
(Rom) Nachdem zunächst die Päpstliche Akademie für das Leben erstaunlich emotionslos auf das Jahrhunderturteil des Obersten Gerichtshofs der USA reagiert hatte, trat Andrea Tornielli, der Hauptchefredakteur aller Vatikanmedien, mit einem Leitartikel an die Öffentlichkeit. Von diesem darf angenommen werden, daß er vorab mit Santa Marta abgestimmt wurde. Stärker fällt jedoch ins Gewicht, daß Franziskus auch beim Angelus das Sensationsurteil zugunsten des Lebensrechts nicht erwähnte.
Die von Tornielli gewählte Überschrift ist Programm:
„Immer für das Leben.
Es ist zu hoffen, daß das Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA zum Anlaß genommen wird, Gesetze zum Schutz des Lebens, der Frauenrechte und der Mutterschaft zu erlassen.“
Und weiter:
„Das Urteil des Obersten Gerichtshofs, das nach einem halben Jahrhundert die Legalisierung der Abtreibung auf Bundesebene in den Vereinigten Staaten aufhebt und den einzelnen Bundesstaaten die Befugnis zur Gesetzgebung einräumt, kann eine Gelegenheit sein, über das Leben, den Schutz der Wehrlosen und Ausrangierten, die Rechte der Frau und den Schutz der Mutterschaft nachzudenken.
Es ist ein Thema, zu dem sich Papst Franziskus seit Beginn seines Pontifikats mit Nachdruck und unmißverständlich geäußert hat. In „Evangelii gaudium“, dem Dokument, das den Fahrplan des amtierenden Bischofs von Rom umreißt, heißt es:
‚Unter diesen Schwachen, um die sich die Kirche mit Vorliebe kümmern will, sind auch die ungeborenen Kinder, die wehrlosesten und unschuldigsten von allen, denen man heute die Menschenwürde absprechen will, um mit ihnen machen zu können, was man will, indem man ihnen das Leben nimmt und die Gesetzgebung fördert, so daß es niemand verhindern kann. Um die Verteidigung des Lebens der Ungeborenen durch die Kirche ins Lächerliche zu ziehen, wird ihr Standpunkt häufig als ideologisch, obskurantistisch und konservativ dargestellt. Der Schutz des ungeborenen Lebens ist jedoch eng mit dem Schutz jedes Menschenrechts verbunden. Sie setzt die Überzeugung voraus, daß der Mensch immer heilig und unverletzlich ist, in jeder Situation und in jeder Phase seiner Entwicklung. Sie ist ein Selbstzweck und niemals ein Mittel zur Lösung anderer Probleme.‘
Ein ernsthaftes und gemeinsames Nachdenken über das Leben und den Schutz der Mutterschaft würde voraussetzen, daß man die Logik der gegensätzlichen Extremismen und die politische Polarisierung hinter sich läßt, die leider oft die Diskussion über dieses Thema begleiten und einen echten Dialog verhindern.Für das Leben zu sein, bedeutet immer, sich Sorgen zu machen, zum Beispiel, wenn die Sterblichkeitsrate von Frauen aufgrund von Mutterschaft steigt: In den Vereinigten Staaten ist sie laut den Daten des Berichts der Bundesbehörde Centers for Disease Control and Prevention von 20,1 Frauensterbefällen pro 100.000 Lebendgeburten im Jahr 2019 auf 23,8 Frauensterbefälle pro 100.000 Lebendgeburten im Jahr 2020 gestiegen. Und auffallend ist, daß die Müttersterblichkeitsrate bei schwarzen Frauen im Jahr 2020 bei 55,3 Todesfällen pro 100.000 Lebendgeburten lag und damit 2,9 Mal so hoch war wie bei weißen Frauen.
Für das Leben zu sein, bedeutet immer, sich zu fragen, wie man Frauen helfen kann, ein neues Leben zu empfangen: Laut einer Statistik in den Vereinigten Staaten leben etwa 75 Prozent der Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen, in Armut oder haben ein niedriges Einkommen. Und nur 16 Prozent der Beschäftigten in der Privatwirtschaft haben Zugang zu bezahltem Elternurlaub, so eine Studie, die am 9. März 2020 in der Harvard Review of Psychiatry veröffentlicht wurde. Fast jede vierte Mutter, die keinen Anspruch auf bezahlten Urlaub hat, ist gezwungen, innerhalb von zehn Tagen nach der Entbindung an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren.
