(Rom) Nach dem Debakel des Selenskyj-Besuchs versucht Papst Franziskus aus dem diplomatischen Desaster herauszukommen, in das er die vatikanische Diplomatie selbst gelenkt hatte. Dazu erteilte er einen Auftrag.
Die Mitteilung im gestrigen Tagesbulletin des Heiligen Stuhls klingt nicht weiter erwähnenswert:
„Der Papst empfängt heute Mitglieder der Italienischen Bischofskonferenz in Audienz.“
Die Begegnung fand gestern nachmittag statt. Anwesend war Kardinal Matteo Zuppi, der Vorsitzende der Italienischen Bischofskonferenz. Ihm hatte Franziskus wenige Tage zuvor den Auftrag erteilt, eine Friedensmission in der Ukraine zu leiten. Das bedeutet, was schon länger vermutet wurde, daß Franziskus sich für seine angekündigte Friedensinitiative im ukrainisch-russischen Krieg der Gemeinschaft von Sant’Egidio bedient. Diese 1968 entstandene Gemeinschaft betreibt seit Jahrzehnten eine Paralleldiplomatie zur offiziellen vatikanischen Diplomatie. Ihre Bedeutung und Vernetzung zeigte sich, als Angela Merkel bei ihrem Staatsbesuch in Rom 2015 auch den Sitz der Gemeinschaft aufsuchte. Die Päpste haben sich bei Bedarf dieser Paralleldiplomatie bedient. Kardinal Zuppi ist in der kirchlichen Hierarchie der ranghöchste Exponent dieser Gemeinschaft (siehe dazu den Sieben-Punkte-Friedensplan von Zamagni und Magatti).
Die Bemühungen scheinen jedoch noch sehr vage. Vatikansprecher Matteo Bruni, der die Initiative und den Auftrag an Kardinal Zuppi am 20. Mai bestätigte, sprach davon, daß „der Zeitpunkt einer solchen Mission und ihre Modalitäten derzeit geprüft werden“. Papst Franziskus habe aber die Hoffnung nie aufgegeben „Wege des Friedens eröffnen“ zu können. Bruni vermittelte jedenfalls den Eindruck, daß der Auftrag an Kardinal Zuppi die von Franziskus auf dem Rückflug aus Ungarn am 30. April angekündigte Friedensmission sei.
Damals hatten sowohl Sprecher der russischen als auch der ukrainischen – sogar die italienische – Regierung bestritten, etwas von einem Friedensplan des Papstes zu wissen, obwohl Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, der sich während des Selenskyj-Auftritts in Rom wohlweislich im fernen Fatima aufhielt, darauf beharrte, daß die Regierungen informiert worden waren.
Die Situation ist verfahren, da sowohl Moskau als auch Kiew, Brüssel und Washington Friedensverhandlungen derzeit ablehnen. Beide Seiten suchen eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld mit allen Risiken, vor allem einer Ausweitung des Krieges in Europa, die damit verbunden sind, wobei die Interessenlage der einzelnen Parteien unterschiedlich ist. Stimmt das aber mit der Ablehnung der Friedensverhandlungen? Hitler wurde nach dem Einmarsch in Polen nachgesagt, er habe „kein zweites München“ gewollt, ja niemand, der eine Friedenskonferenz vorschlägt. Inzwischen weiß man, daß die Geschichte ein wenig anders verlief. Nun wird Putin, der propagandistisch in die Nähe Hitlers gerückt wird, zugeschrieben, keine Friedensverhandlungen zu wollen, obwohl es Kiew, Brüssel, London und Washington sind, die keine Gelegenheit auslassen, Friedensverhandlungen in weite Ferne zu rücken.
