Das Nordlicht und die Illusionen des Westens

Eine Analyse


Nordlicht

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Das Wall Street Jour­nal vom 1. Novem­ber ver­öf­fent­lich­te einen inter­es­san­ten Arti­kel von Prof. Jakub Gry­giel, Pro­fes­sor der Poli­tik­wis­sen­schaf­ten an der Katho­li­schen Uni­ver­si­tät von Ame­ri­ka. Der Arti­kel mit der Über­schrift „Three For­eign-Poli­cy Illu­si­ons“ („Drei außen­po­li­ti­sche Illu­sio­nen“) zeigt, daß die Feh­ler des Westens ange­sichts des rus­si­schen Krie­ges in der Ukrai­ne, der Aggres­si­on der Hamas und des Iran gegen Isra­el und der Bedro­hung durch Chi­na im Pazi­fik auf drei Illu­sio­nen zurück­zu­füh­ren sind, die tief in der ame­ri­ka­ni­schen und euro­päi­schen Men­ta­li­tät ver­wur­zelt sind.

Die erste Illu­si­on ist, daß die Füh­rer für Krie­ge ver­ant­wort­lich sind und daß die­se Län­der nur wegen ihrer schlech­ten Füh­rer unse­re Riva­len sind. Gry­giel nennt das Bei­spiel von Außen­mi­ni­ster Ant­o­ny Blin­ken, der im Sep­tem­ber 2022 vor dem UN-Sicher­heits­rat über die Inva­si­on in der Ukrai­ne sag­te: „Ein Mann hat die­sen Krieg gewählt. Und ein Mann kann ihn been­den“. „Aber der Krieg ist nicht nur der von Wla­di­mir Putin, er ist der Krieg Ruß­lands. In einer Umfra­ge vom Juni 2022 unter­stütz­ten 75 Pro­zent der Rus­sen das Vor­ge­hen der rus­si­schen Streit­kräf­te stark oder über­wie­gend. (…) Die rus­sisch-ortho­do­xe Kir­che ist ein Anstif­ter des Krie­ges und hat eine tie­fe Kul­tur des rus­si­schen Natio­na­lis­mus und des impe­ria­len Rechts gebil­det, die über den Kreml hin­aus­reicht. (…) Die Feind­se­lig­keit Ruß­lands, des Irans, Chi­nas und sogar der Hamas kann tie­fe kul­tu­rel­le Wur­zeln und eine brei­te Unter­stüt­zung in der Bevöl­ke­rung haben, die es die­sen Akteu­ren ermög­licht, lan­ge und ver­hee­ren­de Kon­flik­te zu füh­ren. Die Besei­ti­gung eines schlech­ten Füh­rers oder Regimes macht aus einem Feind nicht unbe­dingt einen ver­ant­wor­tungs­be­wuss­ten Akteur“.

Die zwei­te Illu­si­on, die der Westen kul­ti­viert, ist die, daß inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen und die Glo­bal Gover­nan­ce natio­na­le und regio­na­le poli­ti­sche Strei­tig­kei­ten über­win­den kön­nen. „Da die­se Insti­tu­tio­nen die Quel­len der inter­na­tio­na­len Ord­nung sind“, so Gry­giel, „besteht für vie­le west­li­che Poli­ti­ker das Haupt­ziel ihrer Diplo­ma­tie dar­in, mehr Staa­ten, ob demo­kra­tisch oder nicht, unter ihr befrie­den­des Dach zu brin­gen. Prä­si­dent Frank­lin D. Roo­se­velt hoff­te, daß es der Sowjet­uni­on bes­ser gehen wür­de, wenn sie den Ver­ein­ten Natio­nen bei­trä­te, und war bereit, har­te Ver­hand­lun­gen mit Mos­kau zu ver­schie­ben, um es zum UNO-Bei­tritt zu bewe­gen. Die west­li­chen Staats- und Regie­rungs­chefs hoff­ten, daß Chi­na, sobald es Mit­glied von Insti­tu­tio­nen wie der Welt­han­dels­or­ga­ni­sa­ti­on ist, ein ver­ant­wor­tungs­vol­ler Akteur in der glo­ba­len Ord­nung wer­den wür­de. Doch wie Ruß­land, ein stän­di­ges Mit­glied des UN-Sicher­heits­rats, wur­de auch Chi­na nicht zu einem gut­ar­ti­gen geo­po­li­ti­schen Akteur, nach­dem es mehr als zwei Jahr­zehn­te lang an der WTO teil­ge­nom­men hat­te. Die for­ma­ti­ve Kraft inter­na­tio­na­ler Insti­tu­tio­nen wur­de stark über­trie­ben, und die auf ihnen basie­ren­de gro­ße Stra­te­gie hat den Westen unvor­be­rei­tet auf den har­ten Wett­be­werb zurück­ge­las­sen, ein­schließ­lich Krieg, dem wir gegen­über­ste­hen.“

Die drit­te Illu­si­on des Westens ist, daß mehr Han­del und Wohl­stand Frie­den schaf­fen. „Jahr­zehn­te­lang folg­te die deut­sche Außen­po­li­tik dem Prin­zip ‚Wan­del durch Han­del‘. Ber­lin dach­te, daß der Han­del mit Ruß­land, Chi­na und ande­ren schlech­ten Akteu­ren deren Feind­se­lig­keit dämp­fen und sie zu ver­läß­li­chen Part­nern machen wür­de. Die USA gin­gen davon aus, daß der Han­del mit Chi­na die Prio­ri­tä­ten Pekings all­mäh­lich ändern und eine fried­lie­ben­de Mit­tel­schicht sowie tie­fe­re diplo­ma­ti­sche Bezie­hun­gen schaf­fen wür­de. Die west­li­che Wet­te, daß eine Aus­wei­tung des Han­dels ideo­lo­gi­sche Dif­fe­ren­zen und poli­ti­sche Riva­li­tä­ten über­win­den wür­de, war falsch. Staa­ten trei­ben Han­del, um reich und wett­be­werbs­fä­hig zu wer­den, nicht für den Frie­den. Sie wol­len oft reich wer­den, um ihre Fein­de angrei­fen und ande­re domi­nie­ren zu kön­nen. (…) Mili­tä­ri­sche Macht, nicht gegen­sei­ti­ge Abhän­gig­keit, gibt den Staa­ten die Mög­lich­keit, in ihrem eige­nen Inter­es­se zu han­deln, ohne von ande­ren Mäch­ten gezwun­gen zu wer­den. Unse­re Riva­len bewaff­ne­ten sich, wäh­rend der Westen, ins­be­son­de­re Euro­pa, hoff­te, daß der Han­del mili­tä­ri­sche Fähig­kei­ten über­flüs­sig machen wür­de. Tief sit­zen­de Feind­se­lig­kei­ten kön­nen nicht durch Ver­än­de­run­gen in der Füh­rung, in inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen oder im Han­del über­wun­den wer­den. Sie kön­nen nur durch mili­tä­ri­sche Macht kon­trol­liert und wenn nötig besiegt wer­den“.

Zu Prof. Gry­giels scharf­sin­ni­ger Ana­ly­se kommt noch eine vier­te Illu­si­on des Westens hin­zu: die Ableh­nung der Idee eines „Kamp­fes der Kul­tu­ren“ durch vie­le Intel­lek­tu­el­le und Poli­ti­ker. Samu­el P. Hun­ting­ton (1927–2008), der die­se The­se in sei­nem 1993 ver­öf­fent­lich­ten Werk „Clash of Civi­li­sa­ti­ons“ auf­stell­te, war nie ein „Supre­macist“, son­dern könn­te eher als histo­ri­scher Rela­ti­vist bezeich­net wer­den. Es läßt sich jedoch nicht leug­nen, daß sei­ne Theo­rie drei­ßig Jah­re spä­ter durch die Fak­ten bestä­tigt wird. Der „Zivi­li­sa­ti­ons­krieg“ gegen den Westen wird in der Tat von Putin, Xi Jin­ping und vie­len Ver­tre­tern der isla­mi­schen Welt aus­ge­ru­fen, die zwar intern gespal­ten, aber im Kampf gegen den gemein­sa­men Feind geeint sind.

Die Sophi­stik, der der Westen zum Opfer fällt, ist die Vor­stel­lung, daß das Ein­ge­ständ­nis der Exi­stenz eines Zivi­li­sa­ti­ons­krie­ges gleich­be­deu­tend damit ist, ihn zu wün­schen oder zu pro­vo­zie­ren. Die The­se, man dür­fe nicht von einem Zivi­li­sa­ti­ons­krieg spre­chen, weil dies die Mög­lich­keit eines glo­ba­len Krie­ges her­auf­be­schwö­re, und ein glo­ba­ler Krieg habe sei­ne logi­sche Kon­se­quenz in einem Atom­krieg, ist das Pro­pa­gan­da­mit­tel jener, die uns ent­waff­nen wol­len. Wenn die­je­ni­gen, die ange­grif­fen wer­den, es auf­ge­ben, sich gegen die Dro­hun­gen der­je­ni­gen zu ver­tei­di­gen, die sie angrei­fen, haben sie den Krieg bereits ver­lo­ren. Wer den poli­ti­schen und mora­li­schen Selbst­mord des Westens leug­net, macht sich zum Kom­pli­zen die­ses Selbst­mor­des, wenn er glaubt, durch Schwei­gen den Zusam­men­stoß ver­mei­den zu kön­nen, den der Feind ver­kün­det. Wer die Exi­stenz eines Zivi­li­sa­ti­ons­krie­ges leug­net, leug­net nicht nur die Exi­stenz eines Fein­des, son­dern auch die Iden­ti­tät der Schick­sals­ge­mein­schaft, der er ange­hört. Jene Kon­ser­va­ti­ven und Tra­di­tio­na­li­sten, die mit Ruß­land oder den Mus­lim­brü­dern sym­pa­thi­sie­ren und bereit sind, die Inva­si­on Tai­wans zu recht­fer­ti­gen, um einen „glo­ba­len Krieg“ zu ver­mei­den, sind die „Bru­der­fein­de“ eben jener Can­cel Cul­tu­re, die den radi­kal­sten Aus­druck der post­mo­der­nen Lin­ken darstellt.

