
Heute vor zehn Jahren, am 20. Juli, wurde von Katholisches.info ein Beitrag veröffentlicht, der unserer Meinung nach – für manche vielleicht überraschend – wohl zu den bedeutendsten gehört, die wir bisher vorlegen durften. Er legt nicht nur ein konkretes, tief bewegendes Einzelschicksal dar, sondern zeigt daran die unendliche Größe Gottes, Seine unermeßliche Güte, das durch ihn geschenkte menschliche Genie, und ist zugleich ein massiver Weckruf an unsere Zeit. Der Rückgriff auf Ereignisse, die sich vor tausend Jahren zutrugen, bietet zudem einen erhellenden Blick auf die lange Kirchengeschichte und mehr noch auf die Menschheitsgeschichte insgesamt. Niemand weiß mehr vom Menschen, seiner Existenz und dem Sinn seines Daseins als die Kirche. Deshalb hat sie der Welt, den Menschen aller Zeiten, als Mater et Magistra etwas zu sagen, nicht umgekehrt. Diesen zutiefst in die menschliche Existenz, des einzelnen und der Gesamtheit, eindringenden Beitrag legen wir heute erneut vor.
Heute würde er abgetrieben – Als Genie komponierte er vor 1000 Jahren das „Salve Regina“
Von Giuseppe Nardi
Heute hätte er wenig Aussicht, das Licht der Welt zu erblicken. Die „humanste“, „demokratischste“ und „freiste“ Menschheitsepoche ist auch die gefährlichste, ja tödlichste des Menschengeschlechts. Im „finsteren“ Mittelalter hingegen durfte er leben. Die Rede ist von Hermann von Altshausen-Veringen, besser bekannt als Benediktinermönch Hermann von Reichenau. Geboren wurde Hermann am 18. Juli 1013, vor 1000 Jahren, in Altshausen in Oberschwaben, heute Landkreis Ravensburg. Hermann, der später als Mönch auf der Insel Reichenau im Bodensee lebte, wurde wegen seiner Behinderung auch mit dem weniger freundlichen Epitheton Hermann der Lahme bezeichnet. Ihm verdankt die Welt eine der außergewöhnlichsten, einfühlsamsten, ja wunderbarsten Kompositionen: die Antiphon Salve Regina.
Eltern, die ihn nicht versteckten
Der kleine Hermann kam sichtlich gezeichnet, krank und körperlich deformiert zur Welt. Vielleicht wegen einer frühkindlichen Hirnschädigung oder eines offenen Rückens würde er heute „aus Humanität“ getötet werden. Seine Eltern Graf Wolfrat und Hiltrud von Altshausen waren jedoch gläubige Christen und sorgten sich um den kleinen Hermann so wie um seine 14 Brüder und Schwestern.
Von klein auf wurde er der „Krumme“ genannt, weil sein Körperbau so verzogen war. Geradestehen war ihm zeit seines Lebens unmöglich, ebenso wenig konnte er richtig gehen. Selbst in dem eigens für ihn von den Eltern angefertigten Stuhl hatte er Schwierigkeiten zu sitzen. Seine Finger waren zu schwach und zu verkrümmt zum Schreiben. Lippen und Kinn waren so deformiert, daß man seine Worte kaum verstehen konnte. Die adelige Familie war wohlhabend. Noch mehr Grund für andere, ein solches Kind lieber zu verstecken. Doch sie versteckten ihren Sohn nicht.
Das Geschenk, auf die Reichenau zu dürfen
Hermanns Eltern, um die Zukunft ihres Kindes besorgt, entschieden stattdessen, ihn in sichere Obhut zu geben. Kein Abschieben, sondern eine Obhut, die ihm auch über ihren Tod hinaus Schutz bieten würde. Sie übergaben ihren Sohn den Benediktinern der von Karl dem Großen gestifteten Abtei Reichenau im Bodensee.
„Hier öffnete sich, aufgrund welcher religiösen Psychotherapie auch immer, der Geist dieses Jungen, der mehr Laute als Worte von sich geben konnte“, wie sein moderner Biograph Cyril Matindale schrieb.
Es gab keinen Augenblick in seinem Leben, in dem Hermann der Lahme es sich bequem und gemütlich machen hätte können. Immer begleiteten ihn seine Gebrechen und Schmerzen. Dennoch beschreiben ihn alle zeitgenössischen Chronisten mit erstaunlichen Adjektiven, natürlich in lateinischer Sprache: freundlich, freundschaftlich, immer lächelnd, tolerant, offenherzig, entgegenkommend, hilfsbereit, höflich mit allen. Alle mochten ihn, ihn, den Krummen, Gebogenen, Beladenen.
Vom Schützling zum Mönch
Er wurde von den Reichenauer Mönchen nicht nur als anvertrauter Zögling akzeptiert, sondern schließlich von ihnen sogar in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Die stabilitas loci der Benediktiner galt nun nicht mehr nur im schützenden Sinn der Eltern, sondern als wirkliche Heimstatt des physisch Gezeichneten. Die Abtei wurde für Hermann zur irdischen und geistlichen Heimat.
Er studierte Mathematik, Griechisch, Latein, Astronomie, Musik und sogar Arabisch. Er verfaßte einen umfassenden Aufsatz über das Astrolabium, ein astronomisches Instrument, der wissenschaftliche Berühmtheit erlangte. Was anfangs eine Last für das Kloster schien, wurde zu seinem Stolz. Der Ruf Hermanns des Lahmen wurde, wider alle menschlichen Erwartungen, so groß, daß selbst Kaiser Heinrich III. 1048 und Papst Leo IX. 1049 eigens die Reichenau besuchten, um mit ihm zusammenzutreffen.
Historiker, Naturwissenschaftler, Astronom und das „Salve Regina“
Aber nicht nur als Naturwissenschaftler und Historiker zeichnete sich der Schwabe aus, sondern auch in der Musik. Seine musische Leidenschaft verband er mit seiner Frömmigkeit und seiner großen geistlichen Leidenschaft, der Verehrung der Gottesmutter und allreinsten Jungfrau Maria, die er innerlich rühmte. Es gilt faktisch als gesichert, daß von ihm, dem buckligen Mönch mit den krummen Fingern, vor 1054 die berühmteste marianische Antiphon, das Salve Regina, das Gegrüßet seist du, Königin, auf der Reichenau getextet und komponiert wurde. Seinem Genie verdankt die Welt eines der großartigsten Werke sakraler Musik, ein Werk, ein Gebet, das noch 1000 Jahre später weltweit erklingt und in den Menschen eine ganz besondere Saite zum Schwingen bringt. Ein verehrender Gruß, mit dem die Christen die Hilfe der allerseligsten Gottesmutter erbitten. Ein wunderbarer Gesang, komponiert von einem, der selbst nicht singen konnte.
Die geistliche Reife Hermanns des Lahmen soll beispielhaft durch eine freundliche Mahnung dargestellt werden, die er am Totenbett seinem Mitbruder Berthold erteilte:
„Freund meines Herzens, weine nicht. Weine nicht um mich! Denke aber jeden Tag daran, daß auch Du sterben mußt. Bereite Dich mit Deiner ganzen Kraft darauf vor, diese Reise anzutreten, denn eines Tages, zu einer Stunde, die Du nicht weißt, wirst Du mit mir kommen.“
Seine Verehrung
Hermann stirbt am 24. September 1054 im Alter von erst 41 Jahren, umgeben von seinen Mitbrüdern, die ihm Freunde geworden waren, nachdem er ein letztes Mal die heilige Kommunion empfangen hatte. 1863 soll Papst Pius IX. die Verehrung Hermanns als „Seligen“ bestätigt haben. [1]
Die Antiphon zu Ehren der Gottesmutter
Hören wir die berühmte Antiphon, die Heinrich von Reichenau selbst nie singen konnte, in der bekannten Vertonung von Henri Du Mont:
Salve, Regina,
mater misericordiae;
vita, dulcedo et spes nostra, salve.
Ad te clamamus, exsules filii Evae.Ad te suspiramus,
gementes et flentes in hac lacrimarum valle.
Eia ergo, advocata nostra,
illos tuos misericordes oculos
ad nos converte.Et Iesum, benedictum fructum ventris tui,
nobis post hoc exsilium ostende.O clemens, o pia, o dulcis Virgo Maria.
Sei gegrüßt, o Königin,
Mutter der Barmherzigkeit,
unser Leben, unsre Wonne
und unsere Hoffnung, sei gegrüßt!
Zu dir rufen wir verbannte Kinder Evas;
zu dir seufzen wir
trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen.
Wohlan denn, unsre Fürsprecherin,
wende deine barmherzigen Augen uns zu,
und nach diesem Elend zeige uns Jesus,
die gebenedeite Frucht deines Leibes.
O gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria.
Text: Cantuale Antonianum/Giuseppe Nardi
Bild: Cantuale Antonianum
In diesem Zusammenhang als Pflichtlektüre zu empfehlen und sehr ergreifend: Das Buch „Die letzte Freiheit“ von Maria Calasanz Ziesche. Ihr Buch beschreibt (mit künstlerischen Ausschmückungen) sehr eindrücklich das Wirken dieser bedeutenden Persönlichkeit des Mittelalters.
https://www.sarto.de/die-letzte-freiheit