(Jerusalem) Während im Ukrainekrieg, aller Propaganda beider Seiten zum Trotz, sich beide Seiten bemühen, die sogenannten „Kollateralschäden“ zu vermeiden, also die Opfer unter der Zivilbevölkerung im Verhältnis so gering als möglich zu halten, gilt für den Gazastreifen das Gegenteil. So wahllos und grausam, wie die Hamas-Kämpfer bei ihrem Angriff Anfang Oktober 2023 vorgingen, so schonungslos und brutal gehen die israelischen Streitkräfte gegen die palästinensische Zivilbevölkerung vor. Für jeden getöteten Hamas-Kämpfer müssen mehr als 20 Zivilisten sterben. Ein Verhältnis, das nach allen zivilisatorischen Standards als inakzeptabel gilt. Dabei erhebt Israel den Anspruch, anders zu sein als die bekämpfte Hamas.
Der Zivilbevölkerung wird seit Beginn der Kämpfe zynisch empfohlen, sich aus dem Gazastreifen zu entfernen und in Schutz zu bringen. Diese Alternative bietet sich jedoch nicht, da sie damit von sich aus tun würde, was die derzeitige israelische Staatsführung anstrebt: die weitgehende ethnische Säuberung des Gazastreifens von Palästinensern. Eine Rückkehr für die Palästinenser, sobald sie die Grenze zu Ägypten überschritten haben, wird dann nicht mehr möglich sein, oder wie der Grünen-Politiker Volker Beck auf X (Twitter) vergangene Woche schrieb: „Welche Rückkehr? Die wird es nicht geben.“
Dem israelischen Militär wird vorgeworfen, vergangene Woche das Feuer auf Zivilisten eröffnet zu haben, die sich zur Ausgabe von Hilfsgütern versammelt hatten. Israels Regierung und Streitkräfte dementierten und sprachen von Selbstverteidigung. Die Reaktion der engsten Verbündeten, allen voran der USA, zeigt jedoch, daß diese Version nicht hält. Der in den vergangenen Tagen erfolgte Abwurf von Hilfsgütern mit Fallschirmen durch die USA, aber auch arabische Staaten, ist eine direkte Antwort auf das Blutbad. Plagt jemand das schlechte Gewissen?
Die Bestätigung kommt von den Patriarchen und Oberhäuptern der christlichen Kirchen des Heiligen Landes. Hier die Presseaussendung des Lateinischen Patriarchats von Jerusalem. Auf Patriarch Pierbattista Kardinal Pizzaballa OFM geht die Erklärung zurück:
„Augenzeugenberichten zufolge eröffneten die israelischen Streitkräfte in den frühen Morgenstunden des 29. Februar im Südwesten von Gaza-Stadt das Feuer auf eine Menge von Zivilisten, die versuchten, Säcke mit Mehl für ihre hungernden Familien zu erhalten. Das darauf folgende Blutbad forderte mehr als hundert Tote und Hunderte von Schwerverletzten. Ärzte vor Ort und die einweisenden Krankenhäuser berichteten, daß die meisten von ihnen durch Schüsse getötet oder verwundet wurden, während einige von der panischen Menge niedergetrampelt oder von LKWs mit Hilfsgütern angefahren wurden, die vor dem schrecklichen Geschehen flohen.
Obwohl Regierungssprecher zunächst versuchten, die Beteiligung der [israelischen] Soldaten an diesem Vorfall zu leugnen, lobte der israelische Minister für nationale Sicherheit nicht nur die IDF-Kämpfer [IDF = Israelische Streitkräfte] für ihr ‚hervorragendes‘ Verhalten, sondern versuchte auch, den Opfern die Schuld an ihrem eigenen Ableben zu geben, indem er sie beschuldigte, versucht zu haben, den schwer bewaffneten Soldaten Schaden zuzufügen. Dann griff er die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen an und forderte, daß sie eingestellt werden sollte.
Dieser Wunsch ist für die halbe Million Menschen, die sich noch in Gaza-Stadt aufhalten, bereits harte Realität geworden, da die Hilfslieferungen aufgrund der strengen Zugangsbeschränkungen und des Fehlens von Sicherheitseskorten für die Konvois fast zum Erliegen gekommen sind.
Vertreter humanitärer Organisationen haben so oft vor der durch die Belagerung verursachten Hungersnot im nördlichen Gazastreifen gewarnt, daß sich wohlmeinende ausländische Regierungen gezwungen sahen, als letzten Ausweg humanitäre Abwürfe aus der Luft durchzuführen. Diese bieten jedoch nur einen Bruchteil der Hilfe, die für die verbleibende Zivilbevölkerung benötigt wird, die größer ist als Tel Aviv, die zweitgrößte Stadt Israels.
Nach den gestrigen schrecklichen Ereignissen und ihrem grausamen Kontext verurteilen wir, die Patriarchen und Kirchenoberhäupter in Jerusalem, diesen rücksichtslosen Angriff auf unschuldige Zivilisten und rufen die Kriegsparteien zu einem sofortigen und anhaltenden Waffenstillstand auf, der die rasche Verteilung von Hilfsgütern im gesamten Gazastreifen und die Umsetzung einer ausgehandelten Freilassung der Gefangenen ermöglicht.
Indem wir diese Bitten im Namen aller unschuldigen Menschen, die unter dem Krieg leiden, zum Ausdruck bringen, übermitteln wir den christlichen Gemeinschaften im Gazastreifen, die von uns seelsorglich betreut werden, unsere besonderen Gebete der Unterstützung. Dazu gehören die mehr als 800 Christen, die seit fast fünf Monaten in den Kirchen des Heiligen Porphyrios und der Heiligen Familie in Gaza-Stadt Zuflucht gefunden haben. Ebenso bringen wir unsere Solidarität mit den unerschrockenen Mitarbeitern und Freiwilligen des anglikanisch geführten Ahli Hospitals und den Patienten, die sie versorgen, zum Ausdruck.
Mit diesem Appell verbinden wir die Hoffnung, daß das Ende der Feindseligkeiten, die Freilassung der Gefangenen und die Fürsorge für die Unterdrückten einen Horizont für ernsthafte diplomatische Gespräche eröffnen, die schließlich zu einer gerechten und dauerhaften Lösung hier in dem Land führen, in dem unser Herr Jesus Christus zuerst Sein Kreuz für uns auf sich genommen hat. Möge Gott uns allen Seine Gnade gewähren, wenn wir versuchen, diese hoffnungsvolle Ostervision zu verwirklichen.
Die Patriarchen und Oberhäupter der Kirchen von Jerusalem“
Text/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons