
Der Finanzwissenschaftler und ehemalige Präsident der Vatikanbank IOR Prof. Ettore Gotti Tedeschi gehörte am vergangenen Wochenende zu den Referenten der Tagung „Le Tavole di Assisi“, über die bereits berichtet wurde. Mit einer pointierten Rede legte er den Finger in die Wunde des Westens und provozierte mit einer Causa prima aller Zivilisationskrankheiten, die in immer kürzeren Abständen und mit zunehmendem Tempo die Fieberkurve des Westens ansteigen lassen. In einem Beitrag für die Tageszeitung La Verità faßte er seine Ausführungen zusammen.
Die großen Probleme des Westens hängen mit dem Geburteneinbruch zusammen
Die Ursachen verstehen, bevor man die Auswirkungen behandelt
Von Ettore Gotti Tedeschi
Viele haben nach der Konferenz am Samstag, dem 9. und Sonntag, dem 10. September ihr „Echo aus Assisi“ geschrieben. Ich wurde eingeladen, einen Beitrag zu leisten, und werde hier in der Tageszeitung La Verità über den „Donner aus Assisi“ zur Verteidigung und Unterstützung des katholischen Denkens sprechen, das relativiert, gedemütigt und oft beleidigt worden ist. Irrigerweise und häufig auch unbewußt, denn das katholische Denken bleibt das größte Bollwerk zur Verteidigung der westlichen Zivilisation, die christlich ist. Wenn dieses Denken ignoriert wird, ist der Verfall der Zivilisation unaufhaltsam, zur Freude der Nietzscheaner und Konsorten. Jene aber, die am meisten darunter zu leiden haben werden, werden die Laizisten sein, ob Agnostiker oder Atheisten, jene, die bisher oft unbewußt und passiv davon profitiert haben (wir Katholiken haben zumindest die Hoffnung…).

Man muß anerkennen und darüber nachdenken, daß es die christliche Zivilisation war, die den Wohlstand, den wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt mit verantwortungsvoller Freiheit, Bildung, Hilfe für die Bedürftigen, Gerechtigkeit, wahrem Frieden, Würde des Menschen usw. gefördert hat. Es war die christliche Zivilisation, die die ersten Banken „erfand“ und sehr viele der bedeutendsten Universitäten errichtete. Sie konnte eben nicht nur Kathedralen bauen (die auch in technischer Hinsicht von enormem Wert waren). Sie konnte dies tun, weil sie dem Leben einen Sinn gab, so wie der Schöpfer der Schöpfung einen Sinn gegeben hat, aber eben auch indem sie Pflichten akzeptierte, die nichts anderes sind als (säkular gesprochen) die Achtung der Naturgesetze. Und sie tat dies, wie Johannes Paul II. in Veritatis splendor ausführt, indem sie aufzeigte, daß es absolute Wahrheiten gibt, von denen man sich nicht abwenden kann, daß die Freiheit des Menschen nicht absolut sein kann, daß das Gewissen gut gebildet sein muß, daß es keinen Konflikt zwischen der menschlichen Freiheit und den göttlichen Gesetzen gibt… Aber heute hält die ehemals christliche Zivilisation in Evolution nur mehr das für gut, was als nützlich angesehen wird. Wie kommt das? Ich habe versucht, es zu erklären.
- Auf der Konferenz von Assisi habe ich mit einer starken Provokation begonnen und erklärt, daß alle, ich sage alle, Probleme, die uns plagen, auf die Negation des ersten Naturgesetzes zurückzuführen sind: das Leben, konkret die Geburten. Alle Probleme – Wirtschaft, Finanzen, Arbeit, Ökologie, Migration usw. – sind auf den Zusammenbruch der Geburtenrate in der gebildeten und reichen westlichen Welt zurückzuführen. Und ich habe eine Erklärung dafür vorgelegt, der jedoch eine Prämisse vorausging:
Indem unsere Welt die Hauptursachen ignoriert und sich darauf beschränkt, sich mit den Auswirkungen zu befassen, wird sie weiterhin klagen und immer utopischere und schädlichere Ad-hoc-Lösungen versuchen.
