Von Cristina Siccardi*
Obwohl Kardinal Rafael Merry del Val ein wichtiger Protagonist der Papstgeschichte am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert war, gab es bisher keine zufriedenstellende Biographie über ihn, mit Ausnahme einiger apologetisch ausgerichteter Bücher, wie zum Beispiel die inzwischen vergriffene Biographie von Monsignore Pio Cenci, Archivar des Vatikanischen Geheimarchivs (mit einem Vorwort von Kardinal Eugenio Pacelli) aus dem Jahr 1933. Diese historiographische Lücke füllt nun Roberto de Mattei mit seiner ausgezeichneten und gut dokumentierten Biographie „Merry del Val. Ein Kardinal, der vier Päpsten diente (1865–1930)“, herausgegeben im Verlag Sugarco.1
Diese Biographie ist das Ergebnis einer umfangreichen Recherche in den Archiven und auch der Erinnerungen des Ingenieurs Domingo Merry del Val, eines aufmerksamen Hüters des Andenkens seines Großonkels.
Leo XIII., Pius X., Benedikt XV. und Pius XI. bedienten sich der großen Gaben Merry del Vals, der im Alter von nur 38 Jahren Staatssekretär des heiligen Pius X. und Kardinal wurde. Er verstarb 1930 und wurde am 26. Februar 1953 zum Diener Gottes erklärt. Warum aber haben die Wissenschaftler ihm bei einer so großen Bekanntheit nicht den ihm gebührenden Platz in der Forschung eingeräumt? Dafür gibt es zwei Hauptgründe: zum einen die ausgeprägte Bescheidenheit, die den Prälaten kennzeichnete, der stets in diskreter Zurückhaltung lebte, auch wenn er aktiv und eifrig handelte, und zum anderen seine kämpferische und traditionelle doktrinäre und kirchliche Linie, die für die Publizistik des 20. Jahrhunderts wenig interessant war, die sich der Unterstützung jener revolutionären Thesen verschrieben hatte, die in die Kirche eingedrungen waren und die Pius X. mit dem Begriff „Modernismus“ zusammenfaßte. Deshalb schreibt der Autor der Biographie: „Der Hauptgrund für die Stagnation, in der sich der Seligsprechungsprozeß von Kardinal Merry del Val heute befindet, liegt nicht in der fehlenden Antwort auf die Zweifel an der heroischen Ausübung seiner Tugenden, sondern vielmehr im lehrmäßigen und politischen Kontext seines öffentlichen Wirkens. Wenn Pius XII. nach der Heiligsprechung von Pius X. die Seligsprechung von Kardinal Merry del Val in die Wege leiten wollte, erschien die Figur des anglo-spanischen Kardinals nicht zuletzt wegen der Rolle, die er an der Seite von Pius X. vor allem im Kampf gegen die Moderne gespielt hatte, als unbequem“ (S. 11).
Der am 10. Oktober 1865 in London geborene Rafael Merry del Val y Zulueta, dessen Vater damals Sekretär der spanischen Botschaft war, hatte ausgesprochen interessante Eigenschaften, um internationale Aktivitäten zu entfalten: Es genügt zu sagen, daß er Erbe illustrer Familien aus Spanien, Irland, England, Schottland und Holland war. Der Polyglotte studierte in Rom und trat auf Geheiß von Leo XIII. in die Päpstliche Akademie der kirchlichen Adligen, die heutige Päpstliche Diplomatenakademie, ein, deren Präsident er wurde und heikle Missionen im Dienste des Heiligen Stuhls übernahm.
Er wurde mit der Welt der Staatskanzleien vertraut, lernte die Persönlichkeiten der europäischen Höfe aus nächster Nähe kennen und es fiel ihm leicht, die Sprache der Diplomatie zu erlernen. Seine Fähigkeiten und sein brillanter Intellekt sowie sein granitartiger, nach oben gerichteter Glaube veranlaßten Papst Pius X., ihn unmittelbar nach seiner Wahl auf den Stuhl Petri zum Staatssekretär zu ernennen und noch am selben Tag ihm den Kardinalspurpur zu verkünden: Es war der 18. Oktober 1903. Der Papst selbst verriet den Grund für diese Entscheidung: „Ich wollte einen würdigen Nachfolger für Kard. Rampolla wählen, vor allem wegen seiner Frömmigkeit und seines priesterlichen Geistes“ (S. 118).
Auf den zwei Seiten des Corriere della Sera vom 12. März mit dem Titel „Die Modernisten im Visier“, die dem wertvollen und erhellenden Buch von Roberto de Mattei gewidmet sind, schreibt Paolo Mieli, daß Papst Leo XIII. „der erste war, der seine Gaben und seine Persönlichkeit geschätzt hat. Aber diese Wertschätzung wurde nur bis zu einem gewissen Punkt erwidert: Merry del Val teilte nicht seine Politik der Annäherung und Versöhnung mit der Dritten Französischen Republik, die Leo XIII. selbst in einem unerwarteten Interview mit dem ‚Petit Journal‘ am 17. Februar 1892 angekündigt hatte. Merry del Val war jedoch, so de Mattei, damals ‚zu jung und respektvoll gegenüber der päpstlichen Autorität, um in diesem heiklen Punkt eine abweichende Position einzunehmen‘.“
Der Autor hebt außerdem die monarchistische Gesinnung des Kardinals hervor, die sich aus dem Familienerbe und aus doktrinärer Entscheidung ergab; daher auch seine Vorbehalte gegenüber dem Ralliement von Leo XIII. und sein Gegensatz zu Pius XI. im Fall der Action française, der 1899 gegründeten monarchistischen politischen Bewegung, deren wichtigster Ideologe und Vertreter Charles Maurras (1868–1952) war.