Die Can­cel Cul­tu­re ist lei­der auch in die katho­li­sche Kir­che ein­ge­drun­gen, deren höch­ste Ver­tre­ter, ange­fan­gen bei Papst Fran­zis­kus, ledig­lich den Krieg bekla­gen, ohne zu erken­nen, daß der Frie­den, den sie anstre­ben, nicht die augu­sti­ni­sche Ruhe der Ord­nung ist, son­dern chro­ni­sche Insta­bi­li­tät in der Unord­nung. Dabei lie­gen alle Kar­ten offen auf dem Tisch. Yunis Al-Astal, Pre­di­ger und Hamas-Abge­ord­ne­ter im Palä­sti­nen­si­schen Legis­la­tiv­rat, wand­te sich in einer Frei­tags­pre­digt wie folgt an die mus­li­mi­schen Gläu­bi­gen: „Sehr bald wird Rom durch den Wil­len Allahs erobert wer­den, so wie Kon­stan­ti­no­pel erobert wur­de und wie es von unse­rem Pro­phe­ten Moham­med pro­phe­zeit wur­de“. „Heu­te“, füg­te er hin­zu, „ist Rom die Haupt­stadt der Katho­li­ken oder die Haupt­stadt der Kreuz­rit­ter, die dem Islam ihre Feind­schaft erklärt haben, die­se ihre Haupt­stadt wird ein Vor­po­sten der isla­mi­schen Erobe­run­gen sein, die sich über ganz Euro­pa aus­brei­ten und dann auf die bei­den Ame­ri­kas und Ost­eu­ro­pa über­ge­hen wer­den“ (Hamas MP and Cle­ric Yunis Al-Astal in a Fri­day Ser­mon: We Will Con­quer Rome, and from The­re Con­ti­n­ue to Con­quer the Two Ame­ri­cas and Eastern Euro­pe).

Ein unmög­li­ches Ziel? Aber was wür­de pas­sie­ren, wenn Ruß­land in der Ukrai­ne die Ober­hand gewinnt, wenn die vom Islam unter­stütz­te Hamas Isra­el zer­stört und wenn Chi­na in Tai­wan ein­mar­schiert? Es wäre eine Nie­der­la­ge, die die The­se jener bestä­ti­gen wür­de, die glau­ben, daß der Westen nicht sei­ne Däm­me­rung erlebt, wie sie Oswald Speng­ler vor hun­dert Jah­ren ver­kün­de­te, son­dern sei­ne in tie­fe Dun­kel­heit getauch­te Agonie.

Die Geschich­te ist jedoch nie­mals unum­kehr­bar, vor allem dann nicht, wenn Gott beschließt, ein­zu­grei­fen. Am 5. Novem­ber erhell­te ein uner­war­te­tes Nord­licht den Him­mel über Euro­pa und sogar Ita­li­en, wo es von den Alpen bis nach Apu­li­en zu sehen war. Astro­no­men haben wis­sen­schaft­li­che Erklä­run­gen für das opti­sche Phä­no­men ange­bo­ten, aber die­je­ni­gen mit einem über­na­tür­li­chen Geist schau­en nach­denk­lich in den Him­mel und fra­gen sich, ob die­ses Ereig­nis nicht mit den Nord­lich­tern von 1938 und 1939 in Ver­bin­dung gebracht wer­den kann, die laut Schwe­ster Lucia von Fati­ma den Zwei­ten Welt­krieg ankün­dig­ten. Ein apo­ka­lyp­ti­sches Zei­chen? Ein Nord­licht kann auch ein leuch­ten­des Zei­chen der Hoff­nung sein, das uns ein­lädt, die Din­ge der Erde mit den Augen des Him­mels zu beur­tei­len, und uns dar­an erin­nert, daß alle Ursa­chen und alle Wir­kun­gen des Welt­ge­sche­hens ihren ersten Anfang und ihr letz­tes Ende in Gott haben, dem ein­zi­gen, der den Men­schen guten Wil­lens, die sei­ne Ehre suchen, Frie­den auf Erden geben kann.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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