Popper und die Folgen

Eine Auseinandersetzung mit K. R. Popper, dem einflußreichsten Repräsentanten deutscher Reeducation


Karl Popper mit George Soros 1994 bei der Eröffnung der Central European University in Prag. Die Soros-Universität mußte 1996 die Tschechische Republik verlassen. Ungarn verließ sie 2019.

Von Univ.-Doz. em. Dr. Fried­rich Romig*

Anzei­ge

Eine Ana­ly­se der gei­sti­gen Strö­mun­gen unse­rer Zeit kann schon des­we­gen nicht auf die Behand­lung des Wer­kes von Sir Karl R. Pop­per ver­zich­ten, weil es eine ganz ent­schei­den­de Rol­le in der “Umer­zie­hung” der Deut­schen1 nach dem 2. Welt­krieg spiel­te und von ihm der wohl schwer­ste Angriff auf die urtüm­lich­ste Form deut­scher Gei­stig­keit, die idea­li­stisch-ganz­heit­li­che Phi­lo­so­phie2, geführt wur­de. Viel nach­hal­ti­ger als die „Frank­fur­ter Schu­le“3 und ihre „Kul­tur­re­vo­lu­ti­on“ hat Pop­per die bis heu­te gül­ti­ge und „kor­rek­te“ poli­ti­sche Phi­lo­so­phie geprägt. Durch ihn wur­de, wie ein klu­ger Beob­ach­ter schrieb, „den Deut­schen eine neue See­le ein­ge­impft“4.

Pop­per asso­zi­iert den Deut­schen Idea­lis­mus und sei­ne ganz­heit­li­che Aus­prä­gung als Ideo­lo­gie der Hor­de oder der „geschlos­se­nen Gesell­schaft“ mit Tri­ba­lis­mus, Kol­lek­ti­vis­mus, Ras­sis­mus, Faschis­mus, Eli­ten­leh­re, Auto­ri­täts­glau­ben, Anti­de­mo­kra­tis­mus, Irra­tio­na­lis­mus, Uto­pis­mus, Frem­den­pho­bie, Ver­fol­gung, Gewalt­herr­schaft, Liqui­die­run­gen, Kin­der­mord, Krieg. Die Urvä­ter der idea­li­sti­schen Ganz­heits­leh­re sind für ihn Pla­ton und Ari­sto­te­les. Zwi­schen die­sen Urvä­tern und dem Faschis­mus bil­det Hegel das Bindeglied.

Bei die­ser Behand­lung Pop­pers beschrän­ken wir uns hier auf sein zwei­bän­di­ges Werk „Die offe­ne Gesell­schaft und ihre Fein­de“, das aus dem Eng­li­schen über­setzt von P. K. Feyer­abend, 1957 und 1958 in Bern unter dem Titel „Der Zau­ber Pla­tons“ (Band I) und „Fal­sche Pro­phe­ten – Hegel, Marx und die Fol­gen“ (Band II) erschie­nen ist.5 Wir wer­den die­se Dar­stel­lung in drei Tei­le glie­dern: Der erste Teil wird der Posi­ti­on Pop­pers vor­be­hal­ten sein, den zwei­ten Teil wer­den wir dem Angriff Pop­pers auf die idea­li­sti­sche Ganz­heits­leh­re und ihre Ver­tre­ter wid­men und der drit­te Teil wird unse­re Kri­tik an Pop­per ent­hal­ten.6

1. Teil: Die „offene Gesellschaft“

§ 1 Der Glaube an die Vernunft als Grundprämisse der Wissenschaft

Wie für die Idea­li­sti­sche Phi­lo­so­phie, so geht auch für Pop­per „Glau­be vor Wis­sen­schaft“, aber die­ser Glau­be ist nicht höch­ste Gewiß­heit und als sol­che der feste Grund aller Wis­sen­schaft. Der kri­ti­sche Ratio­na­lis­mus beruht viel­mehr auf einem irra­tio­na­len Glau­ben an die Ver­nunft (II, 284), dem sei­ner­seits wie­der eine mora­li­sche Ent­schei­dung vor­aus­geht (II, 285), die aus dem Urteil fließt, das unser Gewis­sen ange­sichts der Kon­se­quen­zen fällt, die mit unse­rem Glau­ben und unse­rer Ent­schei­dung ver­bun­den sind (II, 286f). Der rech­te Glau­be an die Ver­nunft führt die Seg­nun­gen der „offe­nen“ Gesell­schaft her­bei; fehlt er, so sind Tyran­nei und Unter­drückung in der „geschlos­se­nen“ Stam­mes­ge­sell­schaft unser Los.

§ 2 Der kritische Rationalismus

„Kri­ti­scher Ratio­na­lis­mus“ bedeu­tet eine Ein­stel­lung, die mög­lichst vie­le Pro­ble­me durch Appell an die Ver­nunft und die Erfah­rung zu lösen sucht, aus der Erfah­rung lernt, kri­ti­sche Argu­men­te anhört und einen sach­li­chen Schieds­spruch bei Inter­es­sen­aus­ein­an­der­set­zun­gen für mög­lich hält (II, 276).

§ 3 Die Vernunft als Produkt menschlicher Beziehungen

Die Ver­nunft ist ein Pro­dukt des sozia­len Lebens. Wir ver­dan­ken sie gewis­sen kon­kre­ten Indi­vi­du­en und unse­rem intel­lek­tu­el­len Ver­kehr mit ihnen, der Argu­men­ta­ti­on und Kri­tik (II, 276ff).

§ 4 Der hypothetische und empirische Charakter der Wissenschaft, das Prinzip der Falsifikation oder die Methode des Neopositivismus

Wis­sen­schaft­li­che Theo­rien sind nichts als Hypo­the­sen (II, 19), mit denen wir arbei­ten, solan­ge sie sich bewäh­ren. Sie sind nie­mals „wahr“, „end­gül­tig“‘, nicht ein­mal „mehr oder weni­ger sicher“, oder „wahr­schein­lich“ (II, 361), son­dern bloß vor­läu­fig. Es gibt kei­ne vor­aus­set­zungs­lo­se Wis­sen­schaft (TI, 465). Als Samm­lung von Tat­sa­chen ist sie abhän­gig von den Inter­es­sen des Samm­lers, abhän­gig von sei­nem Gesichts­punkt, d. h. sei­ner Theo­rie (II, 320) als jener vor­ge­faß­ten Mei­nung, mit deren Hil­fe er aus der unend­li­chen Man­nig­fal­tig­keit von Tat­sa­chen und Aspek­ten jene aus­wählt, die ihn inter­es­sie­ren (II, 321), weil sie die Theo­rie bestä­ti­gen oder wider­le­gen. Eine Theo­rie ist dann wis­sen­schaft­lich, wenn sie unter der Bedin­gung der Mög­lich­keit der Wider­le­gung, der Fal­si­fi­zier­bar­keit ihrer Vor­aus­sa­gen durch die Erfah­rung und Beob­ach­tung steht (II, 321). „Inso­fer­ne sich die Sät­ze einer Wis­sen­schaft auf die Wirk­lich­keit bezie­hen, müs­sen sie fal­si­fi­zier­bar sein, und inso­fer­ne sie nicht fal­si­fi­zier­bar sind, bezie­hen sie sich nicht auf die Wirk­lich­keit” (II, 20). „Wis­sen­schaft ist durch Beob­ach­tung und Expe­ri­ment über­prüf­te Theo­rie“ (II, 361). Wis­sen­schaft ist dem­nach der Schatz an Hypo­the­sen (Theo­rien), die noch nicht durch Erfah­rung und Beob­ach­tung wider­legt sind. Die Ver­wer­fung von Theo­rien ist das Vehi­kel des wis­sen­schaft­li­chen Fort­schritts (II, 321). Der Weg der Wis­sen­schaft ist gepfla­stert mit abge­leg­ten Theo­rien (II, 23).

§ 5 Begriffe als „Wortmarken“: der Nominalismus

Begrif­fe sind „Wort­mar­ken“ (II, 364), abkür­zen­de Sym­bo­le einer mehr oder min­der lan­gen Defi­ni­ti­ons­for­mel (II, 21), „Fach­aus­drücke“ (II, 26), die kei­ner­lei Wis­sen oder Infor­ma­ti­on bie­ten (II, 22). Die Defi­ni­ti­on ist ein Satz, der mit­teilt, daß der defi­nier­te Aus­druck (die „Wort­mar­ke“) das­sel­be bedeu­tet wie die Defi­ni­ti­ons­for­mel und daß sich das Defi­ni­ens durch das Defi­ni­en­dum erset­zen läßt und umge­kehrt (II, 365). Die Wis­sen­schaft hängt nicht vom Sinn der Begrif­fe ab, die sie ver­wen­det, son­dern von den Tat­sa­chen, um die sie sich annimmt (II, 27). „Der Gebrauch von Defi­ni­tio­nen kann nur zu Wort­klau­be­rei­en füh­ren“ (TI, 365) .

§ 6 Die Sprache als Instrument der Kommunikation

„Klar spre­chen, das heißt so spre­chen, daß es auf die Wor­te nicht ankommt“ (II, 371). Die Spra­che ist nichts als ein ratio­na­les Instru­ment der Kom­mu­ni­ka­ti­on und nicht Mit­tel zum Selbst­aus­druck, wie es im übli­chen roman­ti­schen Jar­gon der mei­sten unse­rer Erzie­her heißt” (II, 294). Als „Mit­tel zum Selbst­aus­druck“ ver­liert sie ihre Funk­ti­on, sie ist dann nicht mehr Mit­tel einer Ver­stän­di­gung im gemein­sa­men Medi­um der Ver­nunft. Nur ratio­na­le Spra­chen sind wech­sel­sei­tig über­setz­bar und wir­ken durch wech­sel­sei­ti­ge Über­setz­bar­keit als ver­ei­ni­gen­des Band der Mensch­heit (II, 294).

§ 7 Die rationalistische Auffassung der Gesellschaft: die „abstrakte“ oder „offene“ Gesellschaft

Die moder­ne Gesell­schaft ähnelt einer völ­lig abstrak­ten oder ent­per­sön­lich­ten Gesell­schaft von Mit­glie­dern, die kei­ner­lei oder nur sehr weni­ge per­sön­li­che Bezie­hun­gen haben und in Anony­mi­tät und Iso­liert­heit leben (235). Die moder­nen offe­nen Gesell­schaf­ten funk­tio­nie­ren „zum Groß­teil auf dem Weg über abstrak­te Rela­tio­nen wie Aus­tausch oder Arbeits­tei­lung …“ (II, 236), Geld­wirt­schaft, freie Markt­wirt­schaft. Eines ihrer wich­tig­sten Kenn­zei­chen ist der Wett­streit ihrer Mit­glie­der um die Stel­lung, die sie in ihr ein­neh­men wol­len, ihr Stre­ben, sozi­al empor­zu­kom­men und die Stel­len ande­rer Mit­glie­der ein­zu­neh­men (234).

§ 8 Sozialwissenschaft als Sozialtechnik der Einzelprobleme

Der Auf­bau einer empi­ri­schen Sozi­al­wis­sen­schaft kann nur über eine ratio­na­le Sozi­al­tech­nik erfol­gen, d. h. über „die von Fall zu Fall ange­wen­de­te Sozi­al­tech­nik der Ein­zel­pro­ble­me, die Tech­nik des schritt­wei­sen Umbau­es der Gesell­schafts­ord­nung oder die Ad-hoc-Tech­nik …“ (213f). Im Gegen­satz zur uto­pi­sti­schen Sozi­al­tech­nik oder Ganz­heits­pla­nung, die den Gesamt­um­bau der Gesell­schaft bezweckt, setzt sich die ratio­na­le Sozi­al­tech­nik beschränk­te Zie­le (215): Sie unter­sucht die Eig­nung sozia­ler Insti­tu­tio­nen für die Errei­chung mensch­li­cher Zwecke (401), sie ent­wickelt Maß­nah­men für die Ver­bes­se­rung ihres Wir­kungs­gra­des, ent­wirft Plä­ne für die Ände­rung sozia­ler Insti­tu­tio­nen in Über­ein­stim­mung mit unse­ren Wün­schen und Zie­len (48), z. B. für Kran­ken­ver­si­che­run­gen, Arbeits­lo­sen­ver­si­che­run­gen, Depres­si­ons­be­kämp­fung oder Schul­re­for­men (216). Sie ist nicht auf der Suche nach einem „wah­ren“ oder „idea­len“ Staat (220), einem „höch­sten Gut“, sie ver­sucht nicht „Glück“ zu brin­gen, Voll­kom­men­heit, Ein­heit oder Schön­heit (266), son­dern sie ver­sucht, die größ­ten Übel und das schwer­ste Leid zu besei­ti­gen (215). Statt dem größ­ten Glück für die größ­te Zahl strebt sie lie­ber nach dem klein­sten Maß an Leid für alle (388).

Die­se Sozi­al­tech­nik der klei­nen Schrit­te hat den Vor­teil, daß sie sofort anwend­bar ist und nicht zu einer bestän­di­gen Ver­schie­bung des Han­delns führt und die Früch­te ihrer Maß­nah­men nicht für eine unab­seh­bar fer­ne Zukunft ver­spre­chen muß (215). Die ein­zel­nen Schrit­te sind rela­tiv ein­fach zu beur­tei­len, weni­ger ris­kant und aus die­sem Grund weni­ger umstrit­ten (216). Sie wer­den daher leich­ter unter­stützt, aus­ge­han­delt und kontrolliert.

Die Metho­de, die bei die­ser Sozi­al­tech­nik der Ein­zel­pro­ble­me Anwen­dung fin­det, ist die Tri­al-and-Error-Metho­de, die allein zu einer empi­ri­schen Sozi­al­wis­sen­schaft bei­tra­gen kann (397). Nur durch Ver­such und Irr­tum ler­nen wir (227). Das gan­ze Geheim­nis der wis­sen­schaft­li­chen Metho­de liegt in der Bereit­schaft, aus began­ge­nen Feh­lern zu ler­nen (227). Sie allein ist der Weg zur Ratio­na­li­sie­rung der Gesell­schaft und der Poli­tik (II, 294 und I, 214).

§ 9 Die humanitären Wertvorstellungen und die Verfassung der sozialen Institutionen: Gleichheit und Machbarkeit der Institutionen

Alle sozia­len Insti­tu­tio­nen und die ihnen zugrun­de lie­gen­den Nor­men sind Men­schen­werk in dem Sin­ne, daß nie­mand ande­rer außer uns selbst für sie ver­ant­wort­lich ist (401 u. II, 96). Nor­men und Insti­tu­tio­nen sind abän­der­lich, sie sind nicht tabu (233), son­dern einer ratio­na­len Ein­stel­lung zugäng­lich, die es unter­nimmt, die sozia­len Bedin­gun­gen zu ver­bes­sern. Sol­che Ver­bes­se­run­gen set­zen den Glau­ben an die „offe­ne Gesell­schaft“ vor­aus, der im Glau­ben an die Ver­nunft, an die Frei­heit und an die Brü­der­lich­keit aller Men­schen besteht (248) und die ”kri­ti­schen Fähig­kei­ten des Men­schen in Frei­heit setzt” (21). Die­ser Glau­be führt zu einer huma­ni­tä­ren Ein­stel­lung zur Gerech­tig­keit, womit gemeint wird:

„a) Die glei­che Ver­tei­lung der Lasten der Staats­bür­ger­schaft, d. h. der im sozia­len Leben not­wen­di­gen Ein­schrän­kun­gen der Frei­heit;
b) die glei­che Behand­lung der Bür­ger vor dem Gesetz, vor­aus­ge­setzt natür­lich, daß
c) die Geset­ze selbst ein­zel­ne Bür­ger oder Grup­pen oder Klas­sen weder begün­sti­gen noch benach­tei­li­gen;
d) Unpar­tei­lich­keit der Gerichts­hö­fe und
e) glei­cher Anteil an den Vor­tei­len (und nicht nur an den Lasten), die die Mit­glied­schaft im Staa­te den Bür­gern zu bie­ten ver­mag” (130).

Die­se “huma­ni­tä­re Theo­rie der Gerech­tig­keit erhebt haupt­säch­lich drei For­de­run­gen oder Vor­schlä­ge, näm­lich
a) das Prin­zip der Gleich­be­rech­ti­gung, d. h. den ”Vor­schlag, ’natür­li­che‘ Vor­rech­te aus­zu­schal­ten;
b) das all­ge­mei­ne Prin­zip des Indi­vi­dua­lis­mus, und
c) das Prin­zip, daß die Auf­ga­be und der Zweck des Staa­tes im Schut­ze der Frei­heit sei­ner Bür­ger besteht“ (137).

§ 10 Demokratie als Kontrolle der Herrscher durch die Beherrschten

Herr­scher befin­den sich mora­lisch und intel­lek­tu­ell sel­ten über und oft unter dem Durch­schnitt (172). Die Haupt­fra­ge der Ver­fas­sung ist daher nicht, wer regie­ren soll, son­dern: Wie kön­nen wir poli­ti­sche Insti­tu­tio­nen so orga­ni­sie­ren, daß es schlech­ten oder inkom­pe­ten­ten Herr­schern unmög­lich ist, all­zu gro­ßen Scha­den anzu­stel­len? (170, im Ori­gi­nal her­vor­ge­ho­ben). Die Lösung der Fra­ge liegt auf der Linie der wohl­ver­stan­de­nen Demo­kra­tie. Demo­kra­tie ist nicht Herr­schaft des Vol­kes, denn das Volk hat noch in kei­nem prak­ti­schen Sin­ne je regiert (175), noch bedeu­tet Demo­kra­tie Herr­schaft der Mehr­heit (175). Demo­kra­tie meint viel­mehr insti­tu­tio­nel­le Kon­trol­le der Herr­scher und gegen­sei­ti­ge Beschrän­kung der Kräf­te im Staat (”coun­ter­vai­ling powers“) (172, 173), Ver­mei­dung der Tyran­nei (174), Insti­tu­tio­nen zur Abset­zung der Herr­scher (all­ge­mei­ne Wah­len), Pres­se­frei­heit mit der Pflicht zur genau­en Infor­ma­ti­on (II, 422), Beschrän­kung der öko­no­mi­schen Gewalt, d. h. der Macht­be­fug­nis­se des Besit­zes (II, 164), Frei­heit der Kri­tik (II, 278), Ableh­nung aller Auto­ri­täts­an­sprü­che (II, 293).

§ 11 Die Sinnlosigkeit der Geschichte

„Welt­ge­schich­te hat kei­nen Sinn“ (II, 333, im Ori­gi­nal her­vor­ge­ho­ben). Die Welt­ge­schich­te der Mensch­heit, so wie sie uns nahe­ge­bracht wird, ist „Geschich­te der poli­ti­schen Macht“ (II, 334, her­vor­ge­ho­ben). Aber das ist bereits eine „Belei­di­gung jeder anstän­di­gen Auf­fas­sung von der Mensch­heit … denn die Geschich­te der Macht­po­li­tik ist nichts ande­res als die Geschich­te inter­na­tio­na­ler Ver­bre­chen und Mas­sen­mor­de“ (II, 334, teil­wei­se her­vor­ge­ho­ben). Die Behaup­tung, daß Gott in der Geschich­te inter­na­tio­na­ler Mas­sen­mor­de und Ver­bre­chen sich offen­bart, ist eine Got­tes­lä­ste­rung (II, 336). Eine Geschich­te der Mensch­heit kann es nach huma­ni­tä­rer Auf­fas­sung nicht geben, denn sie müß­te die Geschich­te jedes ein­zel­nen Men­schen sein, denn kein Mensch ist wich­ti­ger als irgend­ein anderer.

Geschichts­theo­rien unter­schei­den sich von wis­sen­schaft­li­chen Theo­rien schon dadurch, daß sich die Tat­sa­chen der Geschich­te nicht will­kür­lich wie­der­ho­len las­sen und nur jene Tat­sa­chen fest­ge­hal­ten wer­den, die zu einer vor­ge­faß­ten Theo­rie pas­sen (II, 328). Sol­che Theo­rien sind Kri­stal­li­sa­tio­nen von Inter­es­sen­ge­sichts­punk­ten. Jede Gene­ra­ti­on hat das Recht, die Geschich­te auf ihre Wei­se zu betrach­ten und neu zu deu­ten (II, 331), denn von Inter­es­se ist nur, in wel­cher Bezie­hung unse­re heu­ti­gen drin­gend­sten Pro­ble­me zur Ver­gan­gen­heit ste­hen, wie die Schwie­rig­kei­ten ent­stan­den sind und wie wir sie lösen kön­nen (II, 332). Nicht die Geschich­te bestimmt unse­re Pro­ble­me oder unse­re Zukunft, son­dern wir sind es, die die Tat­sa­chen der Geschich­te aus­wäh­len und ord­nen (II, 333). Nicht die ‚Geschich­te‘ hat Sinn, son­dern wir kön­nen der Geschich­te Sinn ver­lei­hen, indem wir in ihr den Kampf um Gleich­be­rech­ti­gung, um Ratio­nal­ma­chung der poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen und der Spra­che und um die offe­ne Gesell­schaft sehen (II, 346).

§ 12 Hinweise zur Lehrgeschichte der „offenen Gesellschaft“

Mit den Grie­chen hat der Über­gang von der “geschlos­se­nen“ zur „offe­nen“ Gesell­schaft begon­nen. Ursa­chen waren: Über­völ­ke­rung, Kolo­ni­sa­ti­on, Berüh­rung mit frem­den Kul­tu­ren, Schiffahrt. Han­del, See­schiffahrt und Demo­kra­tie sind Aus­drucks­for­men einer neu­ar­ti­gen Bewe­gung, die gei­stig in den Leh­ren der „Gro­ßen Gene­ra­ti­on“ ver­ar­bei­tet wur­de (238). Zu ihr gehö­ren vor allen die Sophi­sten, Sokra­tes, Prot­agoras, Gor­gi­as, Alki­da­mas, Lyko­phron, Anti­sthe­nes, die alle Gleich­heit, Indi­vi­dua­lis­mus und die mensch­li­che Natur der Geset­ze und Insti­tu­tio­nen ver­kün­de­ten. Fer­ner Demo­krit (Ato­mis­mus, Indi­vi­dua­lis­mus, Demo­kra­tie) und schließ­lich Peri­kles, der gro­ße Füh­rer der athe­ni­schen Demo­kra­tie. Sopho­kles, Euri­pi­des, Ari­sto­pha­nes beglei­te­ten die­se Bewe­gung mit ihren Dichtungen.

II. Teil: Die ”geschlossene Gesellschaft“ und ihre Vertreter

§ 1 Wirklichkeit, Vernünftigkeit und Unveränderlichkeit der Ideen: die Grundprämisse der magisch-metaphysischen Wissenschaft

Um die Aus­wir­kun­gen des Zusam­men­bruchs der „geschlos­se­nen Gesell­schaft“, ihrer magi­schen Glau­bens­grund­la­gen und ihrer Herr­schafts­for­men auf­zu­hal­ten und zu ban­nen, hat Pla­ton die Ideen­leh­re erfun­den (46f). Die Ideen sind unver­än­der­lich, voll­kom­men, jen­seits von Raum und Zeit, daher unstoff­lich und ewig, nicht mit den Sin­nen wahr­nehm­bar. Sie sind in höhe­rem Maße wirk­lich als ver­än­der­li­che Din­ge, deren Ide­al, Ori­gi­nal, Ursprung und Ver­nunft sie sind (51ff). Nach Pla­ton sind die Ideen Gedan­ken Got­tes (55) und sie ste­hen zu den hin­fäl­li­gen, ver­än­der­li­chen Din­gen in einer ähn­li­chen onto­lo­gi­schen Dif­fe­renz wie die Göt­ter zu den Men­schen: Auch die Göt­ter sind unsterb­lich, ewig, voll­kom­men, die Men­schen dage­gen sterb­lich (54).

§ 2 Wahres Wissen nicht durch Vernunft, sondern durch intellektuelle Intuition

Die Ideen sind nur der den­ken­den Betrach­tung (54), der intel­lek­tu­el­len Anschau­ung oder Intui­ti­on zugäng­lich. Die Dia­lek­tik ist die Kunst, Ideen zu sich­ten und zur Anschau­ung zu brin­gen (186). Sie ist dem Phi­lo­so­phen vor­be­hal­ten. Wah­res Wis­sen ist nur von den Ideen mög­lich. Sie allein sind die Gegen­stän­de des Wis­sens, weil sie unwan­del­bar sind (58ff). Über empi­ri­sche Din­ge, d. h. über wahr­nehm­ba­re, ver­än­der­li­che Din­ge, gibt es kein Wis­sen, son­dern bloß „Mei­nung“.

Nach Ari­sto­te­les, der hier­in Pla­ton folgt, ist das intui­ti­ve Wis­sen allein Quel­le der Wis­sen­schaft. Das intui­ti­ve Wis­sen, die intel­lek­tu­el­le Anschau­ung schließt jedes Ele­ment aus, das von unse­ren Sin­nen abhängt (II, 17). Es ist mit sei­nem Gegen­stand iden­tisch und ver­ei­nigt, und irrt dar­um nie­mals (II, 18).

§ 3 Begriff und Definition als Wesensaussagen: der Essentialismus

Die Auf­ga­be der Wis­sen­schaft besteht in der Ent­deckung und Beschrei­bung der wah­ren Natur der Din­ge, ihrer ver­bor­ge­nen Rea­li­tät, Form, Essenz (59), die einen eigen­tüm­li­chen Namen (= Begriff) besitzt und defi­niert wer­den kann (60). Defi­ni­tio­nen sind nur mög­lich, wenn das Wesen des zu Defi­nie­ren­den (= Defi­ni­en­dum) durch die intel­lek­tu­el­le Intui­ti­on erfaßt wur­de (II, 17).

§ 4 Die Unveränderlichkeit der Normen: das Tabu

In der geschlos­se­nen Stam­mes­ge­sell­schaft beherr­schen und regeln magi­sche Tabus in star­rer Wei­se alle Aspek­te des Lebens (232), nie­mals zum Gegen­stand kri­ti­scher Über­le­gung wer­dend (232). Die Tabus bewir­ken die Sta­bi­li­tät der sozia­len Insti­tu­ti­on: „Jeder­mann hat sei­nen vor­be­stimm­ten Platz inner­halb des Gan­zen der sozia­len Struk­tur; jeder­mann fühlt, daß sein Platz der rich­ti­ge, der natür­li­che Platz ist, der ihm durch die Kräf­te, die die Welt regie­ren, zuge­teilt wur­de; jeder­mann ‚kennt sei­nen Platz‘” (36). Das Leben in dem unver­än­der­li­chen Zau­ber­kreis von Tabus, Geset­zen und Sit­ten wird als unver­meid­lich und natür­lich emp­fun­den (91). Die Nor­men sind Aus­fluß des Tabus (101) und daher, eben­so wie alle auf den Tabus und Nor­men gegrün­de­ten gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen, sakro­sankt. Der Schutz der Tabus, der Nor­men und gehei­lig­ten Insti­tu­tio­nen erfor­dert Aus­schluß frem­der Ein­flüs­se, demo­kra­ti­scher Ideo­lo­gien, Ver­bot der Ras­sen­mi­schung, Aut­ar­kie und Unab­hän­gig­keit vom Han­del sowie Beschrän­kung des Wachs­tums, damit die Ein­heit gewahrt blei­ben kann (245).

§ 5 Die irrationalistische Auffassung der Gesellschaft: die Stammesgesellschaft oder geschlossene Gesellschaft

Die Stam­mes­ge­sell­schaft beruht nicht auf abstrak­ten Bezie­hun­gen, son­dern auf halb-bio­lo­gi­schen Ban­den: Ver­wandt­schaft, Zusam­men­le­ben, gemein­sa­men Anstren­gun­gen, Gefah­ren, Freu­den, Schick­sals­schlä­gen und kon­kre­ten phy­si­schen Bezie­hun­gen wie Berüh­rung, Geruch, Sicht (234). Ver­bot der Ras­sen­mi­schung, Wah­rung der Geschlos­sen­heit erfor­dern Inqui­si­ti­on, Geheim­po­li­zei und ein roman­ti­sier­tes Gang­ster­tum (268). Per­sön­li­che Ver­ant­wor­tung, Ver­nunft, Sitt­lich­keit und Frei­heit wer­den durch Zwangs­nor­men des Kol­lek­ti­vis­mus ersetzt.

§ 6 Magische Institutionen

Insti­tu­tio­nen sind sakro­sankt, haben sakra­len Cha­rak­ter, ent­spre­chen gött­li­chem Plan, sind von Gott gewollt, von Got­tes Gna­den. „Es ist der Gang Got­tes in der Welt, daß der Staat ist“, meint Hegel.

§ 7 Führerprinzip, Elitenlehre und Klassenherrschaft

Der Herr­scher oder Füh­rer muß die Gabe der mysti­schen „Wesens­schau“, der irra­tio­na­len Intui­ti­on, das Wis­sen um die Ideen besit­zen, um die sakra­len Insti­tu­tio­nen lei­ten zu kön­nen. Füh­rung ist daher den Ein­ge­weih­ten und Aus­er­wähl­ten vor­be­hal­ten, die den idea­len, „wah­ren Staat” im Him­mel erblickt haben, um ihn auf Erden zu ver­wirk­li­chen. Sie sind die Voll­strecker der Inten­tio­nen des „Welt­gei­stes“, die gro­ßen Män­ner der Geschichte.

Die der Sicht der Ideen Mäch­ti­gen bil­den die herr­schen­de Klas­se, den Adel, die Eli­te. Mit dem Adel wird das Schick­sal des Staa­tes iden­ti­fi­ziert. Daher wird die­se Klas­se bevor­rech­tet (z. B. Waf­fen­tra­gen), sie wird gelehrt, die Arbeit und den Arbei­ter­stand zu ver­ach­ten, Krieg, Jagd, Pfer­de sind ihre Sym­bo­le (311). Stän­di­sche Erziehung.

§ 8 Universalistische Sozialtechnik oder Ganzheitsplanung

Die Metho­de des Pla­nens im gro­ßen Stil, die uto­pi­sche Sozi­al­tech­nik des Umbaus der Gesell­schafts­ord­nung oder die Tech­nik der Ganz­heits­pla­nung ist die von den Ver­tre­tern der „geschlos­se­nen Gesell­schaft“ bevor­zug­te Metho­de zur Behand­lung poli­ti­scher Pro­ble­me (213). Sie betrach­ten die Wahl eines Zie­les als Vor­aus­set­zung des Han­delns. Die­ses Ziel ist der idea­le, der „wah­re Staat“, den es zu errei­chen gilt, des­sen Bau­plan fest­ge­legt wer­den muß, um ihn zu ver­wirk­li­chen (214). Das führt zur Gewalt­herr­schaft, ja in der Regel zur Dik­ta­tur (217). Der Ein­satz der Gewalt wird durch den Glau­ben an ein unver­än­der­li­ches Ide­al gerecht­fer­tigt, doch ist die­ses Ide­al ratio­nal nicht erkenn­bar und nur der Intui­ti­on zugäng­lich (219).

