„Immer für das Leben“ – aber nie zu laut gegen die Abtreibung

Der Vatikan spielt die Bedeutung des Urteils der US-Höchstrichter herunter und Papst Franziskus schweigt


Am Samstag war Papst Franziskus beim Weltfamilientreffen in Rom mit dem Papamobil unterwegs.
Am Samstag war Papst Franziskus beim Weltfamilientreffen in Rom mit dem Papamobil unterwegs.

(Rom) Nach­dem zunächst die Päpst­li­che Aka­de­mie für das Leben erstaun­lich emo­ti­ons­los auf das Jahr­hun­der­tur­teil des Ober­sten Gerichts­hofs der USA reagiert hat­te, trat Andrea Tor­ni­el­li, der Haupt­chef­re­dak­teur aller Vati­kan­me­di­en, mit einem Leit­ar­ti­kel an die Öffent­lich­keit. Von die­sem darf ange­nom­men wer­den, daß er vor­ab mit San­ta Mar­ta abge­stimmt wur­de. Stär­ker fällt jedoch ins Gewicht, daß Fran­zis­kus auch beim Ange­lus das Sen­sa­ti­ons­ur­teil zugun­sten des Lebens­rechts nicht erwähnte.

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Die von Tor­ni­el­li gewähl­te Über­schrift ist Programm:

„Immer für das Leben.

Es ist zu hof­fen, daß das Urteil des Ober­sten Gerichts­hofs der USA zum Anlaß genom­men wird, Geset­ze zum Schutz des Lebens, der Frau­en­rech­te und der Mut­ter­schaft zu erlassen.“

Und wei­ter:

„Das Urteil des Ober­sten Gerichts­hofs, das nach einem hal­ben Jahr­hun­dert die Lega­li­sie­rung der Abtrei­bung auf Bun­des­ebe­ne in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten auf­hebt und den ein­zel­nen Bun­des­staa­ten die Befug­nis zur Gesetz­ge­bung ein­räumt, kann eine Gele­gen­heit sein, über das Leben, den Schutz der Wehr­lo­sen und Aus­ran­gier­ten, die Rech­te der Frau und den Schutz der Mut­ter­schaft nachzudenken.

Es ist ein The­ma, zu dem sich Papst Fran­zis­kus seit Beginn sei­nes Pon­ti­fi­kats mit Nach­druck und unmiß­ver­ständ­lich geäu­ßert hat. In „Evan­ge­lii gau­di­um“, dem Doku­ment, das den Fahr­plan des amtie­ren­den Bischofs von Rom umreißt, heißt es:

‚Unter die­sen Schwa­chen, um die sich die Kir­che mit Vor­lie­be küm­mern will, sind auch die unge­bo­re­nen Kin­der, die wehr­lo­se­sten und unschul­dig­sten von allen, denen man heu­te die Men­schen­wür­de abspre­chen will, um mit ihnen machen zu kön­nen, was man will, indem man ihnen das Leben nimmt und die Gesetz­ge­bung för­dert, so daß es nie­mand ver­hin­dern kann. Um die Ver­tei­di­gung des Lebens der Unge­bo­re­nen durch die Kir­che ins Lächer­li­che zu zie­hen, wird ihr Stand­punkt häu­fig als ideo­lo­gisch, obsku­ran­ti­stisch und kon­ser­va­tiv dar­ge­stellt. Der Schutz des unge­bo­re­nen Lebens ist jedoch eng mit dem Schutz jedes Men­schen­rechts ver­bun­den. Sie setzt die Über­zeu­gung vor­aus, daß der Mensch immer hei­lig und unver­letz­lich ist, in jeder Situa­ti­on und in jeder Pha­se sei­ner Ent­wick­lung. Sie ist ein Selbst­zweck und nie­mals ein Mit­tel zur Lösung ande­rer Pro­ble­me.‘

Ein ernst­haf­tes und gemein­sa­mes Nach­den­ken über das Leben und den Schutz der Mut­ter­schaft wür­de vor­aus­set­zen, daß man die Logik der gegen­sätz­li­chen Extre­mis­men und die poli­ti­sche Pola­ri­sie­rung hin­ter sich läßt, die lei­der oft die Dis­kus­si­on über die­ses The­ma beglei­ten und einen ech­ten Dia­log verhindern.

Für das Leben zu sein, bedeu­tet immer, sich Sor­gen zu machen, zum Bei­spiel, wenn die Sterb­lich­keits­ra­te von Frau­en auf­grund von Mut­ter­schaft steigt: In den Ver­ei­nig­ten Staa­ten ist sie laut den Daten des Berichts der Bun­des­be­hör­de Cen­ters for Dise­a­se Con­trol and Pre­ven­ti­on von 20,1 Frau­en­ster­be­fäl­len pro 100.000 Lebend­ge­bur­ten im Jahr 2019 auf 23,8 Frau­en­ster­be­fäl­le pro 100.000 Lebend­ge­bur­ten im Jahr 2020 gestie­gen. Und auf­fal­lend ist, daß die Müt­ter­sterb­lich­keits­ra­te bei schwar­zen Frau­en im Jahr 2020 bei 55,3 Todes­fäl­len pro 100.000 Lebend­ge­bur­ten lag und damit 2,9 Mal so hoch war wie bei wei­ßen Frauen.

