Das sittliche Problem des Atomkrieges

Der Zweck heiligt nicht die Mittel


Atomkrieg Atombombe

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Der Krieg zwi­schen Isra­el und Iran, der sich mit jenem zwi­schen Ruß­land und der Ukrai­ne über­schnei­det, macht die inter­na­tio­na­le Lage zuneh­mend beun­ru­hi­gend. Wir las­sen hier­bei den histo­ri­schen, poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Kon­text, aus dem die­se Krie­ge her­vor­ge­gan­gen sind und sich wei­ter­ent­wickeln, bei­sei­te und ver­wei­len bei dem sitt­li­chen Pro­blem, das sich am Hori­zont abzeichnet.

In der Zeit des Kal­ten Krie­ges wur­de das Gleich­ge­wicht zwi­schen den bei­den Super­mäch­ten, den Ver­ei­nig­ten Staa­ten und der Sowjet­uni­on, durch die Stra­te­gie der Abschreckung, oder der soge­nann­ten wech­sel­sei­ti­gen gesi­cher­ten Ver­nich­tung (mutu­al assu­red des­truc­tion – MAD), gewähr­lei­stet. Die Atom­waf­fen stell­ten auf­grund ihres zer­stö­re­ri­schen Poten­ti­als ein Mit­tel dar, um den Feind von einem Angriff abzu­hal­ten, der eine ver­hee­ren­de Ant­wort zur Fol­ge gehabt hät­te. Die nuklea­ren Arse­na­le hat­ten als ein­zi­gen Zweck, „die Atom­waf­fen zunich­te­zu­ma­chen“ (Her­man Kahn, Phi­lo­so­phie des Atom­kriegs, dt. Ausg., Il Borg­he­se, Mai­land 1966, S. 138).

In der post­mo­der­nen Epo­che nach dem Zusam­men­bruch der Ber­li­ner Mau­er gibt es jedoch kei­ne all­ge­mein aner­kann­ten inter­na­tio­na­len Regeln mehr. Der Ein­satz nuklea­rer Waf­fen wird heu­te, bei­spiels­wei­se von Wla­di­mir Putin, als Mit­tel in Betracht gezo­gen, das mili­tä­ri­sche Ungleich­ge­wicht im Bereich kon­ven­tio­nel­ler Waf­fen aus­zu­glei­chen – oder, wie im Fal­le Irans, als stra­te­gi­sches Ziel zur Ver­nich­tung des Staa­tes Isra­el. Eine der Regeln der Abschreckung bestand einst dar­in, den Namen der Bom­be nicht leicht­fer­tig aus­zu­spre­chen. Die der­zeit zu beob­ach­ten­de ver­ba­le Eska­la­ti­on könn­te rascher zu einem tat­säch­li­chen Krieg füh­ren, als man es sich vor­stel­len kann.

Die grund­le­gen­de Fra­ge, die sich nun stellt, lau­tet: Wäre eine nuklea­re Ant­wort auf einen nuklea­ren Angriff sitt­lich erlaubt, oder ist ein Atom­krieg an sich und in sei­nem Wesen unmo­ra­lisch, wie es Papst Fran­zis­kus ver­tritt, der am 24. Novem­ber 2019 in Hiro­shi­ma erklär­te: „Der Ein­satz von Atom­ener­gie zu Kriegs­zwecken ist unmo­ra­lisch, eben­so wie der Besitz von Atom­waf­fen.“ Ist dies die Leh­re der Kirche?

Um die­ses kom­ple­xe mora­li­sche Pro­blem zu lösen, muß dar­an erin­nert wer­den, daß die Kir­che über ein Jahr­tau­send hin­weg die Recht­mä­ßig­keit eines Krie­ges aus gerech­tem Anlaß gelehrt hat. Die­se Leh­re wur­de nach Augu­sti­nus und Tho­mas von Aquin in ihren ver­schie­de­nen Aspek­ten von den gro­ßen Theo­lo­gen der spa­ni­schen Zwei­ten Scho­la­stik ent­wickelt, wie dem Domi­ni­ka­ner Fran­cis­co de Vito­ria (1492–1546) und dem Jesui­ten Fran­cis­co Suá­rez (1548–1617), und im 20. Jahr­hun­dert von bedeu­ten­den katho­li­schen Moral­theo­lo­gen und Sozio­lo­gen wie Pater Anto­nio Mes­si­neo (1897–1978) und Don Johan­nes Mess­ner (1891–1984) dargelegt.