Die Ukraine wäre längst unterlegen, wenn sie nicht von Washington unterstützt würde. Sie wurde seit 2014 vom Westen aufgerüstet. Washington sorgt über die NATO dafür, daß Kiew auch von Großbritannien und der EU unterstützt wird. Hauptziel ist die Schwächung Rußlands, bei Bedarf auch dessen Zerstückelung, wie es mit Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg, mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Serbien nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft geschehen ist.1
Wie der Zusammenprall in der Ukraine enden wird, läßt sich derzeit aber nicht abschätzen. In der Welt ist viel in Bewegung geraten. Die Staaten, die sich der US-Hegemonie nicht unterwerfen wollen, organisieren sich.
Papst Franziskus steht in diesem globalen Schachspiel der Mächtigen den Positionen der BRICS-Staaten wesentlich näher als jenen des „Wertewestens“. Es ist keine ideologische Frage, da Franziskus bisher der westlichen Umwertung der Werte durch die Regierungen Obama und Biden und durch die EU keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzte. Es ist vielmehr eine tiefsitzende Gringo-Verachtung, wie sie in Lateinamerika vielfach und seit vielen Jahrzehnten fest verwurzelt ist, auch im Peronismus.
Diese Abneigung von Franziskus richtet sich nicht gegen die US-amerikanische Bevölkerung. Es ist nichts Persönliches. Es ist die Ablehnung der US-amerikanischen Hegemonie, die seit dem Ende des Ostblocks als „die einzige verbliebene Weltmacht“ eine globale Vorherrschaft beansprucht, diese aber bisher nur bedingt durchsetzen konnte. Nun scheinen die Chancen für deren Durchsetzung sogar eher zu schwinden.
Diese US-Hegemonie spürt man in Amerika wegen der sogenannten Monroe-Doktrin schon lange. Diese Doktrin, die auf das Jahr 1823 zurückgeht, im heutigen Sinn aber erst seit 1904 verstanden wird, erklärte den amerikanischen Kontinent einseitig zur Einflußsphäre der USA, in die sich keine außeramerikanische Kraft einzumischen habe. Die USA hingegen intervenieren seither, keineswegs uneigennützig, offen oder verdeckt und mit unterschiedlicher Aggressivität in den meisten amerikanischen Staaten. Die damit verbundenen Demütigungen haben in einigen Ländern erhebliche Narben hinterlassen.
Durch den Ukrainekrieg, der außerhalb des westlichen Bereichs vielfach als Krieg der USA zur Unterwerfung Rußlands gesehen wird, ist im Gegenzug in anderen Erdteilen der Wunsch gewachsen, der US-Hegemonie eine Multipolarität entgegenzusetzen. Die Umsetzung wird durch das Projekt der BRICS-Staaten versucht. Papst Franziskus unterstützt diese Multipolarität und steht damit der Position Indiens und der Volksrepublik China weit näher als jener Washingtons und der Transatlantiker.
Das ist in anderer Hinsicht paradox, denn die westlichen Staaten sind die – zumindest noch nominell – christlichen Staaten, während Indien hinduistisch und China kommunistisch ist. Die christlichen Staaten haben die Zivilisation mit den Menschenrechten hervorgebracht. Das chinesische Regime verfolgt die Kirche sogar unerbittlich. Von einer freien Religionsausübung kann im Reich der Mitte keine Rede sein. Die eigentliche Kirche ist mehr oder weniger in den Untergrund verbannt. Das Regime duldet nur eine schismatische regimehörige Kopie, wie die jüngste Bischofsernennung für Shanghai zeigte, die im Widerspruch zu dem 2018 mit dem Vatikan unterzeichneten Geheimabkommen erfolgte.
Anders ausgedrückt: Auf die Regierungen in Neu-Delhi und Peking hat Papst Franziskus keinen Einfluß, der über Höflichkeitsformen hinausgeht.
