
Anlässlich der Eucharistischen Anbetung für das Leben, die jedes Jahr kurz vor dem Jahrestag der Verabschiedung des berüchtigten Gesetzes 194 stattfindet, das die Abtreibung in Italien am 22. Mai 1978 erlaubte, leitete Kardinal Gerhard Müller die feierliche Zeremonie in der römischen Pfarrei San Giovanni dei Fiorentini. Am 22. Mai fand dann der diesjährige Marsch für das Leben in Rom statt. Kardinal Müller hielt eine Predigt, die wir im Folgenden wiedergeben:
Kürzlich hat der Heilige Vater auf den drastischen Bevölkerungsrückgang hingewiesen, der die Zukunft Europas und Amerikas bedroht, und das ist nicht nur eine Frage des bloßen Nützlichkeitsdenkens, damit Wirtschaft und Staat mit zukünftigen Konsumenten, Kunden und Steuerzahlern weitermachen können. Der Grund für diese Frage ist theologischer Natur:
„Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das Gott für sich selbst gewollt hat“ (Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes, 24), denn jeder Mensch ist von Gott dazu vorherbestimmt (was seine gegenwärtige Existenz auf der Erde betrifft), „an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene von vielen Brüdern sei“ (Röm 8,29).
So ist jeder Mensch vom ersten Augenblick seiner Empfängnis bis zu seinem letzten Atemzug von Gottes Heilswillen umfasst. Daher ist jeder Akt des Unrechts gegen das Leben und die Unversehrheit eines anderen Menschen, insbesondere die Tötung eines Kindes im Mutterleib (oder sogar im Reagenzglas [in vitro] oder im Inkubator) ein „verabscheuungswürdiges Verbrechen“ (Gaudium et spes, 51). Denn das Leben ist heilig und wird von Gott selbst geschützt, wie das fünfte Gebot des Dekalogs besagt:
„Du sollst nicht töten“ (Dtn 5,17).
Die Rechtsordnung in allen Gesellschaften und Staaten zielt auf ein menschliches Zusammenleben auf der Grundlage der Moral ab; Moral bedeutet die Ausrichtung unseres Handelns auf das Gute, deren Grundlage die Anerkennung der grundlegenden Würde und Rechte des Menschen ist, die seiner Natur innewohnen und von Gott garantiert sind. Als Menschen und Christen sind wir überzeugt, dass der reale (und nicht nur abstrakt theoretisierte) physische Mensch niemals als Zweck und Instrument für etwas anderes oder für die Interessen anderer existiert. Das ist die Grundlage unseres Menschenbildes und das Kriterium jeder Ethik.
Das Gegenteil davon ist hingegen der Ausgangspunkt aller Verbrechen gegen die Menschheit und zynische Menschenverachtung, mit der ein Josef Stalin erklärte, dass Gulag-Häftlinge nur ein Recht auf Leben hätten, weil sie für den Bau des Weißmeerkanals nützlich seien. Ein Heinrich Himmler, Befehlshaber der berüchtigten SS, sagte über seinen Chef Hitler, dass ihn „das Leben von tausend russischen Frauen nur interessiert, bis sie einen Panzerabwehrgraben für die Wehrmacht ausgehoben haben“. Und das sind nur zwei besonders drastische Beispiele für die Abgründe der Menschenverachtung in den politischen Ideologien einer noch nicht allzu fernen Zeit. Wenn man glaubt, dass es auf unserem Planeten eine Überbevölkerung gibt, die Ressourcen verbraucht oder das Klima negativ beeinflusst, kann man dennoch nicht die Tötung des Lebens im Mutterleib propagieren und rechtfertigen, ohne sich als teuflischer Menschenfeind zu entlarven. Papst Franziskus, auf den sich einige Vertreter der „reproduktiven Gesundheit“ (d. h. der Abtreibung) berufen, sagt dies auf sehr drastische Weise.
Die Materialisten, die in den westlichen kapitalistischen Staaten und internationalen Organisationen an der Macht sind, und ebenso die kommunistischen Diktatoren in China und den mit ihm verbündeten Staaten lehnen die Lehre von der Erschaffung des Menschen nach dem Bilde Gottes ab, weil sie nicht an Gott als unseren Schöpfer und Richter glauben. Im Gegenteil, sie nehmen für sich in Anspruch, sich an die Stelle Gottes zu setzen und sind in ihrer törichten Arroganz nicht einmal in der Lage, das winzige Coronavirus zu besiegen. Jemand sagte kürzlich: Die Oligarchen in Russland sind Mafiosi und im Westen nennen sie sich Philanthropen, also: Hüte dich vor denen, die sich als Retter der Menschheit aufspielen, während sie doch nur ihre eigenen Interessen verfolgen.