Sol­che uto­pi­sti­sche Ganz­heits­pla­nung hängt viel­fach mit Ästhe­ti­zis­mus zusam­men, d. h. dem Wunsch nach einer schö­ne­ren Welt, einer Welt, die von Häß­lich­keit frei ist (223). Poli­tik wird als eine Kunst zur Kom­po­si­ti­on von Staa­ten betrach­tet, die die Wahr­heit des Schö­nen, des Gerech­ten und des Guten vom Him­mel auf die Erde her­ab­brin­gen soll (224). Das Berau­schen an den Träu­men von einer schö­ne­ren Welt ist Roman­ti­zis­mus, der mit der besten Absicht, den Him­mel auf Erden ein­zu­rich­ten, die Welt in eine Höl­le zu ver­wan­deln ver­mag (227).

§ 9 Der Sinn der Geschichte: Historizismus

Der Geschich­te wird Sinn unter­legt, wobei ent­we­der die Geschich­te dem Wil­len Got­tes folgt oder dem Natur­ge­setz oder dem Gesetz der gei­sti­gen oder der öko­no­mi­schen Ent­wick­lung. Das Ver­ständ­nis des Sozi­al­le­bens beruht auf einer Betrach­tung und Deu­tung der mensch­li­chen Geschich­te (31). Geschichts­mäch­tig sind die gro­ßen Natio­nen, die gro­ßen Füh­rer, die gro­ßen Klas­sen und die gro­ßen Ideen (31).

§ 10 Lehrgeschichte: Heraklit

Stammt aus der Fami­lie der Prie­ster­kö­ni­ge von Ephe­sos. Ver­zich­tet zu Gun­sten sei­nes Bru­ders auf Thron­an­sprü­che. Ist Ver­äch­ter der Demo­kra­tie und des Vol­kes, das kei­nen als sei­nen Besten erken­nen will und den Her­mo­do­ros ver­treibt, sich den „Wanst stopft wie das Vieh“, fah­ren­den Sän­gern folgt und sich kei­ne Gedan­ken über die wesent­li­chen Din­ge macht. Hera­klits Inter­pre­ta­ti­on der Geschich­te ist pes­si­mi­stisch, Geschich­te ist Abstieg und Ver­fall, alles unter­steht dem Schick­sals­ge­setz, das über alle Wand­lun­gen erha­ben ist und den Trost für den Ver­lust einer sta­bi­len Welt abgibt (38).

§ 11 Lehrgeschichte: Platon

Eben­falls aus könig­li­chem Geschlecht, mit Kodros und Solon ver­wandt. Auch für ihn ist Geschich­te uni­ver­sa­ler Ver­falls­pro­zeß (44f), beglei­tet von sitt­li­chem Ver­fall und ras­si­scher Dege­ne­ra­ti­on (46) . Er wünscht dem Ver­fall Ein­halt zu gebie­ten durch die Erfin­dung einer neu­en Wirk­lich­keit, die dem Ver­fall nicht aus­ge­setzt ist, des Rei­ches der Ideen, einer Ideen­welt, an der sich die Poli­tik und der Staat zu ori­en­tie­ren haben, um dem Ver­fall zu ent­kom­men (51).

Gerecht und Recht ist, was der Macht des Staa­tes nützt (168). Stren­ge Klas­sen­ein­tei­lung, beru­hend auf der Lüge von ange­bo­re­nen, ras­si­schen Merk­ma­len wie Gold‑, Silber‑, Kup­fer- oder Eisen­ge­halt in den See­len. Die gol­de­ne Her­ren­ras­se ist über­mensch­lich, gott­ähn­lich, durch Züch­tung und Erzie­hung her­vor­ge­bracht (205f). Die Erzie­hungs­auf­ga­be ist die wich­tig­ste Auf­ga­be des Staa­tes. Staat ist Erzie­hungs­in­sti­tu­ti­on (185). Das Schick­sal des Staa­tes ist mit dem der herr­schen­den Klas­se iden­tisch: Erhal­tung des Staa­tes heißt daher Erhal­tung der Ein­heit der herr­schen­den Klas­se (80). Inne­re Unei­nig­keit in der herr­schen­den Klas­se führt zu Ver­fall und Revo­lu­ti­on (76). Die Unei­nig­keit ist in der Regel auf öko­no­mi­sche Grün­de zurück­zu­füh­ren, daher sind die­se aus­zu­schal­ten und auf ein Mini­mum zu redu­zie­ren. Die Chre­ma­ti­stik wird daher eben­so ver­ach­tet wie die Arbeit. Pla­ton führt den wil­de­sten Angriff auf die libe­ra­len Ideen, den die Geschich­te kennt (127), er ist reak­tio­när (129) und anti­hu­ma­ni­tär (128), sein Pro­gramm ist tota­li­tär. Sei­ne Schrif­ten sind mit Gift gefüllt (73), sei­ne Kri­tik an der Demo­kra­tie ist ver­leum­de­risch, eine feind­se­li­ge und unge­rech­te Par­odie (72). Für ihn ist Frei­heit Gesetz­lo­sig­keit, per­sön­li­che Frei­heit Zügel­lo­sig­keit, Gleich­heit Unord­nung. Die Demo­kra­ten wer­den als lie­der­lich, gei­zig, unver­schämt, gesetz­los, scham­los, als wil­de, schreck­li­che Raub­tie­re hin­ge­stellt, die jeder Lau­ne fol­gen und die nur dem Ver­gnü­gen und den unnö­ti­gen und unrei­nen Wün­schen leben. Er wirft den Demo­kra­ten vor, daß sie „Scham ein­fäl­ti­ges Betra­gen nen­nen … Mäßi­gung aber Unmänn­lich­keit … Beschei­den­heit und Maß­hal­tung im Aus­ge­ben nen­nen sie Nied­rig­keit und Man­gel an guten Sit­ten … (Staat 560 d) … Der Leh­rer fürch­tet sei­ne Schü­ler und er schmei­chelt ihnen … alte Män­ner las­sen sich her­ab …, um nicht als mür­ri­sche, des­po­ti­sche alte Her­ren zu erschei­nen“ (563 a – d). Hin­ter sei­ner Idee des könig­li­chen Phi­lo­so­phen steht das Stre­ben nach Macht (212). Das schö­ne Por­trait des Herr­schers ist sein Selbst­por­trait (212). Die­se Idee ist ein Monu­ment an mensch­li­cher Klein­heit (213).

§ 12 Lehrgeschichte: Aristoteles

Ari­sto­te­les stammt bereits nicht mehr aus könig­li­chem Geblüt, son­dern er ist sei­ner Her­kunft nach Bür­ger­li­cher. Sein bester Staat ist ein Kom­pro­miß zwi­schen pla­to­ni­scher Ari­sto­kra­tie, Feu­da­lis­mus und demo­kra­ti­schen Ideen (II, 7). Sei­ne Bedeu­tung liegt vor allem in der Her­aus­ar­bei­tung der essen­tia­li­sti­schen Metho­de, mit der er das Wesen der Din­ge zu erfas­sen sucht. Jede Bewe­gung und Ver­än­de­rung ist gerich­tet auf ein Ziel, ein Ende, einen Zweck, iden­tisch mit der Form oder dem Wesen. Ver­än­de­rung ist Ver­wirk­li­chung (Entel­echie). In der Ver­än­de­rung ent­hüllt sich das Wesen, das wir daher auch durch Intui­ti­on erken­nen kön­nen. Die Suche nach dem Wesen führt zu Scho­la­sti­zis­mus, Mysti­zis­mus, Dog­ma­tis­mus und zur Ver­wer­fung jeder ratio­na­len Argu­men­ta­ti­on, wie das spä­ter bei Fich­te, Schel­ling und Hegel pene­trant aus­ge­prägt ist (II, 31).

§ 13 Lehrgeschichte: „Hegel und der neue Mythos der Horde“ (II, 37)

Hegel ist das Bin­de­glied zwi­schen Pla­ton und den moder­nen For­men des tota­li­tä­ren Gedan­ken­gu­tes. Er belebt die Ideen der Fein­de der offe­nen Gesell­schaft (Hera­klit, Pla­ton, Ari­sto­te­les), Ideen, die die Grund­la­ge des ewi­gen Auf­stan­des gegen die Ver­nunft und die Frei­heit sind (II, 41). Sei­ne Phi­lo­so­phie ist die Reak­ti­on auf den Kampf gegen die offe­ne Gesell­schaft, wie er mit den Ideen von 1789 ein­ge­setzt hat. Sowohl der mar­xi­sti­sche, extre­me lin­ke Flü­gel als auch die kon­ser­va­ti­ve Mit­te sowie schließ­lich die faschi­sti­sche Rech­te grün­den alle ihre poli­ti­sche Phi­lo­so­phie auf Hegel (II, 39).

Die Dia­lek­tik wur­de von Hegel erfun­den, um die Ideen von 1789 zu ver­dre­hen (II, 54). Mit ihrer Hil­fe wird die Behaup­tung gestützt, daß Wider­sprü­che zur Ver­nunft gehö­ren und nur Momen­te der Syn­the­se wären, die zu fin­den der Gegen­stand des den­ke­ri­schen Pro­zes­ses sei, wäh­rend es doch gera­de dar­um geht, Wider­sprü­che zu besei­ti­gen und zu ver­mei­den. Mit der Zulas­sung von Wider­sprü­chen bricht die Wis­sen­schaft zusam­men (II, 51), aber gera­de das ent­spricht Hegels Wunsch, ratio­na­le Argu­men­ta­ti­on und intel­lek­tu­el­len Fort­schritt auf­zu­hal­ten (II, 52). Sein Kol­lek­ti­vis­mus ist radi­kal: Das Indi­vi­du­um ver­dankt dem Staat alles (II, 42). Die Hegel­sche Phi­lo­so­phie ist die Renais­sance der Ideo­lo­gie der Hor­de (II, 41). Nur der Staat ist um sei­ner selbst wil­len, er ist das vor­han­de­ne wirk­li­che, sitt­li­che Leben, die gött­li­che Idee, wie sie auf Erden erscheint. Der Staat muß daher ver­ehrt wer­den (II, 42). Geschich­te wird für Hegel zu einem rie­si­gen Syl­lo­gis­mus, einem Denk­pro­zeß des abso­lu­ten Gei­stes oder „Welt­gei­stes“ (II, 61). Der Krieg wird ange­be­tet, Frie­den und wirk­li­ches Leben bedeu­ten für Hegel ver­sump­fen, Lan­ge­wei­le, Nul­li­tät (II, 95f). Glück wird ver­ach­tet, denn die Zei­ten des Glücks sind die lee­ren Blät­ter im Buche der Welt­ge­schich­te (II, 96). Das Bemü­hen um die Ver­bes­se­rung der mensch­li­chen Zustän­de erscheint ver­geb­lich (II, 97). Die Reli­gi­on des „Gro­ßen Man­nes der Geschich­te“ führt zum Stam­mes­ide­al des heroi­schen Men­schen, der gefähr­lich leben will, gleich­gül­tig wofür. Für ihn und sei­nes­glei­chen gilt nicht die Lita­nei der Pri­vat­tu­gen­den, der Beschei­den­heit, Demut, Men­schen­lie­be und Mild­tä­tig­keit. In ihnen wirkt die List der Ver­nunft, die die Lei­den­schaf­ten der gro­ßen Män­ner für sich wir­ken läßt und ihnen gestat­tet, sich über Zucht und Ord­nung, Mäßi­gung, Recht und Mora­li­tät hin­weg­zu­set­zen. Selbst die Mecha­ni­sie­rung des Krie­ges hebt die indi­vi­du­el­le Tap­fer­keit zur all­ge­mei­nen und damit zur höhe­ren Gestalt (89). Auch bei E. Kauf­mann, E. Ban­se, M. Sche­ler, E. Luden­dorf, H. Frey­er, S. Lenz, E. Jün­ger, E. J. Jung wird der Krieg als kost­ba­res Gut ver­herr­licht. Für den Exi­sten­tia­li­sten Jas­pers heißt wesent­lich leben in der Kri­se leben. Heid­eg­ger emp­fiehlt uns, das Nichts zu suchen, denn Leben heißt das Nicht­sein ris­kie­ren (II, 97ff). Alle die­se Autoren haben die gei­sti­ge Atmo­sphä­re ent­wickelt, die dem Nazis­mus den Weg berei­tet hat (II, 403). Hegels Phi­lo­so­phie ist intel­lek­tu­el­ler Betrug, der größ­te, den die Geschich­te der Zivi­li­sa­ti­on und des Kamp­fes gegen ihre Fein­de kennt. Die­ser Far­ce, die soviel Unheil ange­rich­tet hat, muß Ein­halt gebo­ten wer­den (II, 101). Hegels Stil ist skan­da­lös, sei­nen Schrif­ten erman­gelt Ori­gi­na­li­tät und Ver­nunft, wenn­gleich die­ser Man­gel natür­lich Aus­druck sei­nes Gei­stes­zu­stan­des ist (II, 42). Mit ihm beginnt die “Peri­ode der Unred­lich­keit” in der Phi­lo­so­phie, wie Scho­pen­hau­er die Peri­ode des deut­schen Idea­lis­mus nann­te (II, 37).

§ 14 Lehrgeschichte: Marx oder der soziologische Determinismus oder ökonomische Historizismus

Der aus der Hegel­schu­le her­vor­ge­gan­ge­ne Mar­xis­mus ist „eine wahr­haft huma­ni­tä­re Bewe­gung” (II, 102). “Marx liebt die Frei­heit, die wirk­li­che Frei­heit‘ (II, 129). Sein „Reich der Frei­heit“ ist nicht mate­ria­li­stisch, son­dern idea­li­stisch (II, 131). Sei­ne mate­ria­li­sti­sche Geschichts­auf­fas­sung darf nicht ernst genom­men wer­den: Sie ist nichts als ein Vor­schlag, sozia­le Phä­no­me­ne auch von ihrem öko­no­mi­schen Hin­ter­grund aus zu betrach­ten (II, 137). Sei­ne Metho­de dient in erster Linie der Ver­kün­di­gung des bevor­ste­hen­den sozia­li­sti­schen Mill­en­ni­ums (II, 109): Der Sozia­lis­mus soll­te von einer Uto­pie zur Wis­sen­schaft wei­ter­ent­wickelt wer­den (II, 105), sei­ne Ver­kün­di­gung hat jedoch reli­giö­sen Cha­rak­ter (II, 241), sie ver­mit­telt den Glau­ben an die Mis­si­on und die gro­ße Zukunft der Arbei­ter­schaft (II, 241) mit einer eige­nen Ethik, deren kate­go­ri­scher Impe­ra­tiv lau­tet: Beken­ne Dich zum Moral­sy­stem der Zukunft, d. h. des Pro­le­ta­ri­ats (II, 251). Heu­te ist der wis­sen­schaft­li­che Mar­xis­mus tot (II, 259), aber Mar­xens Kampf gegen Unge­rech­tig­keit, Aus­beu­tung, Degra­die­rung der Arbeit zur Ware, die an Skla­ve­rei erin­nert, muß wei­ter­le­ben (II, 243).