Immer für das Leben zu sein, bedeutet auch, es gegen die Bedrohung durch Schußwaffen zu verteidigen, die leider zu einer der häufigsten Todesursachen von Kindern und Jugendlichen in den USA geworden sind.
Es ist daher zu hoffen, daß die Debatte über das Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA nicht auf eine ideologische Konfrontation reduziert wird, sondern den Anstoß dazu gibt, diesseits und jenseits des Ozeans zu hinterfragen, was es bedeutet, das Leben willkommen zu heißen, es zu verteidigen und durch entsprechende Gesetze zu fördern.“
Tornielli spricht in seinem Kommentar einige Besonderheiten der USA an. Es fehlt ihm aber jede Freude und Begeisterung für das Gute, für die richtige Entscheidung der Höchstrichter, für den Schutz der Ungeborenen, für den so lange für unmöglich gehaltenen, aber ersehnten Sieg für das Leben. Die Konsequenzen aus dem Urteil geht weit über die soziale Frage hinaus, die Tornielli stattdessen sofort bemüht. Diese soziale Frage sollte man aber nicht überstrapazieren. In Europa, wo alle die von Tornielli für die USA angemahnten Verbesserungen Realität sind, findet das Abtreibungsgemetzel dennoch statt. Verbesserte arbeitsrechtliche Bedingungen sind Nebenschauplätze. Das Abtreibungsproblem ist von grundsätzlicherer Natur. Das ist seit Jahrzehnten bekannt, weshalb Ton und Gewichtung im Leitartikel Torniellis erstaunen.
In Santa Marta scheint man die Tragweite und Bedeutung des Jahrhunderturteils des Obersten Gerichtshofes der USA lieber auf kleiner Flamme zu betrachten. Die deutsche Redaktion veröffentlichte den Leitartikel noch gar nicht.
Am Wochenende fand in Rom das 10. Weltfamilientreffen statt. Am Samstag abend wurde auf dem Petersplatz aus diesem Anlaß eine Messe zelebriert. Franziskus nahm daran teil, ließ sich wegen seiner Kniebeschwerden als Zelebrant aber entschuldigen. Am Sonntag strömten die Teilnehmer des Weltfamilientreffens erneut auf den Petersplatz, um mit Franziskus den Angelus zu beten und seine Ansprache zu hören.
Obwohl Anlaß und Rahmen kaum geeigneter sein hätten können, sprach Franziskus das Jahrhunderturteil der sechs mutigen Höchstrichter der USA nicht an, weder in seiner Homilie am Samstag noch in seiner Ansprache am Sonntag. Nach dem Angelus erwähnte er, über die Lage in Ecuador besorgt zu sein, sprach der Familie und den Mitschwestern einer in Haiti getöteten Ordensfrau sein Beileid aus und grüßte Pilger „aus Italien und anderen Ländern“.
Anschließend sagte das Kirchenoberhaupt:
„Ich wünsche Euch einen guten Sonntag. Und, bitte, vergeßt nicht, für mich zu beten.“
Und ging.
Die Ungeborenen blieben die großen Ungenannten, ebenso die Untaten der Geborenen. So schwer tut man sich im alten Europa beim Thema Lebensrecht? So schwer tut sich der Heilige Stuhl, wenn es darum geht, dem linken Mainstream zu widersprechen?

Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)
Da zieht sich alles in mir zusammen.
Die Kirche hat fertig.
Leider haben wir Hirten, die der Welt gefallen wollen.
Einen Papst der mal so oder so spricht.
Man kennt sich schon nicht mehr aus.
Bei Gott gibt es ein „Ja oder Nein!“
Ist die Folge unserer Zeit ‚nicht die Folge unsere
Sünde ‚durch die Millionenfache Abtreibungen ?
Wir brauchen Hirten ‚die in der Wahrheit bleiben
und verkündigen und nicht den Zeitgeist nachlaufen.
Dann würden sich die Kirche wieder füllen.