- Sie wird sich weiterhin beklagen über den materialistischen Konsum und dabei die Tatsache ignorieren, daß dieser notwendig war, um den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wegen des fortschreitenden Geburtenrückgangs (bis hin zu einem Null- und dann Negativwachstum) auszugleichen.
- Und folglich wird sie sich weiterhin beklagen über den Verlust von Arbeitsplätzen, über Unterbeschäftigung und Prekariat und dabei die Tatsache ignorieren, daß dies auf die Deindustrialisierung der westlichen Länder (die sich voneinander unterscheiden) zurückzuführen ist, die ihre Produktion nach Asien verlagert haben, um immer billiger zu konsumieren.
- Sie wird sich weiterhin über Steuererhöhungen beklagen, die notwendig wurden, um den Alterungsprozeß der Bevölkerung wegen der geringen Geburtenraten abzustützen.
- Sie wird sich weiterhin beklagen über die Umweltzerstörung durch Verschmutzung und sich weigern zu verstehen, daß diese auf den übermäßigen Konsum im Westen und die Produktionsverlagerung in den Osten zu niedrigen Kosten zurückgeht.
Das einzige, worüber ich kaum Klagen höre, ist der Machtverlust des Westens an den Osten aufgrund des Ungleichgewichts bei der Verteilung von Bevölkerung und BIP: In den 1970er Jahren hatte der Westen 25 Prozent der Weltbevölkerung und kontrollierte etwa 90 Prozent des weltweiten BIP. Heute hat er 12 Prozent der Bevölkerung und kontrolliert etwas mehr als 40 Prozent des Welt-BIP. Erklärt das Ihrer Meinung nach etwas?
- Ich denke, daß es alles andere als einfach sein wird, diese hervorgehobenen Probleme zu lösen, solange wir ihre Ursachen ignorieren. Ein Beispiel: Der Einbruch der Geburtenrate ist nicht auf wirtschaftliche Probleme zurückzuführen, wenn schon hat der Einbruch der Geburtenrate wirtschaftliche Probleme verursacht (wie ich erklärt habe). Vielleicht ist er mehr moralischen Problemen geschuldet, aber darüber zu sprechen ist verboten, da die Moral ja offenbar das Relativste auf der Welt ist. Liegt es dann vielleicht daran, daß die Bioethik durch das Bio-Recht der WHO ersetzt wurde? Oder vielleicht auch daran, daß der Mensch sich in den vergangenen Jahrzehnten selbst davon überzeugt hat, nicht ein Geschöpf Gottes, sondern ein Bazillus zu sein, der sich der Evolution entzogen hat und zu einem „Krebsgeschwür der Natur“ geworden ist?
- Ich dachte, meine Rede mit einer weiteren Überlegung abzuschließen. Papst Benedikt XVI. hat bei seinem berühmten Treffen mit den Vertretern der Europäischen Volkspartei (EVP) am 30. März 2006 daran erinnert, wie wichtig es für die Regierenden ist, die „nicht verhandelbaren Werte“ zu verteidigen, d. h. Leben, Familie, Kindererziehung. Heute werden diese Werte sogar verhöhnt und geschändet. Heute wird erwartet, daß moralische Werte „kontextualisiert“ werden: Handlungen sollten durch Absichten gerechtfertigt und durch das Gewissen legitimiert werden. Es gibt keine absoluten Werte und keine Handlungen mehr, die an sich schwerwiegend sind. Und weil es heute, laut diesem Denken, Versuchungen gibt, die unsere Kräfte und die Offenbarung übersteigen, ist es besser, wenn wir möglichst schnell lernen, sie entsprechend der soziokulturellen Entwicklung neu zu interpretieren.
Nur mehr was nützlich ist, ist auch gut. Wir haben eine neue Theologie, die utilitaristische Theologie. Hurra! Wir sind alle zufrieden. Aber die behauptete globale Erwärmung, oh weh, ist dann dazu bestimmt, sich weiter zu verstärken dank des exponentiellen Wachstums „unerwarteter Gäste“, die an einem Ort brennen werden, der … „nicht zu existieren hat“.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Welt.de/MiL (Screenshot)