Der Westen aber, wo der Papst Gewicht haben sollte und dessen linksliberalem Mainstream er durch zahlreiche freundliche Gesten schmeichelte, zeigte ihm in der Friedensfrage die kalte Schulter. Diese Aufgabe übernahm Wolodymyr Selenskyj bei seinem Besuch in Rom medienwirksam im italienischen Fernsehen. Er erklärte in bemerkenswert arrogantem Ton, daß man einen Papst als Vermittler nicht brauche, weil es nur einen Siegfrieden geben könne. Das erinnert an Haltung und Sprache der US-Falken, als deren Sprachrohr Selenskyj hier offenbar handelte.
Auch auf kirchlicher Ebene in den beiden kriegführenden Staaten sieht es für eine Friedensmission von Papst Franziskus ungünstig aus. Der Großteil der Bevölkerung ist russisch-orthodoxen Glaubens, wobei sich ein Teil in der Ukraine nun als ukrainisch-orthodox bezeichnet, was eine politisch motivierte inner-orthodoxe Frage ist, die an der latent antikatholischen Haltung nichts ändert.
Allein in Teilen der Westukraine gibt es eine katholische Mehrheit der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, angeführt von Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk, der sich die Unterstützung des Krieges nicht minder zu eigen macht als der Moskauer Patriarch Kyrill I., den Franziskus dafür ad personam öffentlich tadelte. Eine verhältnismäßig unbefangene Begegnung wie 2016 auf Kuba wird zwischen Franziskus und dem Patriarchen wohl nicht mehr möglich sein.
Im Westen wurde 2014 ein Geschrei um die Krim entfacht, die nach einer Volksabstimmung Rußland angegliedert wurde, die mit der Ukraine soviel zu tun hatte wie Warschau oder Wilna. Empörung erfolgt, wie inzwischen hinlänglich in anderen Bereichen bekannt, von bestimmten Medien gelenkt, per Knopfdruck. Besorgniserregend ist vielmehr heute, mehr als acht Jahre später, daß sich in Rußland die Stimmen häufen, die einen Durchmarsch bis in das katholische Lemberg, also bis an die polnische Grenze, fordern. Dieser sich aufschaukelnde Maximalismus auf beiden Seiten war 2014 friedenstötend und ist es heute ebenso, denn es kann kein Zweifel bestehen, daß die katholische Westukraine kein Teil Rußlands ist, so wie auch kein Zweifel bestehen kann, daß im Westen der Ukraine inzwischen tatsächlich eine eigenständige ukrainische Nation entstanden ist. Das mag man gutheißen oder bedauern: Es ist eine Tatsache. Allerdings gilt das nicht für die gesamte Ukraine, deren Süden erst durch Zarin Katharina als Neurußland von den Tataren zurückgewonnen wurde. Nur wer so ehrlich als möglich die Zweiteilung der Ukraine anerkennt, hält den Schlüssel in der Hand zu einer friedlichen Lösung, die das Prädikat „gerecht“ verdient, wie immer sie im Detail aussehen mag, sofern sich beide Seiten darauf einigen.
Der derzeitige Kontrast dazu liegt auf der Hand. Die Situation ist arg verfahren und die vatikanische Diplomatie, die älteste und beste der Welt, steht verlegen daneben. Sie wurde durch den eigenmächtigen Eifer und zu freimütige Worte von Franziskus ins Abseits manövriert und muß ihrer eigenen Demontage tatenlos zusehen.