Während Millionen von Menschen aufgrund der Pandemiekrise und der zu ihrer Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen in Not und Armut geraten sind, konnten die zehn reichsten Menschen der Welt gleichzeitig ihr Vermögen um Hunderte von Milliarden vermehren.
Die vorherrschende ideologische Strömung in Politik, Wirtschaft und Kommunikation denkt in einer darwinistisch-sozialistischen Perspektive. Das heißt: Wer sich im Kampf um Macht, Geld und Propaganda durchsetzt, habe auch das Recht auf seiner Seite, weshalb nur die Mächtigen das Recht hätten, durch ihre Interessen definiert zu bestimmen, wer leben darf und wer sterben muss. Sie nehmen für sich in Anspruch, zu bestimmen, welches Leben lebenswert ist und welches Leben nicht lebenswert ist. Andere halten es sogar für eine höhere Form der Menschlichkeit, das Leben nur dann zu garantieren, wenn es gesund geboren wird, während es beseitigt werden muss, wenn es krank geboren wird oder im Alter, um gegenwärtiges und zukünftiges Leid zu vermeiden. Oder im Falle von Mehrlingsschwangerschaften sollte nur das Kind überleben, das die Eltern nach ihren Bedürfnissen und Vorlieben mögen; so führte China jahrzehntelang die brutale und unmenschliche Ein-Kind-Politik ein und zwang Frauen, ihre Kinder zu töten. Wer aber nach den Grundrechten denkt, die in die geistige und moralische Natur des Menschen eingeschrieben sind, oder wer sich auf die Offenbarung im Wort Gottes als letztes Kriterium für das Bild des Menschen beruft, kann niemals einen gerechten Grund finden, einen unschuldigen Menschen zu töten.
Wir befinden uns in einem „Krieg gegen die Heiligen“ (Offb 13,7), nicht nur in dem unmenschlichen Krieg gegen das ukrainische Volk, sondern auch im Westen, der seine christlichen Wurzeln radikal verleugnet. Hinter den Verantwortlichen für all das Leid verbirgt sich „das Tier, das aus der Erde heraufstieg“, der Inbegriff der Bosheit und Gottlosigkeit, der durch den Kampf auf Leben und Tod der Anhänger Gottes und gegen Christus, das Lamm Gottes, entfesselt wurde. Wer heute in Europa oder Amerika eine Pro-Life-Position vertritt, wird beleidigt, verfolgt, diskriminiert und ausgegrenzt. Richter des Obersten Gerichtshofs der USA, die sich gegen das Recht auf Abtreibung aussprechen, werden mit dem Tod bedroht, und die Sicherheit ihrer Familien ist gefährdet. Der von den neomarxistischen Medien geschürte Mob zündet katholische Kirchen an, und das in einem Land, das sich der Religions‑, Meinungs- und Gewissensfreiheit rühmt. In Deutschland, wie in ganz Europa, wo ein Vernichtungsfeldzug gegen das Leben, die Ehe und die Familie im Gange ist, lässt die Regierung Werbung für Abtreibung zu und bestraft diejenigen, die Mütter vor Abtreibungskliniken vor dem barbarischsten Verbrechen warnen, nämlich der Tötung ihres eigenen Kindes im Mutterleib.
Nicht nur an die Christgläubigen, sondern an alle Menschen richtete sich das Zweite Vatikanische Konzil in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes, als Magna Carta pro vita auf der Grundlage der unveräußerlichen Menschenrechte:
„Was ferner zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: All diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers“ (Gaudium et spes, 27).
In dieser Stunde des Kampfes für das Leben und gegen den Tod der Ungeborenen, für die Würde der Schwerkranken, aber auch für die Suizidgefährdeten, wenn man sie davon überzeugen will, dass der Tod (getarnt als Barmherzigkeit) ihr Recht ist, werden wir Christen daran erinnert:
„Tu deinen Mund auf zugunsten der Stummen, für das Recht aller Schwachen!“ (Spr 31,8).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana