Von Wolfram Schrems*
Die Ungereimtheiten um die Identität von Sr. Lucia dos Santos sind bereits in zwei Artikeln (vom 21. September und vom 12. Oktober) ausführlich dargelegt worden. Es kann kein vernünftiger Zweifel bestehen, daß das vorliegende Bild- und Filmmaterial auf die Existenz zweier Individuen hindeutet. Das wirft natürlich schwerwiegende Fragen auf. Diese sind im folgenden aber nicht das Thema, hier soll es um die inhaltlichen Unterschiede bzw. Widersprüche gehen, die ebenfalls auf zwei Individuen hindeuten: Was sind die Aussagen der „neuen“ Sr. Lucia, also ab dem Auftritt am 13. Mai 1967 mit Papst Paul VI. in Fatima, und wie stehen sie zu den älteren Aussagen der „alten“ Sr. Lucia bis zu jenem berühmten und hier schon oft erwähnten Interview mit P. Fuentes am 26. Dezember 1957?
Um es gleich zu sagen: Die Aussagen widersprechen einander. Die nachkonziliare „Sr. Lucia“ hatte die Botschaften der „nachkonziliaren“ Kirche zu verkünden und hatte deswegen die Botschaft von Fatima entsprechend angepaßt.
Ich greife für diese Untersuchung auf die neuesten Beiträge von Dr. Peter Chojnowski zurück (hier und hier). Manche Passagen des folgenden Textes sind mehr oder weniger wortgetreue Übersetzungen der Arbeiten Chojnowskis.
Um die Unterschiede in den Aussagen der „alten“ und der „neuen“ Sr. Lucia adäquat zu verstehen, zuerst ein Rückblick auf den 13. Juli 1917:
Der Kern der Fatimabotschaft: Weihe Rußlands und Verbreitung der Sühnesamstage
In der dritten Erscheinung offenbarte Unsere Liebe Frau das Fatimageheimnis, das aus drei Teilen besteht, und kündigte das Sonnenwunder an (das dann am 13. Oktober stattfinden wird). Der Kern des Fatimageheimnisses, nämlich das Heilmittel gegen die Übel der Zeit, ist eine hochspezifische Forderung an die Hierarchie der Kirche: die feierliche und öffentliche Weihe Rußlands an das Unbefleckte Herz Mariens durch den Heiligen Vater im Verein mit den Bischöfen der gesamten Welt und die Förderung der Sühnekommunion an den ersten Monatssamstagen ebenfalls durch den Papst und die gesamte Hierarchie. Die Konsequenzen für Kirche und Welt hängen davon ab, ob diese Forderung erfüllt wird oder nicht.
Es ist also wichtig zu verstehen, daß der Aufruf zu Buße und Gebet und die Forderung nach der Weihe Rußlands und der Andacht der Sühnesamstage außerhalb dieses bestimmten Kontextes keinen Sinn macht, da es ja kein allgemeiner Aufruf zur Heiligkeit ist, sondern ein spezifischer Aufruf für unsere Zeit. Dieser betrifft das Leben der Kirche und das Schicksal der Welt.
Dieser Aufruf wurde jedoch von der Hierarchie der Kirche nicht umgesetzt. Dieser Vorwurf trifft zunächst Pius XI. und Pius XII., wobei letzterer einige – halbherzige – Weiheakte vornahm, in den letzten Jahren seines Pontifikats aber Fatima nicht weiter förderte.
Etwa zeitgleich mit dem Tod von Papst Pius XII. nehmen die Ereignisse zudem generell eine seltsame Wendung.
Kirchliche Stellen gegen Fatima am Vorabend des Konzils
Das letzte öffentliche und nachvollziehbare Interview mit Sr. Lucia wurde, wie schon öfter festgehalten, von P. Agustín Fuentes am 26. Dezember 1957 geführt. Danach durfte Sr. Lucia keine weiteren Interviews mehr geben.
Das Fuentes-Interview wurde im Juni 1959 veröffentlicht.