Für das Leben zu sein, bedeu­tet immer, sich zu fra­gen, wie man Frau­en hel­fen kann, ein neu­es Leben zu emp­fan­gen: Laut einer Sta­ti­stik in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten leben etwa 75 Pro­zent der Frau­en, die eine Abtrei­bung vor­neh­men las­sen, in Armut oder haben ein nied­ri­ges Ein­kom­men. Und nur 16 Pro­zent der Beschäf­tig­ten in der Pri­vat­wirt­schaft haben Zugang zu bezahl­tem Eltern­ur­laub, so eine Stu­die, die am 9. März 2020 in der Har­vard Review of Psych­ia­try ver­öf­fent­licht wur­de. Fast jede vier­te Mut­ter, die kei­nen Anspruch auf bezahl­ten Urlaub hat, ist gezwun­gen, inner­halb von zehn Tagen nach der Ent­bin­dung an ihren Arbeits­platz zurückzukehren.

Immer für das Leben zu sein, bedeu­tet auch, es gegen die Bedro­hung durch Schuß­waf­fen zu ver­tei­di­gen, die lei­der zu einer der häu­fig­sten Todes­ur­sa­chen von Kin­dern und Jugend­li­chen in den USA gewor­den sind.

Es ist daher zu hof­fen, daß die Debat­te über das Urteil des Ober­sten Gerichts­hofs der USA nicht auf eine ideo­lo­gi­sche Kon­fron­ta­ti­on redu­ziert wird, son­dern den Anstoß dazu gibt, dies­seits und jen­seits des Oze­ans zu hin­ter­fra­gen, was es bedeu­tet, das Leben will­kom­men zu hei­ßen, es zu ver­tei­di­gen und durch ent­spre­chen­de Geset­ze zu fördern.“

Tor­ni­el­li spricht in sei­nem Kom­men­tar eini­ge Beson­der­hei­ten der USA an. Es fehlt ihm aber jede Freu­de und Begei­ste­rung für das Gute, für die rich­ti­ge Ent­schei­dung der Höchst­rich­ter, für den Schutz der Unge­bo­re­nen, für den so lan­ge für unmög­lich gehal­te­nen, aber ersehn­ten Sieg für das Leben. Die Kon­se­quen­zen aus dem Urteil geht weit über die sozia­le Fra­ge hin­aus, die Tor­ni­el­li statt­des­sen sofort bemüht. Die­se sozia­le Fra­ge soll­te man aber nicht über­stra­pa­zie­ren. In Euro­pa, wo alle die von Tor­ni­el­li für die USA ange­mahn­ten Ver­bes­se­run­gen Rea­li­tät sind, fin­det das Abtrei­bungs­ge­met­zel den­noch statt. Ver­bes­ser­te arbeits­recht­li­che Bedin­gun­gen sind Neben­schau­plät­ze. Das Abtrei­bungs­pro­blem ist von grund­sätz­li­che­rer Natur. Das ist seit Jahr­zehn­ten bekannt, wes­halb Ton und Gewich­tung im Leit­ar­ti­kel Tor­ni­el­lis erstaunen. 

In San­ta Mar­ta scheint man die Trag­wei­te und Bedeu­tung des Jahr­hun­der­tur­teils des Ober­sten Gerichts­ho­fes der USA lie­ber auf klei­ner Flam­me zu betrach­ten. Die deut­sche Redak­ti­on ver­öf­fent­lich­te den Leit­ar­ti­kel noch gar nicht.

Am Wochen­en­de fand in Rom das 10. Welt­fa­mi­li­en­tref­fen statt. Am Sams­tag abend wur­de auf dem Peters­platz aus die­sem Anlaß eine Mes­se zele­briert. Fran­zis­kus nahm dar­an teil, ließ sich wegen sei­ner Knie­be­schwer­den als Zele­brant aber ent­schul­di­gen. Am Sonn­tag ström­ten die Teil­neh­mer des Welt­fa­mi­li­en­tref­fens erneut auf den Peters­platz, um mit Fran­zis­kus den Ange­lus zu beten und sei­ne Anspra­che zu hören. 

Obwohl Anlaß und Rah­men kaum geeig­ne­ter sein hät­ten kön­nen, sprach Fran­zis­kus das Jahr­hun­der­tur­teil der sechs muti­gen Höchst­rich­ter der USA nicht an, weder in sei­ner Homi­lie am Sams­tag noch in sei­ner Anspra­che am Sonn­tag. Nach dem Ange­lus erwähn­te er, über die Lage in Ecua­dor besorgt zu sein, sprach der Fami­lie und den Mit­schwe­stern einer in Hai­ti getö­te­ten Ordens­frau sein Bei­leid aus und grüß­te Pil­ger „aus Ita­li­en und ande­ren Ländern“.

Anschlie­ßend sag­te das Kirchenoberhaupt:

„Ich wün­sche Euch einen guten Sonn­tag. Und, bit­te, ver­geßt nicht, für mich zu beten.“

Und ging.

Die Unge­bo­re­nen blie­ben die gro­ßen Unge­nann­ten, eben­so die Unta­ten der Gebo­re­nen. So schwer tut man sich im alten Euro­pa beim The­ma Lebens­recht? So schwer tut sich der Hei­li­ge Stuhl, wenn es dar­um geht, dem lin­ken Main­stream zu wider­spre­chen?

Wovon der Papst spricht – und wovon nicht.

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Vati​can​.va (Screen­shot)

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