Dazu tragen nicht nur Tadel wie jener gegenüber Kyrill I. bei, sondern auch Schmeicheleien wie jene für die Ukrainer, etwa in seinem Brief an das ukrainische Volk vom 24. November 2022, in dem es heißt:
„Dann denke ich an euch junge Menschen, die ihr zur tapferen Verteidigung eures Vaterlandes Hand an die Waffen legen mußtet, statt die Träume zu verwirklichen, die ihr für die Zukunft gehegt hattet.“
Und:
„Ich bewundere euren gesunden Eifer. Trotz der unermeßlichen Tragödie, die es erleidet, hat sich das ukrainische Volk nie entmutigen lassen oder ist in Mitleid versunken. Die Welt hat ein mutiges und starkes Volk erkannt, ein Volk, das leidet und betet, weint und kämpft, durchhält und hofft: ein edles und gemartertes Volk. Ich bleibe euch nahe.“
Solche Aussagen mögen manche beeindrucken, anderen schmeicheln. Sie wurden dem Papst von Großerzbischof Schewtschuk diktiert, wie schon die für Franziskus untypische Sprache zeigt, nachdem dieser Franziskus am 7. November in Rom aufgesucht hatte. Doch sie untergraben, vom Papst geäußert, die vatikanische Diplomatie, auf die Franziskus gesetzt hatte – und schließlich interessierten sie Selenskyj gar nicht, dem Franziskus am 13. Mai eine Sammlung der päpstlichen Aussagen zum Frieden in der Ukraine überreichte.
Das jüngste Schreiben an Putin hatte Franziskus zwei Tage zuvor, am 11. Mai, dem russischen Botschafter Alexander Awdejew anläßlich von dessen Verabschiedung übergeben. Eine Reaktion des Kremls darauf ist nicht bekannt. Neuer russischer Botschafter beim Heiligen Stuhl ist seit dem 16. Mai Iwan Soltanowski, der zuvor Rußland beim Europarat vertrat. Soltanowski wird zu seinem Antrittsbesuch erwartet.
Die Quintessenz: Frieden tut not, doch derzeit wollen die beiden Kriegsparteien die Waffen sprechen lassen. Auch der Vatikan unter Papst Franziskus hatte sich im Vorfeld, in den langen Jahren zwischen 2014 und 2022, wenig bemüht, es nicht zu einer Eskalation kommen zu lassen. Die westlichen Medien interessierten sich damals wenig darum. Die politische Vorgabe aus Washington lautete, daß Putin negativ darzustellen war. Den Papst sollte aber eigentlich nicht so sehr interessieren, was die westlichen Mainstream-Medien berichten, schließlich lagen ihm die Berichte seiner eigenen Diplomaten vor, in denen, wie vatikanische Quellen versichern, die schrittweise Zuspitzung genau dokumentiert wurde.
Doch Papst Franziskus hat seinen eigenen Kopf und handelt nach diesem, eigenmächtig. Die vatikanische Diplomatie muß es schweigend zur Kenntnis nehmen und erlebt ihre Demontage. Dabei hatte sich Franziskus bei und nach seiner Wahl vor allem auf Vatikandiplomaten um den ehemaligen Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano gestützt, die sich durch Benedikt XVI. zurückgesetzt fühlten.
Das aktuelle Bild zeigt allgemeiner gesprochen noch etwas: Es scheint keinen Bereich zu geben, an den Franziskus nicht Hand anlegt und dadurch zu dessen Schwächung beiträgt. Geschwächt wird dadurch die Kirche insgesamt.
Text: Andreas Becker/Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va/VaticanMedia/Shutterstock/Wikicommons (Screenshots)
1 Womit nicht die Unabhängigkeit Sloweniens oder Kroatiens gemeint ist, sondern die Nicht-Beachtung serbischer Interessen und die Zerreißung des serbischen und kroatischen Siedlungsgebietes. Man erinnere sich, daß Serbien 1991 von den USA grünes Licht zum Krieg erhalten hatte, vom selben US-Außenminister Baker, der der Sowjetunion versicherte, die gerade freiwillig zu Rußland zurückmutierte, daß es keine NATO-Osterweiterung geben werde, und man erinnere sich auch, daß der Tudjman-Milosevic-Teilungsplan vom Westen unterbunden wurde.
Für die USA hat die Ukraine keinerlei strategischen Wert. Für Rußland aber umso mehr.
Vielleicht aber hat Putin die USA manipuliert, um diese in eine Niederlage zu ziehen. Wenn dem so wäre, müßten die Mächtigen der USA aber den Fuß vom Gaspedal nehmen. Ob so oder so: die USA sind schlecht regiert von Biden und Co.