P. Fuentes beschrieb die äußere Erscheinung von Sr. Lucia als „sehr traurig, blaß und ausgezehrt“. Ihm zufolge sagte sie:
„Die Strafe des Himmels steht unmittelbar bevor. Das Jahr 1960 ist nahe und was wird dann passieren? Wenn die Welt nicht betet und Buße tut, wird es für jeden traurig und keineswegs eine freudige Angelegenheit werden.“
Zwei Wochen nach der Veröffentlichung des Fuentes-Interviews begann eine Reihe verstörender Ereignisse. Diese warfen einen Schatten auf die Fatimabotschaft, als das Jahr 1960, somit das vom Himmel gewünschte Jahr der Veröffentlichung des Dritten Geheimnisses, näher rückte. Die Diözese Coimbra veröffentlichte eine Stellungnahme, die das Interview delegitimieren sollte. Sr. Lucia habe dieser Stellungnahme zufolge gesagt:
„Ich weiß nichts von solchen Strafen und daher kann ich über sie auch nichts sagen. Sie wurden mir fälschlicherweise in den Mund gelegt.“
Nach Angabe des Ordinariats Coimbra habe Sr. Lucia alles zum Thema Fatima gesagt und werde sich daher nicht mehr dazu äußern.
Am 13. September 1959, am 42. Jahrestag der fünften Erscheinung also, erwähnte Papst Johannes XXIII. Fatima mit keinem Wort, als Italien formell dem Unbefleckten Herzen geweiht wurde. Für viele war das ein Schock.
Danach veränderte der Vatikan, unter ihnen der als „konservativ“ geltende Kardinal Ottaviani, schrittweise die ursprüngliche Botschaft von Fatima. Was „die wahre Botschaft von Fatima“ sein sollte, war dann nur mehr ein vager Aufruf zu Bekehrung, Buße und Gebet. Der Kontext, nämlich die drei Geheimnisse und die Folgen für Kirche und Welt, wenn die betreffenden Forderungen nicht umgesetzt würden, wurden unsichtbar gemacht.
Damit war auch der Aufruf zum Gebet so gut wie wirkungslos geworden. Dies umso mehr, als ja utopische, optimistische und weltliche Theologien in Umlauf gebracht wurden und man in der Theologie „Abschied vom Teufel“ (Herbert Haag) nahm und von einer begründeten Hoffnung einer leeren Hölle (dazu zwei Bücher von Hans Urs von Balthasar) zu sprechen begann.
Die neue vatikanische Linie ignorierte besonders die wiederholten Warnungen und Beschwerden, die Sr. Lucia bezüglich der Weihe Rußlands vom Himmel empfing.
Kardinal Ottaviani erklärte am 11. Februar 1967, also etwa drei Monate vor dem öffentlichen Auftritt der „neuen“ Sr. Lucia, im Namen von Papst Paul VI., daß das Dritte Geheimnis nicht veröffentlicht werden würde. Die Gläubigen sollten sich, so Ottaviani, mit der „öffentlichen Botschaft“ von Gebet und Buße (im Gegensatz zu einer angeblich „für den Papst alleine reservierten Botschaft“) zufrieden geben. Auch diese Entgegensetzung ist eine Neuerung.
Ottaviani sagte, die Ängste, die von Fatima verursacht werden, müßten zerstreut werden. Fatima sei keine alarmierende Botschaft, sondern eine Botschaft der Hoffnung. Das Dritte Geheimnis sei ausschließlich an den Papst gerichtet. Johannes XXIII. und Paul VI. hätten große Weisheit in ihrer Entscheidung gezeigt, das Geheimnis nicht zu veröffentlichen. Er behauptete zudem, daß Fatima eine optimistische und hoffnungsfrohe Botschaft des Ökumenismus wäre (!).
Die Stellungnahmen der „neuen“ Sr. Lucia
In den schon erwähnten Interviews vom 11.10.92 und 11.10.93, die von dem kanadisch-portugiesischen Journalisten und Historiker Carlos Evaristo gedolmetscht wurden, widerspricht „Sr. Lucia“ fast allem, was sie zuvor gesagt hatte und gibt bizarre Stellungnahmen ab. Hier wird ein völlig neuartiges Verständnis der Fatimabotschaft eingeführt, das sich mit der Propaganda des Vatikans und des vatikanischen Konzils jedoch deckt. Die „neue“ Sr. Lucia bestreitet erstens plötzlich, daß das Dritte Geheimnis im Jahr 1960 hätte veröffentlicht werden sollen. Die echte Seherin hatte aber selbst immer gesagt, daß das Geheimnis entweder 1960 oder zu ihrem Ableben veröffentlicht werden sollte, je nachdem, welches Datum früher eintreten würde.
Die „neue“ Sr. Lucia behauptet zweitens (in Übereinstimmung mit dem Vatikan), daß das Geheimnis nur für den Papst bestimmt wäre, aber daß er es offenbaren könnte, wenn er wollte. Drittens erklärt sie, daß sie selbst gegen die Bekanntmachung des Dritten Geheimnisses sei. Auch das widerspricht allen Aussagen von ihr selbst vor 1960.
Sie behauptet viertens, daß die Weihe durch Johannes Paul II. am 25. März 1984 gültig gewesen sei, obwohl nicht alle Bischöfe involviert gewesen waren. Sie meinte auch, daß Rußland bei der Weihezeremonie nicht ausdrücklich erwähnt werden mußte (Rußland wurde bekanntlich tatsächlich von Johannes Paul II. nicht erwähnt), weil das Jahr 1929 (in welchem der Aufruf zur Weihe Rußlands konkret erging, nämlich in der Vision von Tuy) schon vorüber sei und sich die Irrtümer Rußlands bereits verbreitet hätten (!).
Das sind schreiende Widersprüche für eine Seherin, die sich früher häufig darüber beklagt hatte, daß die Päpste Pius XI. und Pius XII. den Wünschen der Gottesmutter nicht präzise gefolgt waren.
Darüber hinaus sagte die „neue“ Sr. Lucia, daß die Bekehrung Rußlands keine Hinwendung zum katholischen Glauben, nicht einmal zum Christentum, bedeuten würde. Die Bekehrung würde nur vom militanten Atheismus zum Status eines Landes erfolgen, das den freien Willen, den Gott den Menschen gegeben hat, respektiert, also die Freiheit, zwischen Gut und Böse zu wählen. [1]
Die Bekehrung Rußlands habe bereits stattgefunden, weil der atheistische Kommunismus verschwunden sei.
Die neue Sr. Lucia erklärt auch, daß der zweite Weltkrieg ein Krieg gegen die Juden gewesen sei, die aber „weiterhin das auserwählte Volk Gottes“ seien.
Diese Stellungnahme ist besonders befremdlich, weil von der echten Sr. Lucia keine Aussagen über die Juden bekannt sind. Jetzt aber verwendet sie genau die Formulierung, die Liberale und Modernisten unter dem Einfluß jüdischer Kreise am Vorabend des Konzils in die Kirche (über ihren Kontaktmann Kardinal Augustin Bea SJ) eingeführt hatten.
Angesichts des neutestamentlichen Befundes ist „das auserwählte Volk Gottes“ das Volk des neuen und ewigen Bundes. Zu diesem sind auch die Juden berufen. Abgesehen von Einzelkonversionen in Geschichte und Gegenwart wird diese Berufung kollektiv nicht angenommen und das Wirken der Kirche bekämpft (1 Thess 2,15f).
Gott hat aber nicht zwei „auserwählte Völker“. Und angesichts der überproportionalen Rolle von Juden in der Planung, Finanzierung und Durchführung der „Russischen Revolution“, also bei der Verbreitung der „Irrtümer Rußlands“ mit ihren vielen Millionen Toten, wäre diese Stellungnahme durch die echte Seherin undenkbar.
Dann erklärt die „neue“ Sr. Lucia, daß der „Triumph des Unbefleckten Herzens stattgefunden hat“. Er begann, als die Madonna das Leben von Johannes Paul II. am Petersplatz am 13. Mai 1981 rettete. Aber dann wird dieser „Triumph“ bedeutungslos gemacht, indem angefügt wird, daß „der Triumph ein stattfindender Prozeß“ sei.
Papst Benedikt wird im Jahr 2010 dieser Aussage widersprechen, aber im Vagen verbleiben.
Die „neue“ Sr. Lucia hat zum Schluß zu sagen, daß, „wer nicht mit dem Papst ist, nicht mit Gott ist“. Unter normalen Umständen ist für sich genommen dieser Aussage ja zuzustimmen. Im konkreten Kontext heißt das aber, daß die Gläubigen der spezifischen Politik der nachkonziliaren Päpste zuzustimmen hätten, auch und gerade im Fall der Fatimapolitik. Aber genau in dieser päpstlichen Politik bekundet sich eine Krise des petrinischen Amtes.
Und kann man sich vorstellen, daß der Himmel den Skandal von Assisi 1986 goutiert hätte, wenn er implizit sogar die marianischen Irrtümer bzw. Defizite von Protestanten und sogar (!) von Orthodoxen rügt und dafür Sühne verlangt (nämlich im Rahmen der Sühnesamstage)?
Die „vorkonziliaren“ Päpste haben nicht umgesetzt, was in Fatima verlangt worden war, die „nachkonziliaren“ auch nicht.
Heute betet man in Rom unter den Augen des Papstes südamerikanische Götzen an.
Fazit: Ein „Bischof in Weiß“ sollte sich äußern!
Das Auftreten einer „neuen“ Sr. Lucia ab 1967 zog eine „neue“ Fatimabotschaft mit sich. Diese neutralisierte die eigentliche Fatimabotschaft so gut wie vollständig. Diejenigen Zeitgenossen, die in den Jahren nach dem Konzil geboren worden sind, werden in ihrer Schulzeit und Jugend nichts mehr von ihr gehört haben.
Angesichts der fast vollständigen Wirkungslosigkeit von Fatima ist es ausgeschlossen, daß die Kirchenführung die echte Seherin ernsthaft konsultierte und ihre Forderungen ernstnahm. Diejenige Person, die 1967 mit Papst Paul VI. auftrat, war jemand anderer.
Die beiden Interviews mit „Sr. Lucia“ 1992 und 1993 erwiesen sich als Irreführung. Die Gesichtszüge der dort auftretenden „Sr. Lucia“ sind in keiner Weise derjenigen der bis 1948 bekannten ähnlich, im Gegenteil haben sie sogar einen als gewöhnlich zu bezeichnenden Zug.
Die Kardinäle Sodano, Bertone und Ratzinger trugen das ihre zur Vernebelung bei.
Nunmehr ist Papst emeritus Benedikt ein – wie es im Text zum Dritten Geheimnis heißt [2] – „in Weiß gekleideter Bischof“.
Als vor kurzem in kleinem Kreis die Rede darauf kam, daß Papst emeritus viel wissen muß, was zur Klärung vieler einschlägiger Fragen beitragen könnte, meinte einer der Anwesenden, daß vermutlich genau das der Grund sei, warum er „nicht sterben“ könne.
Er hat offenbar noch etwas auf dem Herzen. Er hat noch eine Aufgabe. Er sollte sie schnellstmöglich erfüllen.
*Wolfram Schrems, Wien, Mag. theol., Mag. phil., Katechist, seit der Lektüre von Mark Fellows Fatima in Twilight vor acht Jahren mit der Thematik beschäftigt
[1] Hier muß eine Formulierung in meinem Artikel vom 21. September revidiert werden. Ich hatte geschrieben: „Desgleichen sagt dort Sr. Lucia, daß die Bekehrung Rußlands keine Bekehrung zum katholischen Glauben oder zum Christentum wäre, sondern lediglich eine von einem schlechteren Zustand zu einem besseren (!).“ Letzterer Satzteil ist eine allzu freie Paraphrase.
[2] Nur in Fußnote sei vermerkt, daß die graphologischen Untersuchungen die Peter Chojnowski in Auftrag gegeben hat, darauf hinweisen, daß ein Bruch in der Handschrift von Sr. Lucia zwischen 1957 und 1967 stattgefunden hat. Der Text der Vision des Dritten Geheimnisses, das die Glaubenskongregation im Jahr 2000 veröffentlichte, stammt gemäß der graphologischen Untersuchung von der Sr. Lucia von vor dem Bruch. Damit erhärtet sich die Theorie von Antonio Socci, daß der Vatikan zwar den Originaltext der Vision des Geheimnisses publizierte, nicht aber den Text der erklärenden Worte der Muttergottes („The Fourth Secret of Fatima“).