zölibats auf der Tagesordnung.
2015 wurden verstörende Bilder von Kardinal Ravasi veröffentlicht, die seine Teilnahme an einem „Mutter-Erde“-Kult in Argentinien zeigten. Damals tauchte erstmals im größeren kirchlichen Kontext die Pachamama auf, die dann 2019 im Rahmen der Amazonassynode eine unrühmliche Rolle spielen sollte.
Ravasi und die Freimaurerei
Am 7. Februar 2016 wandte sich Kardinal Ravasi in einem offenen Brief, der wiederum in der Wirtschaftszeitung Il sole 24Ore veröffentlicht wurde, an die „lieben Brüder Freimaurer“ und forderte sie auf, die jahrelange Konfrontation zwischen Kirche und Loge zu überwinden. „Brücken und nicht Mauern“, schrieb der Kardinal, der bisher mit dem Dialog mit nichtgläubigen Suchenden befaßt war, nun aber den Brückenschlag zu einem destruktiven und antichristlichen Geheimbund versuchte. Ein Schritt, der ohne Einwilligung von Papst Franziskus nicht denkbar ist.
Der offene Brief ist so formuliert, daß die verschiedenen Erklärungen der katholischen Kirche zur Unvereinbarkeit einer Logenmitgliedschaft nicht in Frage gestellt werden, fügt aber hinzu, daß diese „den Dialog jedoch nicht verhindern“. Kardinal Ravasi rief dazu auf, die ablehnende Haltung „gewisser fundamentalistischer katholischer Kreise“ zu überwinden. Der Großmeister des Großorients von Italien, Stefano Bisi, zeigte sich hocherfreut. Die spanische Freimaurerei schrieb sogar von einem „Durchbruch“. Insgesamt war von freimaurerischer Seite viel von „gemeinsamen Werten“ die Rede. So wie Kardinal Ravasi die Freimaurer als „Brüder“ ansprach, dankte auch sie es ihm mit der Anrede „Ehrwürdiger Bruder“. Freimaurer nennen sich untereinander Brüder.
2017 meinte Kardinal Ravasi schließlich, ein Frauendiakonat „wäre möglich“, und sagte dies nicht ganz zufällig gegenüber Katholisch.de, dem Internetportal der deutschen Bischöfe.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/InfoVaticana/Il Sole 24Ore (Screenshot)