III. Teil: Kritik an Poppers „Kritischem Rationalismus“ oder Neopositivismus

§ 1 Die Armseligkeiten der Vernunft

Für Pop­per ist die Ver­nunft nicht ursprüng­lich, son­dern abge­lei­tet, Pro­dukt sozia­ler Bezie­hun­gen, Ergeb­nis des fort­schrei­ten­den sozia­len Erfah­rungs­pro­zes­ses. Sein “Glau­be an die Ver­nunft”, weil irra­tio­nal, bedarf der mora­li­schen Begrün­dung durch den Hin­weis auf die leid­vol­len Kon­se­quen­zen, die mit jedem ande­ren Glau­ben, etwa mit dem Glau­ben an einen abso­lu­ten Gott und Herrn, ver­bun­den sind (moral of consequences).

Aber Pop­pers mora­li­sche Begrün­dung für die Ver­nunft ist nicht sehr über­zeu­gend, war doch der “Glau­be an die Ver­nunft“ das Bekennt­nis der Jako­bi­ner, die nicht nur die Kathe­dra­le von Not­re Dame zum „Tem­pel der Ver­nunft“ umfunk­tio­nier­ten, son­dern im Namen der Ver­nunft und der „Gro­ßen Ideen von 1789“ schät­zungs­wei­se 40.000 Men­schen guil­lo­ti­nier­ten, ertränk­ten (so in Lyon) oder sonst­wie ermor­de­ten. Kein Glau­be feit gegen Schreckens­herr­schaft, Mas­sen­mord, ver­bre­che­ri­sches Füh­rer­tum. Die Marats, Dan­tons und Robes­pierres lei­hen ihre Henk­er­kraft jedem Glauben.

Ver­nunft, so müs­sen wir Pop­per ent­ge­gen­hal­ten, ist nicht ein Pro­dukt sozia­ler Bezie­hun­gen, son­dern das Ver­mö­gen, zu den­ken. Ver­mö­gen nen­nen wir die Fähig­keit, Mög­lich­keit oder Potenz, sich zu aktu­ie­ren. Den­ken ist sich aktu­ie­ren­de Ver­nunft. Den­ken als Tätig­keit, als Pro­zeß oder Voll­zug – Denk­tä­tig­keit, Denk­pro­zeß, Denk­voll­zug – erfor­dert den Voll­zie­hen­den, den Täter, das den­ken­de Sub­jekt. Das Sub­jekt ist Trä­ger der Ver­nunft, d. h. des Ver­mö­gens, zu den­ken. Die­ses mit Ver­nunft begab­te Sub­jekt muß in all sei­nem Den­ken sich selbst gleich­blei­ben, sonst gin­ge es in den Erzeug­nis­sen sei­nes Den­kens, sei­nen Gedan­ken, unter. Den­ken bestün­de dann in einer Anein­an­der­rei­hung völ­lig unzu­sam­men­hän­gen­der Gedan­ken. Wir bezeich­nen das sich selbst gleich­blei­ben­de Sub­jekt des Den­kens als „Ich“. Das in sei­nem Den­ken sich selbst gleich­blei­ben­de Sub­jekt, das Ich, muß sich wis­sen und erken­nen und dazu sich selbst den­ken. Mit­hin: Das Ich aktu­iert, pro­du­ziert, schafft, denkt oder „setzt“ sich selbst7; es weiß sich selbst; in all sei­nen Gedan­ken bleibt es sich selbst gleich. Spon­ta­nei­tät, Selbst­be­wußt­sein und Iden­ti­tät kenn­zeich­nen das Ich, das den­ken­de Sub­jekt. Nur den­kend bin ich (Spon­ta­nei­tät). Nur mich selbst den­kend, bin ich Ich (Selbst­be­wußt­sein). Nur als mir selbst bewußt, den­ke ich (bin ich das in mei­nem Den­ken sich selbst Gleich­blei­ben­de: Iden­ti­tät). Im Pro­zeß des Den­kens wird das den­ken­de Sub­jekt sich sei­ner eige­nen Ver­nunft, sei­nes Wesens, sei­nes Selbst bewußt. Das sei­nes Selbst bewuß­te Wesen, das selbst­be­wuß­te Wesen, das rei­ne Ich, das nichts außer sich selbst weiß, das abso­lu­te Selbst­be­wußt­sein oder abso­lu­te Ich ist die rei­ne Ver­nunft, der Logos: abso­lu­tes oder all­ge­mei­nes Ich = Logos, d. h. Gott.

Die sich im Den­ken des Ich aktu­ie­ren­de Ver­nunft ist sich selbst Ursprung und Resul­tat oder Pro­dukt. Sie ist daher kein Pro­dukt sozia­ler Bezie­hun­gen, nicht aus etwas ande­rem als aus sich selbst ableit­bar. Sie ist an und für sich sei­end. Als an und für sich sei­end, ist die Ver­nunft Idee (denn Idee nen­nen wir An-und-für-sich-Sei­en­des), mehr noch: das allen Ideen Zugrun­de­lie­gen­de, Ver­nünf­ti­ge, logisch Vor­an­ge­hen­de, die Idee der Ideen, das in jeder Idee not­wen­dig als vor­han­den zu Den­ken­de, der Logos. Die Ver­nunft ist nicht Instru­ment des Men­schen, Werk­zeug, mit des­sen Hil­fe der Mensch die Män­gel sei­ner orga­ni­schen Exi­stenz in Chan­cen sei­ner Daseins­fri­stung umar­bei­tet, son­dern der Mensch selbst, als ver­nunft­be­gab­tes, den­ken­des Wesen, ist Geschöpf der Ver­nunft, die Ver­nunft ist die Wahr­heit des Men­schen. Die Wür­de der Ver­nunft liegt nicht in ihren guten Dien­sten für den Men­schen, ihrem Nut­zen oder ihrer Anwend­bar­keit. Sie bedarf nicht des Glau­bens als eines blo­ßen Für­wahr­hal­tens, der Aner­ken­nung oder Inthro­ni­sa­ti­on durch den Men­schen, denn sie ist, was sie ist, durch sich selbst. Ver­nunft glaubt nicht, sie weiß und ist sich ihrer selbst gewiß. Pop­pers Glau­be an die Ver­nunft ist ein Köh­ler­glau­be, sei­ne Her­lei­tung der Ver­nunft aus sozia­len Bezie­hun­gen ver­letzt die Wür­de der Ver­nunft und die Wür­de des Men­schen, der kraft sei­ner Bega­bung am Logos, d. h. an der gött­li­chen Ver­nunft, teilhat.

§ 2 Die Reduktion des Wissens auf die Erfahrung

Nach Pop­per lernt die Ver­nunft aus der Erfah­rung. Die­se Hypo­the­se impli­ziert eine dua­li­sti­sche Auf­fas­sung vom Sein, näm­lich ein irgend­wie gedach­tes, vor­ge­stell­tes, inne­res oder hypo­the­ti­sches Sein und ein wirk­li­ches, erfahr­ba­res, äuße­res und objek­ti­ves Sein. Die Erfah­rung, so inter­pre­tie­ren wir Pop­per, ver­mit­telt zwi­schen bei­den und gleicht unse­re Vor­stel­lun­gen an die Wirk­lich­keit, an die Fak­ten oder Tat­sa­chen an. Die an die Tat­sa­chen voll ange­gli­che­nen und ange­paß­ten Vor­stel­lun­gen sind auf Erfah­rung redu­zier­tes Wissen.

Ange­paß­tes Den­ken, ange­paß­te Vor­stel­lun­gen, ange­paß­tes Wis­sen füh­ren zur Anpas­sung des sozia­len Ver­hal­tens, d. h. zur Dres­sur oder Mani­pu­la­ti­on des Men­schen. H. Mar­cuse hat die­se Sei­te des Neo­po­si­ti­vis­mus mit Recht schärf­ster Kri­tik unter­zo­gen.8

Den­ken ist nicht Reflek­tie­ren wahr­ge­nom­me­ner Erschei­nun­gen äuße­rer Din­ge. Im Den­ken ist nichts, was nicht aus ihm sel­ber stammt. Die Schöp­fun­gen und Gegen­stän­de des Den­kens sind Begrif­fe, die es in Urtei­len und Schlüs­sen syste­ma­tisch mit­ein­an­der ver­knüpft und zu neu­en Begrif­fen „syn­the­ti­siert“. Das Den­ken, die Begriffs­bil­dung ist Welt­schöp­fung und fort­wäh­ren­de Um- und Neu­schöp­fung, die Ver­nunft, der Logos Wel­ten­schöp­fer. Was das Den­ken erfährt, sind immer nur sei­ne eige­nen Gedan­ken­schöp­fun­gen. Wenn John Locke behaup­tet: „Nichts ist im Ver­stan­de, was nicht in den Sin­nen war“, so ist ihm mit Leib­niz ent­ge­gen­zu­hal­ten: „Nichts ist in den Sin­nen, was nicht im Ver­stan­de war“. Unse­re Sin­ne sind Orga­ne des Gei­stes, Instru­men­te der Ver­nunft. Ihre Funk­ti­on ist die Ver­sinn­li­chung, der „Aus­druck“ der Gedan­ken, die im Denk­pro­zeß „gebil­det“ wer­den, also Gestalt, Denk­ge­stalt anneh­men und so im Gei­ste als “Bild“ ver­an­schau­licht wer­den. Erst was im Geist ange­schaut, drückt sich im Han­deln aus, wird mit Hil­fe unse­res Wil­lens und unse­rer Sin­nes­or­ga­ne in Kör­per­lich­keit und Stoff­lich­keit trans­po­niert, wird zuerst durch das Medi­um der Spra­che laut­bar und hör­bar, wird mate­ri­ell, ver­leib­licht, ein­ver­leibt, „orga­ni­siert“. Mate­rie ist Organ des Gei­stes, Bau­ma­te­ri­al, außer­halb des Gei­stes, nicht geschaf­fen von ihm, gibt es kei­ne „Welt“, gibt es kei­ne „Natur“.9 Was wir mit unse­ren Sin­nen erfah­ren oder wahr­neh­men, d. h. für wahr neh­men, sind unse­re eige­nen, in die Kör­per­welt trans­po­nier­ten Gedan­ken­pro­duk­tio­nen, ‑auf­zeich­nun­gen, ‑bil­der. Auch die Natur trägt die Signa­tur des Gei­stes10, jedes Ele­ment, jeder Stern am Him­mel über uns muß, um wahr­ge­nom­men zu wer­den, um für uns wesent­lich zu wer­den, Teil unse­res Gedan­ken­sy­stems sein. Wäre die Natur nicht ver­leib­lich­ter Geist, wir könn­ten sie weder den­ken noch erken­nen.11

Wenn wir den­noch durch Erfah­rung ler­nen, so liegt das an der Unzu­läng­lich­keit des mensch­li­chen Den­kens, der mensch­li­chen Erkennt­nis, der Unvoll­stän­dig­keit der Urtei­le und Schlüs­se, der Kraft­lo­sig­keit im Syn­the­ti­sie­ren, d. h. im Ver­knüp­fen der Gedan­ken zur Ein­heit und Geschlos­sen­heit des Welt­bil­des, in feh­len­der Ver­tie­fung und Ver­ei­ni­gung der Gedan­ken. Durch leid­vol­le und schmerz­li­che Erfah­rung wer­den wir die­ses Man­gels gewahr, auf­ge­for­dert und ange­spornt, den Denk­vor­gang zu wie­der­ho­len und fort­zu­bil­den, bis die Syn­the­se gelun­gen und die Iden­ti­tät unse­rer Gedan­ken mit dem Logos, mit der Ver­nunft her­ge­stellt ist. Unser Den­ken ist Teil­ha­be am Logos und nicht ein Anpas­sen an die durch die Sin­ne wahr­ge­nom­me­nen Erschei­nun­gen äuße­rer Din­ge. Viel­mehr sind die Erschei­nun­gen Aus­druck unse­res Den­kens12. Wenn wir ein Ding anspre­chen und z. B. sagen: dies ist ein Baum, so müs­sen wir bereits vor der Sich­tung und Bezeich­nung die­ses kon­kre­ten „Dings“ als Baum wis­sen, was ein Baum ist.

§ 3 Die Blindheit der Vernunft

Die Ver­nunft als Pro­dukt der sozia­len Bezie­hun­gen, des gesell­schaft­li­chen Ver­kehrs, des Aus­tau­sches von Mei­nun­gen, ist nichts Not­wen­di­ges und Gewis­ses, son­dern Zufäl­li­ges und Unge­wis­ses. Als bloß Zufäl­li­ges und Unge­wis­ses wäre sie für uns uner­kenn­bar. Nur den­knot­wen­di­ge Erschei­nun­gen sind ver­nünf­tig. Wo der Begriff der Ver­nunft fehlt, kön­nen alle Hand­lun­gen und Tat­sa­chen als Erzeug­nis­se sozia­ler Pro­zes­se den Anspruch erhe­ben, ver­nünf­tig zu sein, auch Ausch­witz, der Viet­nam­krieg, die Hoch­bau­ten New Yorks, die Ver­stop­fung der Städ­te und die Ver­gif­tung der Umwelt. Die Ver­nunft wäre dann, wie eben bei Pop­per, mit Blind­heit geschlagen.

§ 4 Die Beschneidung der Wissenschaft und die Vorläufigkeit der Wahrheit

Für Pop­per ist die Wis­sen­schaft eine Ansamm­lung von Hypo­the­sen über Ereig­nis­ab­läu­fe (= Theo­rien), die durch unse­re bis­he­ri­gen Beob­ach­tun­gen und Erfah­run­gen von Tat­sa­chen noch nicht wider­legt sind, gleich­wohl wider­legt wer­den kön­nen. Damit wird der Bereich des­sen, was wir wis­sen kön­nen, auf den Bereich der sinn­lich wahr­nehm­ba­ren Erschei­nun­gen beschränkt und die Vor­läu­fig­keit der Wahr­heit behauptet.

Die­se Beschrän­kung der Wis­sen­schaft auf Theo­rien über den Bereich des sinn­lich erfahr­ba­ren, beob­acht­ba­ren Seins ist will­kür­lich.13 Die Hypo­the­se Pop­pers, der­zu­fol­ge Wis­sen­schaft die durch Beob­ach­tung und Expe­ri­ment über­prüf­ba­re und über­prüf­te Theo­rie sei, ist selbst nicht durch Beob­ach­tung und Expe­ri­ment über­prüf­bar oder ”fal­si­fi­zier­bar“. Sie wider­spricht sich selbst. Die Begrün­dung der Wis­sen­schaft hängt damit in der Luft. Eine „Spiel­re­gel“ oder Kon­ven­ti­on für das, was Wis­sen­schaft zu sein hat, ist kein aus­rei­chen­des Kon­sti­tu­ti­ons­prin­zip der Wissenschaft.