Die Neu­zeit hat jedoch die Ent­ste­hung und Ent­wick­lung von Waf­fen wie der nuklea­ren, che­mi­schen und bak­te­rio­lo­gi­schen Kriegs­füh­rung (ABC-Waf­fen) her­vor­ge­bracht, die sich nicht nur in ihrer Spreng­kraft, son­dern auch in ihrem Wesen von kon­ven­tio­nel­len Waf­fen unter­schei­den. Sie sind Mit­tel unter­schieds­lo­ser Zer­stö­rung, die Unschul­di­ge oder auch Kom­bat­tan­ten in einem Maße schä­di­gen, das in kei­nem Ver­hält­nis zu den mili­tä­ri­schen Zie­len steht.

Papst Pius XII. befaß­te sich mit die­ser Fra­ge in meh­re­ren Anspra­chen, vor allem jedoch in sei­ner Rede am 30. Sep­tem­ber 1954 vor dem VII. Welt­kon­greß katho­li­scher Ärz­te, in der er fragt:

„Ist der moder­ne ‚tota­le Krieg‘, ins­be­son­de­re der ABC-Krieg, vom Prin­zip her erlaubt? Es kann kein Zwei­fel dar­an bestehen, vor allem ange­sichts der Schrecken und des unge­heu­ren Lei­dens, das der moder­ne Krieg ver­ur­sacht, daß sei­ne Ent­fes­se­lung ohne gerech­ten Grund (das heißt, wenn er nicht durch eine offen­sicht­li­che, schwer­wie­gen­de und in kei­ner Wei­se ver­meid­ba­re Unge­rech­tig­keit auf­ge­zwun­gen wird) ein Ver­bre­chen dar­stellt, das streng­ste natio­na­le und inter­na­tio­na­le Sank­tio­nen ver­dient. Eben­so darf die Fra­ge nach der sitt­li­chen Zuläs­sig­keit des Atom‑, Che­mie- oder Bak­te­ri­en­kriegs nur unter der Bedin­gung gestellt wer­den, daß sei­ne Anwen­dung als abso­lut not­wen­dig zur Ver­tei­di­gung ange­se­hen wird. Aber auch dann muß mit allen Mit­teln ver­sucht wer­den, ihn durch inter­na­tio­na­le Über­ein­kom­men zu ver­mei­den oder sei­nen Ein­satz auf sehr kla­re und enge Gren­zen zu beschrän­ken, damit sei­ne Wir­kun­gen auf das strik­te Not­wen­di­ge zur Ver­tei­di­gung beschränkt blei­ben. Wenn jedoch der Ein­satz die­ses Mit­tels eine sol­che Aus­wei­tung des Übels nach sich zieht, daß es voll­stän­dig der mensch­li­chen Kon­trol­le ent­glei­tet, muß sein Gebrauch als unmo­ra­lisch ver­wor­fen wer­den. In einem sol­chen Fall han­delt es sich nicht mehr um Ver­tei­di­gung gegen Unrecht oder um den not­wen­di­gen Schutz recht­mä­ßi­gen Besit­zes, son­dern um die ein­fa­che und schlich­te Ver­nich­tung allen mensch­li­chen Lebens im Wir­kungs­be­reich. Dies ist unter kei­nem Vor­wand erlaubt.“ (Dis­cor­si e Radio­mess­ag­gi, Bd. XVI, S. 169)

Der Gebrauch von ABC-Waf­fen, so läßt sich aus den Wor­ten Pius’ XII. schlie­ßen, ist nur dann erlaubt, wenn die­ser durch eine äußerst schwe­re, in kei­ner Wei­se ver­meid­ba­re Unge­rech­tig­keit erzwun­gen wird, und wenn es mög­lich ist, die Aus­wir­kun­gen zu kontrollieren.

Abbé Don Ber­nard de Laco­ste Larey­mon­die, Direk­tor des Semi­nars von Écô­ne der Prie­ster­bru­der­schaft St. Pius X., hat in einem Arti­kel aus dem Jah­re 2019 auf La Por­te Lati­ne die katho­li­sche Posi­ti­on zusammengefaßt:

„Nach dem fünf­ten Gebot Got­tes ist es nie­mals erlaubt, einen Unschul­di­gen unmit­tel­bar zu töten. Das ist in sich böse und eine Tod­sün­de gegen die Gerech­tig­keit. Des­halb ist es auch im Rah­men eines gerech­ten Krie­ges schwer­wie­gend unmo­ra­lisch, eine gro­ße Zahl von Zivi­li­sten zu töten, um den Feind zur Kapi­tu­la­ti­on zu zwin­gen. Wenn jedoch ein Unschul­di­ger indi­rekt getö­tet wird, ist die Fra­ge sub­ti­ler. Dies ist unter fol­gen­den Bedin­gun­gen erlaubt:

  1. Der Tod des Unschul­di­gen ist nicht gewollt, son­dern nur vor­her­ge­se­hen, erlaubt und gedul­det (Tho­mas von Aquin, Sum­ma Theo­lo­gi­ca, II–II, 64, 6);
  2. Der Tod des Unschul­di­gen bewirkt nicht das ange­streb­te Gute (Röm 3,8);
  3. Es liegt ein pro­por­tio­na­ler Grund vor (Sum­ma Theo­lo­gi­ca, II–II, 64, 7).“

„Letz­te­re Bedin­gung – so Abbé Larey­mon­die – dürf­te im Fal­le der Atom­bom­be meist nicht erfüllt sein. Wenn ich etwa eine wich­ti­ge feind­li­che Mili­tär­ba­sis bom­bar­die­re und dabei zwei oder drei Zivi­li­sten unab­sicht­lich töte, liegt eine pro­por­tio­na­le Ursa­che vor. Wenn ich jedoch, um fünf feind­li­che Sol­da­ten zu töten, das Risi­ko ein­ge­he, hun­der­te Zivi­li­sten zu töten, ist das nicht mehr ver­hält­nis­mä­ßig. Die Atom­bom­be ist extrem zer­stö­re­risch. Ihr Ein­satz ist nur dann sitt­lich erlaubt, wenn die Schä­den unter den Zivi­li­sten sehr begrenzt blei­ben. Daher ist es sehr schwer, die Bom­bar­die­run­gen von Hiro­shi­ma und Naga­sa­ki im August 1945 zu rechtfertigen.“

„Heißt das also, die Atom­bom­be sei an sich unmo­ra­lisch? Gewiß nicht. Die Mora­li­tät einer Waf­fe ergibt sich nicht aus ihrer Natur, son­dern aus dem Gebrauch, den die Men­schen von ihr machen. (…) Die Schwie­rig­keit liegt in den zer­stö­re­ri­schen Wir­kun­gen der Bom­be: Sie sind schreck­lich und schwer zu kon­trol­lie­ren. Doch es ist nicht unmög­lich, sich eine Situa­ti­on vor­zu­stel­len, in der die Zahl unschul­di­ger Opfer sehr gering wäre – etwa wenn das mili­tä­ri­sche Ziel in einer iso­lier­ten Wüste oder auf einer kaum bewohn­ten Insel im Pazi­fik liegt. Dann könn­te der Ein­satz einer Atom­bom­be sitt­lich erlaubt sein – vor­aus­ge­setzt, ihre Spreng­kraft ist mög­lichst ange­mes­sen zur Grö­ße des Ziels. Eine sol­che Bom­be könn­te auch auf einen feind­li­chen Flot­ten­ver­band auf hoher See abge­wor­fen werden.“

„Man muß jedoch aner­ken­nen, daß sol­che Situa­tio­nen äußerst sel­ten sind, und des­halb ist der Ein­satz der Atom­bom­be mei­stens nicht gerecht­fer­tigt, wegen des Miß­ver­hält­nis­ses zwi­schen dem Tod zahl­lo­ser Unschul­di­ger und dem erhoff­ten mili­tä­ri­schen Ergebnis.“

Die Schluß­fol­ge­run­gen, die sich klar von der Posi­ti­on Papst Fran­zis­kus’ unter­schei­den, lauten:

„Die mili­tä­ri­sche Nut­zung der Kern­ener­gie ist nicht an sich unmo­ra­lisch. Es ist jedoch wahr, daß die Bedin­gun­gen, unter denen ihr Ein­satz gerecht wäre, so eng gefaßt sind, daß der Ein­satz der Atom­bom­be in der Pra­xis nur äußerst sel­ten sitt­lich erlaubt sein dürf­te. Doch die­se Schluß­fol­ge­rung reicht aus, um den Besitz von Atom­waf­fen als erlaubt anzusehen.“

Zusam­men­fas­send läßt sich sagen: Damit ein Krieg gerecht sei, ist es not­wen­dig, daß nicht nur das Ziel, son­dern auch die Mit­tel, mit denen er geführt wird, gut und gerecht sind. In einem Atom­krieg kann das Ziel gerecht sein – zum Bei­spiel im Fal­le einer erlit­te­nen Aggres­si­on –, doch es ist schwer vor­stell­bar, daß das ein­ge­setz­te Mit­tel gerecht sein könn­te, wenn es den Tod von zehn­tau­sen­den unschul­di­gen Zivi­li­sten zur direk­ten Fol­ge hat.

Die tra­di­tio­nel­le Moral läßt nicht das machia­vel­li­sti­sche Prin­zip zu, wonach der Zweck die Mit­tel hei­li­ge. Kein Übel, das in guter Absicht began­gen wird, kann ent­schul­digt werden:

„Wie eini­ge sagen: Laßt uns Böses tun, damit Gutes dar­aus kom­me. Ihre Ver­dam­mung ist gerecht“ (Röm. 3, 8).

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.
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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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