Von Univ.-Doz. em. Dr. Friedrich Romig*
Eine Analyse der geistigen Strömungen unserer Zeit kann schon deswegen nicht auf die Behandlung des Werkes von Sir Karl R. Popper verzichten, weil es eine ganz entscheidende Rolle in der “Umerziehung” der Deutschen1 nach dem 2. Weltkrieg spielte und von ihm der wohl schwerste Angriff auf die urtümlichste Form deutscher Geistigkeit, die idealistisch-ganzheitliche Philosophie2, geführt wurde. Viel nachhaltiger als die „Frankfurter Schule“3 und ihre „Kulturrevolution“ hat Popper die bis heute gültige und „korrekte“ politische Philosophie geprägt. Durch ihn wurde, wie ein kluger Beobachter schrieb, „den Deutschen eine neue Seele eingeimpft“4.
Popper assoziiert den Deutschen Idealismus und seine ganzheitliche Ausprägung als Ideologie der Horde oder der „geschlossenen Gesellschaft“ mit Tribalismus, Kollektivismus, Rassismus, Faschismus, Elitenlehre, Autoritätsglauben, Antidemokratismus, Irrationalismus, Utopismus, Fremdenphobie, Verfolgung, Gewaltherrschaft, Liquidierungen, Kindermord, Krieg. Die Urväter der idealistischen Ganzheitslehre sind für ihn Platon und Aristoteles. Zwischen diesen Urvätern und dem Faschismus bildet Hegel das Bindeglied.
Bei dieser Behandlung Poppers beschränken wir uns hier auf sein zweibändiges Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, das aus dem Englischen übersetzt von P. K. Feyerabend, 1957 und 1958 in Bern unter dem Titel „Der Zauber Platons“ (Band I) und „Falsche Propheten – Hegel, Marx und die Folgen“ (Band II) erschienen ist.5 Wir werden diese Darstellung in drei Teile gliedern: Der erste Teil wird der Position Poppers vorbehalten sein, den zweiten Teil werden wir dem Angriff Poppers auf die idealistische Ganzheitslehre und ihre Vertreter widmen und der dritte Teil wird unsere Kritik an Popper enthalten.6
1. Teil: Die „offene Gesellschaft“
§ 1 Der Glaube an die Vernunft als Grundprämisse der Wissenschaft
Wie für die Idealistische Philosophie, so geht auch für Popper „Glaube vor Wissenschaft“, aber dieser Glaube ist nicht höchste Gewißheit und als solche der feste Grund aller Wissenschaft. Der kritische Rationalismus beruht vielmehr auf einem irrationalen Glauben an die Vernunft (II, 284), dem seinerseits wieder eine moralische Entscheidung vorausgeht (II, 285), die aus dem Urteil fließt, das unser Gewissen angesichts der Konsequenzen fällt, die mit unserem Glauben und unserer Entscheidung verbunden sind (II, 286f). Der rechte Glaube an die Vernunft führt die Segnungen der „offenen“ Gesellschaft herbei; fehlt er, so sind Tyrannei und Unterdrückung in der „geschlossenen“ Stammesgesellschaft unser Los.
§ 2 Der kritische Rationalismus
„Kritischer Rationalismus“ bedeutet eine Einstellung, die möglichst viele Probleme durch Appell an die Vernunft und die Erfahrung zu lösen sucht, aus der Erfahrung lernt, kritische Argumente anhört und einen sachlichen Schiedsspruch bei Interessenauseinandersetzungen für möglich hält (II, 276).
§ 3 Die Vernunft als Produkt menschlicher Beziehungen
Die Vernunft ist ein Produkt des sozialen Lebens. Wir verdanken sie gewissen konkreten Individuen und unserem intellektuellen Verkehr mit ihnen, der Argumentation und Kritik (II, 276ff).