Eben­so wider­spricht sich der Satz von der Vor­läu­fig­keit der Wahr­heit. Gilt die­ser Satz immer und über­all, dann ist er nicht bloß vor­läu­fig, son­dern ewig wahr. Es gibt also das, was wir ewi­ge Wahr­heit nen­nen. Die Hypo­the­se von der Vor­läu­fig­keit der Wahr­heit ist also logisch nicht halt­bar, weil sie sich wider­spricht. Es muß not­wen­dig eine Wahr­heit gedacht wer­den, die immer und über­all gilt und damit von allen sich wan­deln­den Gegen­stän­den unse­rer Erfah­rung in Raum und Zeit absieht, also aprio­ri aller Erfah­rung und in die­sem Sin­ne ”rein” und spe­ku­la­tiv ist. Das Wis­sen um die Not­wen­dig­keit der „rei­nen“ Wahr­heit ist ein Wis­sen, das nicht aus der Sin­nes­er­fah­rung schöpft und sich nicht auf Ereig­nis­ab­läu­fe als sei­nen Beweis bezieht. Von ihm, die­sem „rei­nen” Wis­sen allein ist Wis­sen­schaft mög­lich. Wis­sen­schaft ist das, was not-wen­dig gedacht wer­den muß.14 Das, was als not­wen­dig gedacht wer­den muß, ist in Wahr­heit und in Wirk­lich­keit.15 Alles übri­ge, auch die Erfah­rung, ist Zufäl­lig­keit und Schein, von dem es kei­ne Wis­sen­schaft gibt. Was aber in Wahr­heit und Wirk­lich­keit ist, weil es not­wen­dig gedacht wer­den muß, ist logisch oder ver­nünf­tig.16 Dar­auf, auf der Einer­lei­heit von Den­ken und Sein (= not­wen­di­ger Wirk­lich­keit) grün­det alle „Wis­sen­schaft”.17

§ 5 Die verkannte Natur des Begriffes

Der Begriff ist kein Eti­kett, das irgend­wel­chen zusam­men­ge­schnei­ten und auf­ge­schüt­te­ten Erfah­rungs­tat­sa­chen umge­hängt wird, kei­ne grif­fi­ge „Wort­mar­ke”, unter der Tat­sa­chen auf dem Mark­te der Wis­sen­schaft gehan­delt, aus­ge­tauscht und ver­kauft wer­den. Sol­che Eti­ket­tie­rung wür­de kei­ne Anstren­gung der Wis­sen­schaft erfor­dern, son­dern höch­stens Über­ein­kunft über die ver­wen­de­ten Eti­ket­ten. Die Wis­sen­schaft hat jedoch die Anstren­gung des Begriffs auf sich zu neh­men, denn der Begriff allein ist ihr Objekt. Ohne Begriff gäbe es kei­ne Wis­sen­schaft, ohne Begrif­fe kein Denken!

Es ist nicht ein­mal denk­bar, auf das Den­ken und die Begrif­fe zu ver­zich­ten und nur „die Tat­sa­chen für sich spre­chen zu las­sen“, denn ohne Begrif­fe „spre­chen“ die Tat­sa­chen nicht. Es sind nicht die Tat­sa­chen und Erfah­run­gen, die die Begrif­fe schaf­fen, son­dern die Begrif­fe schaf­fen die Tat­sa­chen und Erfah­run­gen, bestim­men ihre Ord­nung und ihren Zusam­men­hang. Immer ist es der Ver­stand, der der Natur ihre Geset­ze vor­schreibt.18

Tat­sa­chen und Erfah­run­gen sind über­haupt nur Tat­sa­chen und Erfah­run­gen als Mani­fe­sta­tio­nen oder Erschei­nun­gen von Begrif­fen. Sie haben nie­mals ihren Zweck und ihre Wahr­heit in sich. Als ein­zel­ne Tat­sa­chen und Erfah­run­gen sind sie gleich­gül­tig. Erst als Aus­druck von Begrif­fen erhal­ten sie Gül­tig­keit und Beurteilung.

Ist der Begriff Gegen­stand des Den­kens und bestimmt das Den­ken das Han­deln und sind Hand­lun­gen Tat-Sachen, so folgt dar­aus, daß der Begriff kein gleich­gül­ti­ges Eti­kett ist, das wir nach­träg­lich bestimm­ten Tat-Sachen umhän­gen, son­dern daß er selbst die­se Tat-Sachen for­dert, schafft und ord­net. Der Begriff ist der Welt­schöp­fer (Fich­te), er ver­ur­teilt und zer­bricht die Tat­sa­chen, die ihm ent­ge­gen­ste­hen. Er hat umstür­zen­den Charakter.

Indem Pop­per in Kon­se­quenz sei­nes Neo­po­si­ti­vis­mus die Gleich­gül­tig­keit des Begriffs gegen­über den Tat­sa­chen behaup­tet und die­sen allein Wahr­heit zuer­kennt, leug­net er die­se umstür­zen­de Natur des Begriffs. Sein Den­ken ist affir­ma­tiv. Der Posi­ti­vis­mus beur­teilt nicht die Welt, in der wir leben, son­dern er bestä­tigt sie. Gleich­zei­tig brand­markt er Begrif­fe, die sich zu die­sen Tat­sa­chen kri­tisch ver­hal­ten und ihnen wider­spre­chen, als meta­phy­si­sche Spe­ku­la­ti­on, Irra­tio­na­lis­mus und Roman­ti­zis­mus. Er ver­kürzt und ver­stüm­melt das Den­ken, um es an die Tat­sa­chen, an die gege­be­ne Gesell­schaft und ihre Ver­hält­nis­se, die er unbe­fragt läßt, anzupassen.

§ 6 Die unterdrückte Bedeutung der Sprache

Pop­per beschränkt die Funk­ti­on der Spra­che auf die Kom­mu­ni­ka­ti­on. Als Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel ist sie Instru­ment zur Nach­rich­ten­über­mitt­lung und zum Erfah­rungs­aus­tausch. Um die­se instru­men­ta­le Funk­ti­on zu erfül­len, soll sie ratio­nal und in jede ande­re Spra­che über­setz­bar sein.

Die­se Beschrän­kung der Spra­che auf die Kom­mu­ni­ka­ti­on von Nach­rich­ten über Erfah­rungs­tat­sa­chen, der Ver­such, sie an die­se Funk­ti­on voll anzu­pas­sen, sie zu „ratio­na­li­sie­ren“, ver­wan­delt den Cha­rak­ter der Spra­che in ste­reo­ty­pi­sche und hyp­no­ti­sche For­meln, ver­kürzt die Syn­tax zur Leh­re von der Wirk­sam­keit gespro­che­ner Schlag­zei­len, ver­wen­det Pos­ses­siv­pro­no­men, um eine fal­sche Ver­trau­lich­keit her­zu­stel­len, kom­bi­niert bestimm­te Adjek­ti­va mit bestimm­ten Sub­stan­ti­va, um Eigen­schaf­ten und Urtei­le zu sug­ge­rie­ren (z. B. „tech­ni­scher Fort­schritt“), ohne ihre Bedeu­tung kri­tisch zu hin­ter­fra­gen oder ihre mora­li­sche Qua­li­tät zu beur­tei­len (z. B. „sau­be­re Bom­be“). Die Spra­che ver­liert die Fähig­keit zur Rede. Sie wird zum Vehi­kel der Gleich­schal­tung und Anpas­sung an die Tat­sa­chen. An die Stel­le des Urteils tritt die Auf­zäh­lung, an die Stel­le der Deu­tung die Infor­ma­ti­on, an die Stel­le der Über­le­gung die Emo­ti­on. Die Spra­che dringt nicht mehr zum Ver­ständ­nis der Tat­sa­chen und zur kri­ti­schen Beur­tei­lung ihrer Bedeu­tung, ihrer Ursa­chen und ihrer Ver­hält­nis­se zu ande­ren Erschei­nun­gen vor. Durch die ope­ra­tio­nel­le Spra­che und den ope­ra­tio­nel­len Begriff, die wie­der­ge­ben, was ist, wird die Span­nung zwi­schen Sein und Sol­len, Erschei­nung und Wirk­lich­keit, Wir­kung und Ursa­che, Beson­de­rem und All­ge­mei­nem auf­ge­ho­ben, die Span­nung, von der die Rede lebt. Die Sät­ze ent­hal­ten kei­ne Aus­sa­ge mehr, denn das Sub­jekt wird in sei­ne Prä­di­ka­te auf­ge­löst, es hat kei­ne eige­ne Sub­stanz, kei­ne eige­ne Wirk­lich­keit mehr, die es von sei­nen Prä­di­ka­ten nicht nur gram­ma­ti­ka­lisch, son­dern logisch und onto­lo­gisch unter­schei­det. Das Sub­jekt wird „fixiert“, fest­ge­legt auf bestimm­te Zustän­de und Funk­tio­nen. Ande­re wer­den aus­ge­schlos­sen. Das Sub­jekt hat kei­ne, von sei­nen jewei­li­gen Zustän­den und Tätig­kei­ten getrenn­te, eige­ne Exi­stenz. Es ist nicht mehr die Syn­the­se die­ser ver­schie­den­sten, sich manch­mal wider­spre­chen­den Funk­tio­nen und Zustän­de, die es in sich auf­hebt. Es ist nicht „mehr“ als sei­ne Prä­di­ka­te, nur noch ihre will­kür­li­che Abkür­zung. Daher auch die von Pop­per behaup­te­te Iden­ti­tät und Ersetz­bar­keit von Defi­ni­ens und Defi­ni­en­dum, sei­ne Abqua­li­fi­zie­rung des begriff­li­chen Den­kens als „Wort­klau­be­rei­en“.

Die auf die Kom­mu­ni­ka­ti­on von Tat­sa­chen redu­zier­te Spra­che ver­liert die Fähig­keit zur Auf­deckung des „Frag-Wür­di­gen”, zur Dar­le­gung der Wider­sprü­che und Span­nun­gen zwi­schen Sol­len und Sein, zwi­schen Idee und Erschei­nung. Sie wird sprach­los, stumm. Sie kom­mu­ni­ziert die Tat­sa­chen und akzep­tiert sie, indem sie sie, ohne sie zu hin­ter­fra­gen, kom­mu­ni­ziert. Sie wird zum Kom­pli­zen der Repres­si­on des Den­kens.19

§ 7 Die “offene”, weil repressive Gesellschaft

Die „offe­ne” Gesell­schaft, die Pop­per mit der Bril­le des Ratio­na­lis­mus sowohl erkennt als for­dert, ist die moder­ne Indu­strie­ge­sell­schaft. Sie hat ihren Mit­glie­dern nichts zu bie­ten außer Arbeits­plät­zen. Die Bezie­hun­gen der Mit­glie­der zuein­an­der beschrän­ken sich auf das Inein­an­der­grei­fen von Funk­tio­nen. Am gesell­schaft­li­chen Leben neh­men sie teil wie eine Maschi­ne, wie ein Com­pu­ter am Arbeits­pro­zeß eines Indu­strie­be­trie­bes: Sie wer­den eben­so ver­nutzt, abge­schrie­ben und, wenn sie nicht mehr funk­tio­nie­ren, ausgeschieden.

Die­se Indu­strie­ge­sell­schaft ist ”offen“ für alle, die sich ihr ein­pas­sen wie abge­dreh­te Bol­zen in vor­ge­bohr­te Löcher. Far­be, Her­kom­men (Fremd­ar­bei­ter), gei­sti­ge Inter­es­sen, per­sön­li­che Bin­dun­gen sind gleich­gül­tig, wenn sie die Funk­ti­ons­er­fül­lung nicht stö­ren. Anpas­sung wird belohnt durch zusätz­li­che Bela­stung mit wei­te­ren Funk­tio­nen, die Kon­kur­renz, das heißt der gegen­sei­ti­ge Kampf der Funk­ti­ons­trä­ger unter­ein­an­der, wird wach­ge­hal­ten. Krieg (Kampf, Sieg, Nie­der­la­ge, Waf­fen­still­stand, Okku­pa­ti­on, Anne­xi­on) oder Gleich­gül­tig­keit („fried­li­che Koexi­stenz”) lie­fern die Ver­hal­tens­sche­ma­ta der Indi­vi­du­en, der Par­tei­en, der Indu­strie­kon­zer­ne und der gesell­schaft­li­chen Gruppierungen.

Die offe­ne, abstrak­te, ”ratio­na­le“, ver­wis­sen­schaft­lich­te Indu­strie­ge­sell­schaft bie­tet kei­nen, von der Arbeits­welt unter­schie­de­nen gei­sti­gen Lebens­raum, kein Feld für gei­sti­ge, zweck­lo­se, gesell­schaft­lich rele­van­te und aner­kann­te Akti­vi­tät. Sie hält sich Künst­ler, Lite­ra­ten, Gei­stes­wis­sen­schaf­ter, Anar­chi­sten, Idea­li­sten, Uto­pi­sten wie exo­ti­sche Vögel in den Käfi­gen der Spieß­bür­ger oder in zoo­lo­gi­schen Gär­ten, sorg­sam aus­ge­sperrt vom wirk­sa­men Ein­fluß auf die Arbeits­struk­tur und Arbeits­welt. Sie ist tole­rant bis zum Exzeß, wo sie die Kon­trol­le aus­übt oder die Tore ver­schlos­sen hält. Der Ein­zel­wil­le, die Kon­sum­wahl ist frei, denn die Groß­zahl wird zum Mas­sen­be­darf, der iso­lier­te freie Ein­zel­wil­le hat kei­ne Qua­li­tät, er wird in Quan­ti­tät “umge­schla­gen“. Ohne den gei­sti­gen, gesell­schaft­lich rele­van­ten Lebens­raum erkennt sich der Ein­zel­ne nicht im Den­ken, son­dern in sei­nen Funk­tio­nen, die er erfüllt und in den Pro­duk­ten, die er kauft.

Mit der im Kon­text aus­ge­spro­che­nen Dif­fa­mie­rung jener Gesell­schaft, die ihren Mit­glie­dern gei­sti­gen Lebens­raum und sinn­vol­le Betä­ti­gung bie­tet, ihren kul­tu­rel­len Erb­be­sitz wahrt und ver­tieft, die ihre eige­nen Kul­te fei­ert, ihren Dich­tern hul­digt und die alten Lie­der singt, deren Mit­glie­der ihr Leben zum Fest und ihre Arbeit zur Freu­de machen, mit der Dif­fa­mie­rung und Ver­höh­nung die­ser Gesell­schaft als „geschlos­se­ne“, magi­sche, tabu­ier­te, irra­tio­na­le Stam­mes­ge­sell­schaft oder Hor­de, will Pop­per eine Öff­nung errei­chen, die die Wider­stän­de abbaut, die der uni­ver­sa­len Gel­tung von Tech­no­lo­gie, Indu­strie, Ver­wal­tungs- und Mili­tär­bü­ro­kra­tie heu­te noch im Wege ste­hen. Sei­ne gefor­der­te Gesell­schaft ist „offen“, weil wer­t­ent­leert und repressiv.

§ 8 Die Dressur des Menschen durch die Sozialtechnik

Die Sozi­al­tech­nik der Ein­zel­pro­ble­me, die Pop­per vor­schlägt, soll durch Expe­ri­men­te, durch „Ver­such-und-Irr­tum“ zu einer empi­ri­schen Sozi­al­wis­sen­schaft ent­wickelt wer­den, die sich „stück­chen­wei­se“ an die Lösung von Ein­zel­pro­ble­men her­an­ta­stet und mit­hilft, das Leid in der Welt zu minimieren.