Das enge Einvernehmen zwischen Pius X. und seinem Staatssekretär, das in der außergewöhnlichen Arbeit der Kirchenordnung und ‑reform zu fruchtbaren Ergebnissen führte, beruhte auf der katholischen Identität und der zentralen Stellung des gekreuzigten und erlösenden Christus in der Liturgie wie im Katechismus. Die Stärke, die ihre gegenseitige Wertschätzung und Seelenfreundschaft untermauerte, lag in der übernatürlichen Sichtweise, die sie während ihrer gesamten Existenz pflegten, mit einer Projektion auf die göttliche Höhe, die unveränderliche Wahrheit, das Bewußtsein der irdischen Endlichkeit und der ewigen Bestimmung (der Novissima), Aspekte, die der flachen, horizontalen, politischen, soziologischen und weltlichen Sicht der Anhänger der Moderne absolut entgegengesetzt waren. „Elf Jahre lang, von 1903 bis 1914, bildeten sie wirklich ein Herz und eine Seele. Merry del Val war weder der passive und unterwürfige Vollstrecker des Willens von Pius X. noch der Inspirator seiner Unnachgiebigkeit. Zwischen dem Papst und dem Staatssekretär herrschte eine ungewöhnliche Harmonie […]“ (S. 119).
Im Register der Sodalität des Dritten Ordens der Serviten wird am 2. Juli 1900 die Vereidigung von Monsignore Raphael Merry del Val, Titularerzbischof von Nicäa, vermerkt, während am 8. Januar 1904 seine Profeß eingetragen wird. Im Jahr 1888 wurden die sieben heiligen Gründer der Diener Mariens heiliggesprochen, und von da an betete Merry del Val nicht nur den Rosenkranz, sondern auch täglich den Rosenkranz der sieben Schmerzen Mariens, wobei er einen langen Rosenkranz mit großen Perlen benutzte, derselbe, den er bei seinem Tod in den Händen hielt. Man darf also nicht vergessen, daß das Leiden Christi und die Schmerzen der Jungfrau Maria, der Trösterin, wie er sie gerne nannte, ein bevorzugtes Thema seiner Predigten und Betrachtungen waren.
Merry del Val spielte eine wichtige Rolle bei der Verurteilung der Modernisten Alfred Loisy und George Tyrrell und knüpfte enge Beziehungen zu Monsignore Umberto Benigni, einem Mitarbeiter des Staatssekretariats und Leiter des Sodalitium Pianum, des Informationsnetzes des Heiligen Stuhls zur Bekämpfung des Modernismus.
Pius X. mußte, um „instaurare omnia in Christo“ und den revolutionären Anthropozentrismus der Modernisten zu bekämpfen, alle Bereiche der Kirche wiederherstellen, und er tat dies mit einer außergewöhnlichen Organisation, die dank zweier Einheiten in Gang gesetzt wurde: dem persönlichen Sekretariat des Papstes, genannt „Segretariola“ (einige wenige, treue und hervorragende Männer der Kirche, die sie vor ihren Feinden verteidigten), und dem Staatssekretariat (das der Papst, der sich im dritten Stock des Apostolischen Palastes befand, das „Sekretariat von unten“ zu nennen pflegte). Sie arbeiteten vollkommen parallel, denn der venetianische Papst Sarto und der englisch-spanische Kardinal waren sich in allem einig. Raffael Merry del Val war eine führende Persönlichkeit, aber mehr geliebt als bekannt. Die Biographie von Roberto de Mattei ist eine Gelegenheit, besser zu verstehen, wer er war, der jeden Tag die berühmte Litanei der Demut rezitierte.
*Cristina Siccardi, Historikerin und Publizistin, zu ihren jüngsten Buchpublikationen gehören „L’inverno della Chiesa dopo il Concilio Vaticano II“ (Der Winter der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Veränderungen und Ursachen, 2013); „San Pio X“ (Der heilige Pius X. Das Leben des Papstes, der die Kirche geordnet und reformiert hat, 2014) und vor allem ihr Buch „San Francesco“ (Heiliger Franziskus. Eine der am meisten verzerrten Gestalten der Geschichte, 2019).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
1 Roberto de Mattei: Merry del Val. Un cardinale che servì quattro Papi (1865–1930), Sugarco Edizioni, Mailand 2024, 460 Seiten.
Vielen Dank für die Übersetzung dieses Artikels, Herr Nardi! Ich nehme an, dass De Mattei’s Buch nicht auf Deutsch (oder Englisch?) zu haben ist?
Vorerst leider nicht. Vielleicht ist die Besprechung von Frau Dr. Siccardi für einen Verleger der Anstoß, eine deutsche Ausgabe herauszubringen.
Vielen Dank für diese hochinteressante Besprechung! Offenbar war der Kardinal gleichzeitig ein demütiger Gläubiger und ein hocheffizienter Verwalter und Verhandler.
Die genannte Litanei der Demut ist in traditionellen Kreisen da und dort bekannt. Man findet sie auf Deutsch bspw. hier:
https://www.pliniocorreadeoliveira.info/die-litanei-der-demut-kardinal-merry-del-val/#gsc.tab=0