In der Tat, „Sozi­al­tech­nik“ erscheint für die­se Auf­fas­sung der Sozi­al­wis­sen­schaft ein tref­fend gewähl­ter Aus­druck, der ihren instru­men­ta­len, the­ra­peu­ti­schen und mani­pu­la­ti­ven Cha­rak­ter ohne Umschwei­fe preis­gibt. Im Gefol­ge die­ser Auf­fas­sung ist für jedes sozia­le Ein­zel­pro­blem, oder bes­ser für jede Ein­zel­auf­ga­be, eine ver­wir­ren­de Viel­falt von Stück­werks­wis­sen­schaf­ten ent­stan­den, die auf einen gemein­sa­men Nen­ner gebracht wer­den kön­nen: die Dres­sur des Men­schen. Sozial‑, Betriebs‑, Wer­be­psy­cho­lo­gie, Demo­sko­pie, Poli­to­lo­gie, Media­ana­ly­se, Motiv­for­schung, human and social engi­nee­ring, public rela­ti­ons sor­gen für „Cha­rak­ter­wä­sche“ 20, psy­chi­sche Hygie­ne, brain washing, „head shrin­king“, re-edu­ca­ti­on und die Behe­bung indi­vi­du­el­ler Anpas­sungs­schwie­rig­kei­ten. Ihr Zweck ist so klar wie ihre in Geschäft, Poli­tik und Stra­te­gie gleich­zei­tig enga­gier­ten Auf­trag­ge­ber offen­sicht­lich sind. Zusam­men mit den Mas­sen­me­di­en schaf­fen sie die Tat­sa­chen, die ihnen die empi­ri­sche Wis­sen­schaft bestä­tigt. Im „Ersten Kreis der Höl­le“ unter­schei­den sich die Metho­den zwi­schen „Demo­kra­tie“ und „Dik­ta­tur“ wie Ner­ven­gift von Faustschlag.

Um ganz klar zu sein: Eine empi­ri­sche Sozi­al­wis­sen­schaft ist eine con­tra­dic­tio in adjec­to. Wis­sen­schaft beruht auf Den­knot­wen­dig­keit ihrer Erkennt­nis­se. Die Empi­rie bringt es immer nur zur Wahr­schein­lich­keit ihrer Aus­sa­gen. Die Sozi­al­wis­sen­schaft kann nicht expe­ri­men­tie­ren: Expe­ri­men­te mit dem Men­schen sind Ver­bre­chen. Die Sozi­al­wis­sen­schaf­ten sind kei­ne empi­ri­schen, son­dern sie sind nor­ma­ti­ve Wis­sen­schaf­ten. Ihre Fra­ge­stel­lun­gen und erst recht ihre Ant­wor­ten sind „value loa­ded“ (G. Myrd­al21). Die wert­freie Sozi­al­wis­sen­schaft, der Wunsch­traum der Libe­ra­len, ver­langt das Bekennt­nis zum Wert der Wert­frei­heit und ist damit selbst schon nor­ma­tiv. Die­ses Bekennt­nis ist immer asso­zi­iert mit hedo­ni­sti­scher Indi­vi­du­al­ethik (bei Pop­per „Leid­mi­ni­mie­rung“ als Nuan­ce zur Lust­ma­xi­mie­rung), uti­li­ta­ri­sti­scher Gesell­schafts­auf­fas­sung und posi­ti­vi­sti­scher Methode.

Auf die Sozi­al­wis­sen­schaf­ten selbst ange­wen­det, wird die Wert­frei­heit zum Ali­bi, jedem Inter­es­sen­ten für jeden belie­bi­gen Zweck zu die­nen. Mit der Wert­frei­heit beginnt die Pro­sti­tu­ti­on der Sozialwissenschaft.

Im klas­si­schen Drei­ge­stirn von Logik, Ethik und Phy­sik waren die poli­ti­schen und sozia­len Wis­sen­schaf­ten stets der Ethik zuge­ord­net und damit an die Bestim­mung des Men­schen und sei­ner Gemein­schaft gebun­den. Sie waren nicht Sozio­tech­nik, son­dern Teil der Human­wis­sen­schaf­ten mit der Auf­ga­be, die Sitt­lich­keit und Frei­heit des Men­schen als das Ver­nünf­ti­ge und Den­knot­wen­di­ge zu erwei­sen und danach die sozia­len Ver­hält­nis­se und Tat­sa­chen zu beurteilen.

Die sozio­tech­ni­schen Stück­werks­wis­sen­schaf­ten sind, weil sie die Fol­gen ihrer Expe­ri­men­te und Emp­feh­lun­gen für den gan­zen Men­schen und die gan­ze Gesell­schaft nicht beden­ken und beach­ten, not­wen­dig anti­hu­man22. Ein Bei­spiel: Gegen die pro­gno­sti­zier­te Bevöl­ke­rungs­explo­si­on emp­fiehlt die Sozio­tech­nik der Ein­zel­pro­ble­me die Gebur­ten­be­schrän­kung und ent­wickelt hier­für eine gan­ze Rei­he von Pro­gram­men, ein­schließ­lich Lega­li­sie­rung der Abtrei­bung und der frei­wil­li­gen Ste­ri­li­sa­ti­on. Abge­se­hen von den schwe­ren und ver­ant­wor­tungs­lo­sen Ein­grif­fen in die psy­chi­sche und phy­si­sche Struk­tur ihrer Opfer, über­sieht sie dabei geflis­sent­lich, daß die Grün­de für die Gefähr­dung der Welt viel tie­fer lie­gen und die Bevöl­ke­rungs­explo­si­on nur ein Sym­ptom die­ser Gefähr­dung ist, des­sen Bekämp­fung die Gesamt­ge­fähr­dung nicht ver­min­dert. Bereits vor meh­re­ren Jahr­zehn­ten wur­de ein sehr ein­fa­ches, mathe­ma­ti­sches Modell oder „System“ kon­stru­iert, das mit weni­gen Varia­blen und den zwi­schen ihnen ver­mu­te­ten Abhän­gig­kei­ten ver­sucht, ”die Zukunft in den Griff zu bekom­men“. Es beschränkt sich auf ver­schie­de­ne Annah­men über Bevöl­ke­rungs­zu­wachs, Kapi­tal­in­ve­sti­tio­nen, ver­füg­ba­re Roh­stoff­vor­rä­te und Umwelt­ver­gif­tung. Indem ver­schie­de­ne Annah­men oder Sze­na­ri­os zusam­men­ge­stellt wer­den, gestat­tet das Modell oder „System“ eine Rei­he von wahr­schein­li­chen Abläu­fen zu simu­lie­ren. Die erste Simu­la­ti­on nimmt eine star­ke Abnah­me der Roh­stoff­vor­rä­te an, die dazu führt, daß die Welt­be­völ­ke­rung spä­te­stens 2020 – bei deut­li­cher Min­de­rung des Lebens­stan­dards – absin­ken muß. Wer­den aus­rei­chen­de Roh­stoff­la­ger gefun­den, so neh­men die Inve­sti­tio­nen und der Lebens­stan­dard rasch zu, jedoch erreicht die Umwelt­ver­gif­tung ein Aus­maß, dem zwi­schen 2030 und 2070 vier Fünf­tel der Mensch­heit zum Opfer fal­len wer­den. Wird die Gebur­ten­ra­te ab sofort (1970) um 30 Pro­zent ver­min­dert, so wird der etwas höhe­re Lebens­stan­dard pro Kopf (der in den Ent­wick­lungs­län­dern sehr rasch wie­der eine Anhe­bung der Gebur­ten­ra­te zur Fol­ge haben wird) kaum etwas an der Aus­beu­tung der Natur­schät­ze, den Indu­strie­inve­sti­tio­nen und der Umwelt­ver­gif­tung ändern. Das ange­ge­be­ne Resul­tat bleibt gleich: Die Beschrän­kung der Gebur­ten­ra­te min­dert nicht die Gefähr­dung. Der Ver­fas­ser, der über die Rechen­mo­del­le berich­te­te, kam zu dem Schluß, daß „Ein­zel­maß­nah­men schein­bar huma­ni­tä­ren Inhalts (z. B. welt­wei­te Gebur­ten­kon­trol­le oder ver­stärk­ter Kapi­tal­ein­satz) ohne Kom­bi­na­ti­on mit ande­ren Maß­nah­men viel­fach letz­ten Endes zu einem inhu­ma­ni­tä­ren Ergeb­nis füh­ren“.23

Die von Pop­per so ver­fem­te und hier am Bei­spiel des Systems dar­ge­stell­te “Ganz­heits­pla­nung“, die, unbe­strit­ten, einen Gesamt­um­bau, eine Refor­ma­ti­on und Refor­mie­rung der Gesell­schaft for­dert, ist weit harm­lo­ser als Küret­ten, Skal­pel­le und Hor­mon­prä­pa­ra­te. Ihre Wirk­sam­keit beruht auf dem „sanf­ten Gesetz“ der Über­zeu­gungs­kraft ihrer Ideen. Ist ihre Kraft aus­rei­chend, dann durch­drin­gen sie alle Lebens­ge­bie­te und Gemein­schaf­ten und wah­ren so deren Ver­bun­den­heit und Ein­heit, anstatt ihren Ver­fall und ihre Auf­lö­sung zu för­dern.24

§ 9 Der Verlust der Gerechtigkeit durch die Gleichheit

Redu­ziert man Pop­pers noch aus der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on stam­men­de Wert­vor­stel­lun­gen und Losun­gen – Frei­heit, Gleich­heit, Brü­der­lich­keit – auf ihren inhalt­lich dürf­ti­gen Kern, so bleibt die Gleich­heit in der Ver­tei­lung der Lasten und der Vor­tei­le aus der Staats­bür­ger­schaft als Gerech­tig­keits­prin­zip übrig.

Es gibt kein Gesetz, durch das nicht eine Klas­se gegen­über ande­ren Klas­sen begün­stigt wür­de. In den mei­sten Staa­ten sind die Lasten – über die pro­gres­si­ve Ein­kom­men­steu­er – eben­so wie die Vor­tei­le aus den Sozi­al­ein­rich­tun­gen sehr ungleich ver­teilt. Ver­sto­ßen dar­um alle Staa­ten gegen die als Gleich­heit auf­ge­faß­te Gerechtigkeit?

Gerech­tig­keit, was immer sie sonst noch sein mag, ist ein Prin­zip der gesell­schaft­li­chen Wert­fest­stel­lung, und die ist immer Fest­stel­lung von Ungleich­heit. Der gesell­schaft­li­che Wert einer Hand­lung, einer Insti­tu­ti­on oder Per­son ist umso höher und „aus­ge­zeich­ne­ter“, einen je ent­schei­den­de­ren Bei­trag für die Errei­chung des Zwecks der Gesell­schaft, das bonum com­mu­ne, sie lie­fern. Wie immer die­ser Begriff inhalt­lich bestimmt wird25 – z. B. als Wohl­fahrt, tech­ni­scher Fort­schritt, Natur­be­herr­schung, Men­schen­recht, Huma­ni­tät, Sitt­lich­keit, das „Hei­li­ge“, Stamm­va­ter, Gott usw. – ist hier gleich­gül­tig. Wesent­lich ist nur, daß die Gesell­schaft in Anwen­dung des Prin­zips der Gerech­tig­keit die Ver­dien­ste um die Errei­chung ihres wie immer gear­te­ten Zwecks unter­schied­lich und nie­mals gleich bewer­tet. Die glei­che Bewer­tung unglei­cher Hand­lun­gen und Ver­dien­ste wür­de die größ­te Unge­rech­tig­keit bedeu­ten: Das Ver­sa­gen vor einer Auf­ga­be wür­de dann eben­so bewer­tet wie die Bewäh­rung, die Tap­fer­keit eben­so wie die Feig­heit, die Träg­heit eben­so wie der Fleiß.

§ 10 Kontrolle als demokratische Tünche der Machtverhältnisse

Es ist Pop­per zuzu­ge­ben, daß Demo­kra­tie kei­nes­wegs Volks­herr­schaft bedeu­tet und das Volk noch in kei­nem prak­ti­schen Sinn je regiert hat. Aber sei­ne Auf­fas­sung von der Demo­kra­tie als Insti­tu­ti­on zur Kon­trol­le und Abset­zung der Herr­scher durch all­ge­mei­ne Wah­len, Pres­se­frei­heit, Beschrän­kung der öko­no­mi­schen Macht und Ableh­nung aller Auto­ri­täts­an­sprü­che, erscheint ange­sichts der Ent­wick­lung der west­li­chen Par­tei­en­de­mo­kra­tien welt­fremd26. Demo­kra­tie heißt dort Herr­schaft der poli­ti­schen Par­tei­en. Poli­ti­sche Par­tei­en sind Ver­bün­dun­gen, die sich die Aus­übung und Explo­ita­ti­on der staat­li­chen Macht zur Durch­set­zung der von ihnen ver­tre­te­nen Ideen oder zum Vor­teil ihrer (füh­ren­den) Mit­glie­der und Finan­ciers zum Ziel set­zen. Prin­zi­pi­ell unter­lie­gen sie kei­ner Beschrän­kung: Sie üben sowohl die gesetz­ge­ben­de wie die exe­ku­ti­ve Gewalt aus, sie regie­ren und ver­fü­gen über par­la­men­ta­ri­sche Mehr­hei­ten, selbst die höchst­rich­ter­li­che Gewalt wird von ihnen weit­ge­hend mit­tel­bar (über die Justiz­ver­wal­tun­gen) oder unmit­tel­bar (über die Beset­zung der Rich­ter­po­sten) usur­piert. Ihre inne­re Ver­fas­sung ist nicht demo­kra­tisch, son­dern olig­ar­chisch27. Mit dem Ein­drin­gen des Staa­tes in die Wirt­schafts­ver­wal­tung wer­den sie zum Auf­trag- und Brot­ge­ber nicht nur ihrer Anhän­ger und der staat­li­chen Beam­ten, son­dern auch eines guten Teils der Arbeit­neh­mer und der Indu­strie. Ihre poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Macht gibt ihnen Mit­tel an die Hand, mit denen sie die öffent­li­che Mei­nung, reprä­sen­tiert durch die Mas­sen­me­di­en, stärk­stens beein­flus­sen. Ange­sichts die­ser Macht­kon­zen­tra­ti­on sind die gewähr­ten und ver­fas­sungs­mä­ßig garan­tier­ten Indi­vi­du­al­rech­te (Wahl­frei­heit, Mei­nungs­frei­heit, Kri­tik­frei­heit, Lehr- und For­schungs­frei­heit, Erwerbs­frei­heit, Koali­ti­ons­frei­heit etc) mate­ri­ell gegen­stands­los, sus­pen­diert Die ein­zi­ge Schran­ke der Par­tei­all­macht sind die Gegen- oder Oppo­si­ti­ons­par­tei­en, die alles das kri­ti­sie­ren, was sie selbst zu tun geden­ken, wenn sie durch „freie“ Wah­len, sprich: mas­siv­sten Ein­satz der Wahl­kampf­mit­tel, an die Macht gelan­gen. So wenig also die Demo­kra­tie je Herr­schaft des Vol­kes gewe­sen ist, so wenig ist die Kon­trol­le der Herr­scher durch die Beherrsch­ten von den moder­nen Par­tei­de­mo­kra­tien ver­wirk­licht. Die Vor­schlä­ge Pop­pers sind höch­stens Pal­lia­ti­va. Eine effekt­vol­le Kon­trol­le wird wohl nur dann durch­führ­bar wer­den, wenn es zah­len­mä­ßig bedeu­ten­de, von den Par­tei­en unab­hän­gi­ge, auto­no­me Kör­per­schaf­ten und Bevöl­ke­rungs­schich­ten gibt, die den Par­tei­en unbe­straft Paro­li bie­ten kön­nen. Inso­fern ist das sich heu­te in den mei­sten Demo­kra­tien aus­brei­ten­de Ver­bän­de­we­sen nicht nur zu begrü­ßen, son­dern in sei­ner ord­nungs­po­li­ti­schen Bedeu­tung als Ansatz wah­rer und wohl­ver­stan­de­ner Demo­kra­tie zu wür­di­gen und zu stär­ken.28 Doch gera­de das Ver­bän­de­we­sen wird von den Ver­tre­tern der „Gro­ßen Ideen des Jah­res 1789“ mit aller Schär­fe bekämpft. Sie for­dern in tota­li­tä­rer und ega­li­tä­rer Wei­se „Ein Volk, Eine Regie­rung“, eine For­de­rung, die die öst­li­chen Volks­de­mo­kra­tien sehr buch­stäb­lich erfüllt haben.

§ 11 Zeit ohne Geschichte, versteinertes Leben

Das Postu­lat von der Sinn­lo­sig­keit der Geschich­te ist logi­sche Kon­se­quenz des posi­ti­vi­sti­schen Denk­an­sat­zes. Von die­sem Ansatz her kann es für geschicht­li­che Ereig­nis­se kei­ne ratio­na­le Theo­rie geben, die sich fal­si­fi­zie­ren lie­ße. Geschicht­li­che Ereig­nis­ab­läu­fe sind ein­ma­lig, unwie­der­hol­bar, sie fol­gen kei­nem phy­si­ka­li­schen Natur­ge­setz, durch das sie ein­deu­tig deter­mi­niert wären. Für den Posi­ti­vis­mus ist Geschich­te daher ex defi­ni­tio­ne irra­tio­nal; geschicht­li­che Ereig­nis­se sind der wie­der­hol­ten Beob­ach­tung, dem Expe­ri­ment und damit der wis­sen­schaft­li­chen For­schung nicht zugänglich.

Die Ver­drän­gung und Abqua­li­fi­zie­rung der Geschich­te ist Selbst­ver­tei­di­gung des Posi­ti­vis­mus. Geschich­te ist Erin­ne­rung an Ver­gan­ge­nes und Erwar­tung des Künf­ti­gen. Das hat onto­lo­gi­schen Bezug: Nicht-mehr-Sei­en­des und Noch-nicht-Sei­en­des sind und wir­ken. Wenn aber Nicht-mehr- und Noch-nicht-Sei­en­des in der Gegen­wart sind und wir­ken, dann muß not­wen­dig eine ande­re Seins­schicht ange­nom­men wer­den als jene, wel­che die prä­sen­te Tat­sa­chen­welt allein umschließt. Dann hat das Sein Ge-Schich­te, ist geschich­tet, mehr­di­men­sio­nal. Geschicht­li­ches Bewußt­sein ist dia­lek­ti­sches Bewußt­sein kat­ex­ochen. Es deckt Unter­schie­de und Wider­sprü­che auf zwi­schen dem, was ist und dem, was war, zwi­schen den herr­schen­den und den erhoff­ten Zustän­den und Ver­hält­nis­sen. Sol­che Unter­schie­de und Wider­sprü­che bre­chen die Gegen­wart auf, sie rela­ti­vie­ren sie: Der Abso­lut­heits­an­spruch der gegen­wär­ti­gen Tat­sa­chen­welt wird zurück­ge­wie­sen. Geschicht­li­ches Bewußt­sein wird so zum stärk­sten und unbe­zwing­li­chen Geg­ner des Positivismus .

Durch die Aus­sper­rung der Geschich­te aus Wis­sen­schaft und Bewußt­sein erhält die Zeit eine rein tech­nisch-phy­si­ka­li­sche Bedeu­tung. Die­se tech­nisch-phy­si­ka­li­sche Zeit hat kei­ne Geschich­te, sie läuft ab wie das Fließ­band. Sie ist in glei­che, unend­lich klei­ne Ein­hei­ten oder Momen­te teil­bar, die in end­lo­ser Mono­to­nie auf­ein­an­der fol­gen. Sie kennt kei­ne unter­schied­li­chen Zeit­qua­li­tä­ten, kei­ne Höhe­punk­te und Span­nun­gen, kei­ne Jugend und kein Alter, kei­ne Saat‑, Rei­fe- und Ern­te­zei­ten. Sie ist das völ­lig Lee­re und Sinn­lo­se, ohne Ende und Anfang, ohne Ursprung und Ziel. Sie ent­hält kei­ner­lei Leben, sie ist das Unle­ben­di­ge schlecht­hin, das immer schon Tote. Kei­ne Hoff­nung erlöst sie, sie ist nur mecha­ni­scher Ablauf, Abspulung.

Die­se tech­nisch-phy­si­ka­li­sche, in glei­che, mono­ton auf­ein­an­der fol­gen­de Ein­hei­ten zer­leg­te, lee­re Zeit wird zum Maß­stab der Geschwin­dig­keit und der Beschleu­ni­gung von Bewe­gun­gen der Gegen­stän­de im Raum, d. h. zum Maß­stab des sehr buch­stäb­lich zu neh­men­den Fort­schritts. Der durch die tech­nisch-phy­si­ka­li­sche Zeit gemes­se­ne Fort­schritt heißt mit gutem Recht „tech­ni­scher Fort­schritt“: Beschleu­ni­gung, Erhö­hung der Geschwin­dig­keit ist sein Inhalt. Fort­schritt ersetzt Geschichte.

Der zutiefst ahi­sto­ri­sche Zug, die Erset­zung der Geschich­te durch den mono­ton beschleu­nig­ten Fort­schritt, die Pro­gres­si­on ins Unend­li­che, ohne Ziel, ist das ent­schei­den­de Cha­rak­te­ri­sti­kum des indu­stri­el­len Zeit­al­ters, d. h. der durch die indu­stri­ell-tech­ni­schen Inter­es­sen und Sach­zwän­ge bestimm­ten und beherrsch­ten Zeit.

Die­ses tech­nisch-indu­stri­el­le Zeit­al­ter hat sich bis zur Aus­schließ­lich­keit mit dem Anor­ga­ni­schen ein­ge­las­sen, dem Leb­lo­sen, Toten. Es züch­tet Denk­for­men und gei­sti­ge Ein­stel­lun­gen, die der Welt des Anor­ga­nisch-Leb­lo­sen, Mecha­nisch-Tech­ni­schen, des Mono­to­nen ver­wandt sind. Die Ideo­lo­gie die­ses tech­nisch-indu­stri­el­len Zeit­al­ters for­dert die Zurück­drän­gung der orga­ni­schen, leben­di­gen Welt, die­ses stän­di­gen und lästi­gen Mah­ners, und ihre Erset­zung durch tech­nisch-arti­fi­zi­el­le Indu­strie­er­zeug­nis­se. Eine Pseu­do­re­li­gi­on kommt auf, die dem Men­schen ein­re­det, er sei ganz frei nur dort, wo er sich mit einer Welt umgibt, die von ihm selbst auf tech­nisch-künst­li­che Wei­se gemacht ist. Die­se Ideo­lo­gie affi­ziert die Moral: Gegen­über der anor­ga­ni­schen Natur, ihrer Erkennt­nis und Aus­beu­tung gibt es von vorn­her­ein kei­ne mora­li­schen Hem­mun­gen, nur tech­ni­sche Gren­zen.29

Die Hal­tung der Tech­nik gegen­über der Natur wird auf das Zusam­men­le­ben, auf die Gesell­schaft über­tra­gen: Frei von mora­li­schen Hem­mun­gen fei­ert der Eigen­nutz, das Macht­stre­ben, die Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit, die Här­te und Rück­sichts­lo­sig­keit, die Welt ohne Lie­be Tri­um­phe. Gleich­zei­tig zeigt sich eine Aus­brei­tung der mecha­nisch-funk­tio­nel­len Orga­ni­sa­ti­on, zuneh­men­de Starr­heit, Ver­ein­ze­lung, Iso­lie­rung, Uni­for­mie­rung und Ver­ma­ssung. Die Zurück­drän­gung der orga­ni­schen Natur – man den­ke nur an unse­re Groß­stadt­wü­sten –, die Erset­zung der Geschich­te durch die tote Zeit, ver­stei­nert Leben und Kul­tur. Erst in die­ser ver­stei­ner­ten Kul­tur hat Geschich­te kei­nen Sinn. Aber auch die­se Ver­stei­ne­rung der Kul­tur ist die zeit­li­che Erschei­nung der in der Gesell­schaft herr­schen­den Denk­for­men und Denk­ein­stel­lun­gen, auch sie ent­hüllt die „kul­tur­prä­gen­de Macht des Ver­fah­rens“ 30, also des metho­di­schen Weges, den das Den­ken zur Welt­an­sicht ein­schlägt und wel­cher Weg eben die Resul­ta­te des Den­kens bestimmt. Der Posi­ti­vis­mus als Metho­de zeugt die Welt des Todes:

  • die Welt ohne die sich selbst bewe­gen­de Vernunft,
  • die Welt ohne Wahr­heit und leben­di­ge Wissenschaft,
  • die Welt, die ihren Ver­stand, weil ihre Begrif­fe, ver­lo­ren hat,
  • die Welt ohne „Über-Zeu­gung” der Rede, ohne Aussage,
  • die Welt ohne Hoff­nung auf Alternativen,
  • die Welt des Inhu­ma­nen, des Expe­ri­ments mit dem Menschen,
  • die Welt ohne Sitt­lich­keit, in der Eigen­nutz und Här­te triumphieren,
  • die Welt ohne Wert und ohne Liebe,
  • die Welt ohne Geschich­te, ohne Kul­tur, ohne die Epi­pha­nie des Logos,
  • die Welt ohne Ein­heit und Ganzheit.

Erst­druck unter dem Titel „Neo­po­si­ti­vis­mus und Ganz­heits­leh­re. Eine Aus­ein­an­der­set­zung mit K. Pop­per“, in: J. H. Pich­ler (Hrsg.): Fest­schrift für W. Hein­rich zum 70. Geburts­tag. Aka­de­mi­sche Druck- und Ver­lags­an­stalt, Graz 1973, S. 79–105. Eine popu­la­ri­sier­te Fas­sung wur­de ver­öf­fent­licht unter dem Titel: „Karl Pop­per und die Fol­gen. Eine Phil­ip­pi­ka ange­sichts von Poli­tik und Gesell­schaft heu­te“, in: DIE PRESSE, 14./15. Juli 1984, Spec­trum, S. I–II.

*Fried­rich Romig, gebo­ren 1926 in Königs­berg, Stu­di­um in Wien, 1967 Habi­li­ta­ti­on für Volks­wirt­schafts­theo­rie und ‑poli­tik, Gast­do­zent in Aachen und Graz, Pri­vat­do­zent der Wirt­schafts­uni­ver­si­tät Wien, bis 1986 in der Indu­strie tätig, Trä­ger des Kar­di­nal-Innit­zer-Prei­ses und des Gol­de­nen Ehren­zei­chens der Repu­blik Österreich.

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1 Vgl. auch C. v. Schren­ck-Not­zing: Cha­rak­ter­wä­sche. Die Poli­tik der ame­ri­ka­ni­schen Umer­zie­hung. Mün­chen 1981.

2 Zur Ein­füh­rung F. Romig: Die Rech­te der Nati­on (Stocker, Graz 2002), ins­be­son­de­re das Kapi­tel: Der Deut­sche Idea­lis­mus, die Phi­lo­so­phie der Deut­schen (S.148–174).

3 Dazu jetzt zusam­men­fas­send R. Kosiek: Die Frank­fur­ter Schu­le und ihre zer­set­zen­den Aus­wir­kun­gen, 6. Auf­la­ge, Hohen­rain-Ver­lag, 6. Aufl. 2006.

4 A. Gries­bach: Den Deut­schen eine ande­re See­le ein­imp­fen, in: Zur Zeit, Nr. 34/​2005, S 18.

5 Wir zitie­ren aus Band II unter Vor­an­stel­lung der Band­zahl. Zita­te in Anfüh­rungs­zei­chen sind wört­li­che, ande­re nicht.

6 Die Para­gra­phen­ein­tei­lung im III. Teil kor­re­spon­diert mit jener im I. Teil.

7 Die Selbst­set­zung und Sich­selbst­ent­ge­gen­set­zung des Ich zum ersten Grund­satz der Phi­lo­so­phie erho­ben zu haben bleibt die unver­gäng­li­che Lei­stung Fich­tes. Vgl. J. G. Fich­te: Grund­la­ge der gesam­ten Wis­sen­schafts­leh­re. 1794, § 1 bis 3.

8 Vgl. H. Mar­cuse: Der ein­di­men­sio­na­le Mensch. Stu­di­en zur Ideo­lo­gie der fort­ge­schrit­te­nen Indu­strie­ge­sell­schaft, Sozio­lo­gi­sche Tex­te, hrsg. v. H. Maus und F. Für­sten­berg, 3. Aufl., Neu­wied und Ber­lin 1968. Der Kri­tik Mar­cuses am Posi­ti­vis­mus als Denk­form der moder­nen Indu­strie­ge­sell­schaft wird über wei­te Strecken auch dann bei­zu­pflich­ten sein, wenn man sei­ne Ide­al­vor­stel­lung einer herr­schafts­frei­en Gesell­schaft und sei­nen Kul­tur­pes­si­mis­mus nicht teilt.

9 „Welt“, „Natur“, „Mate­rie“ sind selbst schon Begrif­fe und als sol­che Gedan­ken­schöp­fun­gen, „Syn­the­sen“ des man­nig­fach Unterschiedenen.

10 Für Hegel ist die Natur die „Idee in ihrem Anders­sein“ (d. h. äußer­lich, end­lich, zeit­lich, unfrei, teil­bar), „Dar­stel­lung der Idee“, „Mani­fe­sta­ti­on des Gei­stes“ und als sol­che ist die „Natur wesent­lich ein Ideel­les“. In der Natur erkennt der Geist sein Wesen. Nur „dem sinn­li­chen Bewußt­sein erscheint die Natur als das Erste, Unmit­tel­ba­re, Sei­en­de“; für den Geist ist jedoch die Idee das abso­lu­te Pri­us der Natur. G. W. F. Hegel: Enzy­klo­pä­die der phi­lo­so­phi­schen Wis­sen­schaf­ten im Grund­ris­se (1830, zwei­ter Teil: Die Natur­phi­lo­so­phie, §§ 247 f. (Theo­rie Werk­aus­ga­be, Suhr­kamp, Frank­furt am Main 1970, S. 24 ff).

11 Die Natur als objek­ti­vier­ten Geist zu begrei­fen, mit die­sem Gedan­ken hat Schel­ling den deut­schen Idea­lis­mus berei­chert. Vgl. dazu auch O. Spanns Dar­stel­lung und Wür­di­gung Schel­lings im Phi­lo­so­phen­spie­gel. Die Haupt­leh­ren der Phi­lo­so­phie begriff­lich und geschicht­lich dar­ge­stellt, 2. Aufl., 1950 (Neu­druck als Band XIII der Gesamt­aus­ga­be der Wer­ke von O. Spann, Graz 1970): „Die Natur­phi­lo­so­phie wird stets die größ­te Tat Schel­lings blei­ben. Der tief­ste Gedan­ke sei­ner Natur­phi­lo­so­phie: daß das im Men­schen als Ich zum Bewußt­sein kom­men­de Gei­sti­ge durch die gan­ze Schöp­fung hin­durch­ge­gan­gen sei … “ (S. 248). „Das­sel­be Ansich – hei­ße es das Abso­lu­te, Geist, Ver­nunft schlecht­hin, Urgeist oder Welt­geist – das den Set­zun­gen des Ich zugrun­de liegt … setzt sich auch in der Natur“. (S. 236).

12 Was die Erschei­nung zur Erschei­nung macht, was in ihr scheint, ist das (intel­li­gi­ble, ideel­le) Wesen, das vom Begriff befaßt wird. Der Begriff ist Gegen­stand des Den­kens und als sol­cher Set­zung des Ich. Über den Zusam­men­hang von Sein, Wesen, Begriff, vgl. G. W. F. Hegei: Wis­sen­schaft der Logik (1812, 2. Ausg. 1834), (Suhr­kamp, Theo­rie Werk­aus­ga­be, Ber­lin 1969), bes. Zwei­ter Teil: Die sub­jek­ti­ve Logik oder die Leh­re vom Begriff.

13 Bene­dikt XVI.: Glau­be, Ver­nunft und Uni­ver­si­tät. Erin­ne­run­gen und Refle­xio­nen. Anspra­che in der Aula Magna der Uni­ver­si­tät Regens­burg vom 12. Sep­tem­ber 2006. Der Papst wen­det sich in die­ser Rede gegen die will­kür­li­che, weil „selbst­ver­füg­te Beschrän­kung der Ver­nunft auf das im Expe­ri­ment Fal­si­fi­zier­ba­re“, durch wel­che „der Radi­us von Wis­sen­schaft und Ver­nunft“ unzu­läs­sig und sehr zum Scha­den der west­li­chen Gesell­schaf­ten „ver­kürzt“ wer­de. Wo die Ver­nunft so ver­engt wird, daß „ihr die Fra­gen der Reli­gi­on und des Ethos nicht mehr zuge­hö­ren“, ent­ste­hen für den Zustand der Mensch­heit „gefähr­li­che Patho­lo­gien der Reli­gi­on und der Ver­nunft“. „Eine Ver­nunft, die dem Gött­li­chen gegen­über taub ist und Reli­gi­on in den Bereich der Sub­kul­tu­ren abdrängt, ist unfä­hig zum Dia­log der Kulturen.“

14 Auf der Den­knot­wen­dig­keit ihrer Begrif­fe, Urtei­le und Schlüs­se beruht „der siche­re Gang der Wis­sen­schaft“. Kant hat dies in der Vor­re­de zur „Kri­tik der rei­nen Ver­nunft“ (2. Aufl. 1787) mit aller wün­schens­wer­ten Deut­lich­keit aus­ge­spro­chen. Vgl. I. Kant: Kri­tik der rei­nen Ver­nunft, 1. Bd., Deut­sche Biblio­thek, Ber­lin, o. J., S.1–31.

15 Daß das not­wen­dig zu Den­ken­de auch wirk­lich ist, folgt aus dem Begriff der Not­wen­dig­keit: Es ist unmög­lich, das Nicht­sein des Not­wen­di­gen zu den­ken, denn dann wäre das Gedach­te nicht notwendig.

16 „Was ver­nünf­tig ist, das ist wirk­lich; und was wirk­lich ist, das ist ver­nünf­tig.“ W. F. Hegel: Grund­li­ni­en der Phi­lo­so­phie des Rechts (1820), Vor­re­de. Zitat nach: Hegels Schrif­ten zur Gese­lI­schafts­phi­lo­so­phie, Teil I: Phi­lo­so­phie des Gei­stes und Rechts­phi­lo­so­phie, hrsg. v. A. Bäum­ler, Slg. Herd­flam­me, Bd. 11, Jena 1927 S. 462.

17 „Von zwei­er­lei hat man sich Rechen­schaft zu geben. Daß näm­lich das, was ist, in Wahr­heit ist – und das, was nicht ist, in Wahr­heit nicht ist“ (10). „Am frü­he­sten stellt … Par­men­i­des, der Eleat, die Fra­ge nach dem Wis­sen um Sein und Nicht­sein, wel­che dem abend­län­di­schen Men­schen zu sich sel­ber ver­hilft“ (9). Mit dem Satz: daß näm­lich Den­ken und Sein das­sel­be sind, ste­hen und fal­len Erkennt­nis und Wis­sen­schaft über­haupt. „Das, was nicht ist, kannst du nim­mer wis­sen, denn zu ihm steigt kein Pfad hin­an… “ (Par­men­i­des). Vgl. zu Vor­ste­hen­dem L. Zieg­ler: Von Pla­tons Staat­heit zum christ­li­chen Staat, Olten 1948, S. 9–14.

18 Vgl. Kant, a. a. O. S. 142f. Kants Gedan­ken­gang ist fol­gen­der: Die Natur ist Inbe­griff aller Erschei­nun­gen (natu­ra mate­ria­li­ter spec­ta­ta). Erschei­nun­gen exi­stie­ren nicht an sich, sie sind bloß Vor­stel­lun­gen, die ein Sub­jekt sich von den Din­gen macht. Die Ver­knüp­fung von Vor­stel­lun­gen geschieht nach Ver­stan­des­ge­set­zen oder Kate­go­rien. Dem­nach ist es der Ver­stand, der der Natur ihre Geset­ze vorschreibt.

19 Wesent­li­che Ein­sich­ten zu die­sem Abschnitt ver­dan­ken wir H. Mar­cuse: Der ein­di­men­sio­na­le Mensch. Stu­di­en zur Ideo­lo­gie der fort­ge­schrit­te­nen Indu­strie­ge­sell­schaft, Sozio­lo­gi­sche Tex­te, hrsg. v. H. Maus und F. Für­sten­berg. 3. Aufl., Neu­wied und Ber­lin 1968. S. 103ff und S. 186ff. („Die Absper­rung des Uni­ver­sums der Rede“ und „Der Tri­umph des posi­ti­ven Den­kens: ein­di­men­sio­na­le Phi­lo­so­phie“). Mar­cuse hat in die­sen bei­den Abschnit­ten die ent­schei­den­de Posi­ti­vis­mus­kri­tik unse­rer Tage geliefert.

20 C. v. Schren­ck-Not­zing: Cha­rak­ter­wä­sche. Die Poli­tik der ame­ri­ka­ni­schen Umer­zie­hung, Mün­chen 1981.

21 G. Myrd­al: The Poli­ti­cal Ele­ment in The Deve­lo­p­ment of Eco­no­mic Theo­ry, Lon­don 1953. Myrd­al bringt das Bei­spiel der „Neger­fra­ge“ in den USA. Sie stellt sich erst, wenn der Wert der “equa­li­ty“, der Chan­cen, zwi­schen Schwar­zen und Wei­ßen als Norm vor­aus­ge­setzt wird.

22 F. H. Ten­bruck: Die unbe­wäl­tig­ten Sozi­al­wis­sen­schaf­ten oder die Abschaf­fung des Men­schen, Sty­ria, Graz 1984, ins­bes. S. 188ff.

23 G. Bruck­mann: Um die Zukunft in den Griff zu bekom­men. Was will und was kann die Futu­ro­lo­gie, in: Die Pres­se, Wien 29./30. Jän­ner 1972, Wochen­end­bei­la­ge, S. II.

24 Die für jede Ganz­heits­leh­re ent­schei­den­de gegen­sei­ti­ge Durch­drin­gung der ein­zel­nen Kul­t­ur­sach­ge­bie­te hat O. Spann unter dem Begriff des „Gestalt­wan­dels” ent­wickelt. Vgl. O. Spann: Gesell­schafts­phi­lo­so­phie, 2. Aufl., Band 11 der Gesamt­aus­ga­be Oth­mar Spann, Aka­de­mi­sche. Ver­lags­an­stalt, Graz 1969, S. 121 u. ö. Der Glau­be will sich in Phi­lo­so­phie und Wis­sen­schaft “ver­wan­deln“, er will durch die Ver­nunft “begrif­fen“ und in der Kunst „ver­sinn­licht“ werden.

25 Über die inhalt­li­che Bestim­mung die­ses für die ganz­heit­li­che und christ­li­che Sozi­al­leh­re und Sozi­al­me­ta­phy­sik tra­gen­den Begrif­fes haben wir abge­han­delt in: Theo­rie der wirt­schaft­li­chen Zusam­men­ar­beit, Bd. l der Rei­he Bei­trä­ge zur ganz­heit­li­chen Wirt­schafts- und Gesell­schafts­leh­re, Ber­lin 1966, S. 47–55 und S. 126–134.

26 C. Schmitt: Die gei­stes­ge­schicht­li­che Lage des heu­ti­gen Par­la­men­ta­ris­mus, 8. Aufl., Dun­cker & Hum­blot, Ber­lin 1996; H. H. v. Arnim: Der schö­ne Schein der Demo­kra­tie, Droe­mer Knaur Ver­lag, Mün­chen 2000.

27 Zu erin­nern ist hier an die klas­si­sche Unter­su­chung von R. Michels: Zur Sozio­lo­gie des Par­tei­we­sens in der moder­nen Demo­kra­tie. Unter­su­chun­gen über die olig­ar­chi­schen Ten­den­zen des Grup­pen­le­bens, Stutt­gart o. J. (Neu­druck der 2. Aufl., ver­mut­lich 1958). Par­tei­en sind Orga­ni­sa­tio­nen für die „Herr­schaft der Gewähl­ten über die Wäh­ler, der Beauf­trag­ten über die Auf­trag­ge­ber, der Dele­gier­ten über die Dele­gie­ren­den“ (370f). Wach­sen der Par­tei­or­ga­ni­sa­ti­on erfor­dert Über­tra­gung der wich­tig­sten Kom­pe­ten­zen der Wäh­ler­ver­samm­lung auf die Par­tei­vor­stän­de (75f), die zuneh­men­de Kom­ple­xi­tät des poli­ti­schen Metiers, der Gesetz­ge­bung, des öffent­li­chen Lebens bedingt die Zunah­me des Abstands der Par­tei­füh­rer zu dem Gros der Genos­sen, „bis die erste­ren schließ­lich des Gefühls der Gemein­sam­keit mit der Klas­se, der sie ent­sprun­gen sind, ver­lu­stig gehen und ein Klas­sen­un­ter­schied zwi­schen den expro­le­ta­ri­schen Füh­rern und den pro­le­ta­ri­schen Geführ­ten ent­steht“ (78). Die Par­tei­füh­rer sind Mei­ster in der Kunst der Ver­samm­lungs­lei­tung und den Knif­fen, oppor­tu­ne Reso­lu­tio­nen durch­zu­brin­gen, strit­ti­ge Punk­te aus­zu­schal­ten, die Oppo­si­ti­on mund­tot zu machen und selbst eine geg­ne­ri­sche Majo­ri­tät zu gün­stig lau­ten­den Abstim­mun­gen zu brin­gen (80f). Sie beherr­schen die finan­zi­el­le Macht der Par­tei sowie die Macht der Pres­se (125). Der Anfang der Bil­dung eines berufs­mä­ßi­gen Poli­ti­ker- und Par­tei­füh­rer­tums „bedeu­tet den Anfang vom Ende der Demo­kra­tie … Eine Mas­se, die ihre Sou­ve­rä­ni­tät dele­giert. d. h. ein­zel­nen weni­gen Män­nern aus ihr über­trägt, dankt als Sou­ve­rän ab … Der Akt der Wahl ist gleich­zei­tig Aus­druck und Ver­nich­tung der Mas­sen­sou­ve­rä­ni­tät“ (130).

28 W. Hein­rich hat die­ser Fra­ge sei­ne Lebens­ar­beit gewid­met. Vgl. bes.: Das Stän­de­we­sen mit beson­de­rer Berück­sich­ti­gung der Selbst­ver­wal­tung der Wirt­schaft (1. Aufl., Jena 1932, 2. Aufl. 1934); Die sozia­le Fra­ge, Jena 1934; Wirt­schafts­po­li­tik, 2 Bde. (1. Aufl., Wien 1948–1954, 2. Aufl., Ber­lin 1964–1967); Staats­ge­fü­ge. Wirt­schafts­ver­bän­de und Betriebs­le­ben in ihrer Gegen­sei­tig­keit. Bei­trag zur Fest­schrift P. Gys­ler, in: Wis­sen­schaft und Gewer­be, St. Gal­len 1953.

29 Auf den Zusam­men­hang von indu­stri­el­ler Tech­nik mit tech­ni­schen Denk­wei­sen, anor­ga­ni­scher Aus­rich­tung der Kul­tur und der mensch­li­chen Umge­bung, Ver­lust mora­li­scher Hem­mun­gen hat H. Sedl­mayr immer wie­der auf­merk­sam gemacht, so in: Gefahr und Hoff­nung des tech­ni­schen Zeit­al­ters, Salz­burg 1970.

30 Die­se hoch­be­deut­sa­me, beden­kens­wer­te Ein­sicht von der „kul­tur­prä­gen­den Macht des Ver­fah­rens“ hat W. Hein­rich näher aus­ge­führt in: Die Ver­fah­ren­leh­re als Weg­wei­ser für die Wis­sen­schaf­ten und die Kul­tur, in: Die Ganz­heit in Phi­lo­so­phie und Wis­sen­schaft. Fest­schrift für Oth­mar Spann zum 70. Geburts­tag, hrsg. v. W. Hein­rich, Wien 1950, S. 3–46. Hein­rich begrün­det die­se prä­gen­de Macht des Ver­fah­rens damit, daß die Art (”Grund­ge­stalt“) des Ver­fah­rens die Erfas­sung, Ord­nung, Ent­fal­tung, Idee, Wis­sen­schaft und Leh­re der Welt­wirk­lich­keit und damit die gan­ze „Welt­an­schau­ung“ bestimmt.

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1 Kommentar

  1. Im drit­ten Teil eine wun­der­ba­re Dar­stel­lung der wah­ren Phi­lo­so­phie in zeit­ge­nös­si­scher Form. Dazu wäre viel­leicht noch die Leh­re des Aero­pa­gi­ten ein­zu­be­zie­hen. Es gibt Poten­tia­le des Bewußt­seins zu denen sich der Phi­lo­soph her­auf­ar­bei­ten kann. Die Metho­de ist die der Wech­sel­be­zie­hung. Zwei gegen­sätz­li­che Sicht­wei­sen wer­den im Gei­ste gegen­ein­an­der gehal­ten. Das kön­nen ent­we­der zwei ver­schie­de­ne fol­ge­rich­ti­ge Sicht­wei­sen einer Sache sein. Oder, wie hier, eine fal­sche und eine rich­ti­ge Phi­lo­so­phie. Auf hohem Vor­stel­lungs­ni­veau schaut der Phi­lo­soph selbst­los und über den Sin­nen ste­hend. Dann ist das Den­ken etwas Eigen­stän­di­ges und nicht mehr Teil des eige­nen Wesens. Und die wah­ren Idea­le sind ihrer Selbst bewußt. 

    Das Bewußt­sein hat sich in der Geschich­te ent­wickelt. Die Ver­nunft ist der Teil des mensch­li­chen Bewußt­seins, der die Idea­le betrach­ten kann und mit Begrif­fen agiert. Romig legt dar, daß eine Betrach­tung der Idea­le nur erfol­gen kann, wenn der den­ken­de Mensch sei­ne Selbst­wahr­neh­mung, sein Ich son­die­ren kann. Bis etwa 700 v.Chr. war der Mensch sich sei­ner Selbst noch nicht bewußt. Er sah sich nicht als getrenn­tes Wesen. Dies ist in den bei­den Epen von Homer zu sehen, oder bei den bibli­schen Pro­phe­ten vor die­ser Zeit. Die alten Pro­phe­ten sind nur in der Lage, Got­tes Wort zu wie­der­ho­len. Sie kön­nen es weder in ande­ren Wor­ten aus­drücken, noch zusam­men­fas­sen, noch inter­pre­tie­ren. Es fehlt histo­risch noch die Vernunft. 

    Chri­stus der Logos. Er ist die Vernunft.

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