§ 4 Der hypothetische und empirische Charakter der Wissenschaft, das Prinzip der Falsifikation oder die Methode des Neopositivismus
Wissenschaftliche Theorien sind nichts als Hypothesen (II, 19), mit denen wir arbeiten, solange sie sich bewähren. Sie sind niemals „wahr“, „endgültig“‘, nicht einmal „mehr oder weniger sicher“, oder „wahrscheinlich“ (II, 361), sondern bloß vorläufig. Es gibt keine voraussetzungslose Wissenschaft (TI, 465). Als Sammlung von Tatsachen ist sie abhängig von den Interessen des Sammlers, abhängig von seinem Gesichtspunkt, d. h. seiner Theorie (II, 320) als jener vorgefaßten Meinung, mit deren Hilfe er aus der unendlichen Mannigfaltigkeit von Tatsachen und Aspekten jene auswählt, die ihn interessieren (II, 321), weil sie die Theorie bestätigen oder widerlegen. Eine Theorie ist dann wissenschaftlich, wenn sie unter der Bedingung der Möglichkeit der Widerlegung, der Falsifizierbarkeit ihrer Voraussagen durch die Erfahrung und Beobachtung steht (II, 321). „Insoferne sich die Sätze einer Wissenschaft auf die Wirklichkeit beziehen, müssen sie falsifizierbar sein, und insoferne sie nicht falsifizierbar sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit” (II, 20). „Wissenschaft ist durch Beobachtung und Experiment überprüfte Theorie“ (II, 361). Wissenschaft ist demnach der Schatz an Hypothesen (Theorien), die noch nicht durch Erfahrung und Beobachtung widerlegt sind. Die Verwerfung von Theorien ist das Vehikel des wissenschaftlichen Fortschritts (II, 321). Der Weg der Wissenschaft ist gepflastert mit abgelegten Theorien (II, 23).
§ 5 Begriffe als „Wortmarken“: der Nominalismus
Begriffe sind „Wortmarken“ (II, 364), abkürzende Symbole einer mehr oder minder langen Definitionsformel (II, 21), „Fachausdrücke“ (II, 26), die keinerlei Wissen oder Information bieten (II, 22). Die Definition ist ein Satz, der mitteilt, daß der definierte Ausdruck (die „Wortmarke“) dasselbe bedeutet wie die Definitionsformel und daß sich das Definiens durch das Definiendum ersetzen läßt und umgekehrt (II, 365). Die Wissenschaft hängt nicht vom Sinn der Begriffe ab, die sie verwendet, sondern von den Tatsachen, um die sie sich annimmt (II, 27). „Der Gebrauch von Definitionen kann nur zu Wortklaubereien führen“ (TI, 365) .
§ 6 Die Sprache als Instrument der Kommunikation
„Klar sprechen, das heißt so sprechen, daß es auf die Worte nicht ankommt“ (II, 371). Die Sprache ist nichts als ein rationales Instrument der Kommunikation und nicht Mittel zum Selbstausdruck, wie es im üblichen romantischen Jargon der meisten unserer Erzieher heißt” (II, 294). Als „Mittel zum Selbstausdruck“ verliert sie ihre Funktion, sie ist dann nicht mehr Mittel einer Verständigung im gemeinsamen Medium der Vernunft. Nur rationale Sprachen sind wechselseitig übersetzbar und wirken durch wechselseitige Übersetzbarkeit als vereinigendes Band der Menschheit (II, 294).
§ 7 Die rationalistische Auffassung der Gesellschaft: die „abstrakte“ oder „offene“ Gesellschaft
Die moderne Gesellschaft ähnelt einer völlig abstrakten oder entpersönlichten Gesellschaft von Mitgliedern, die keinerlei oder nur sehr wenige persönliche Beziehungen haben und in Anonymität und Isoliertheit leben (235). Die modernen offenen Gesellschaften funktionieren „zum Großteil auf dem Weg über abstrakte Relationen wie Austausch oder Arbeitsteilung …“ (II, 236), Geldwirtschaft, freie Marktwirtschaft. Eines ihrer wichtigsten Kennzeichen ist der Wettstreit ihrer Mitglieder um die Stellung, die sie in ihr einnehmen wollen, ihr Streben, sozial emporzukommen und die Stellen anderer Mitglieder einzunehmen (234).
§ 8 Sozialwissenschaft als Sozialtechnik der Einzelprobleme
Der Aufbau einer empirischen Sozialwissenschaft kann nur über eine rationale Sozialtechnik erfolgen, d. h. über „die von Fall zu Fall angewendete Sozialtechnik der Einzelprobleme, die Technik des schrittweisen Umbaues der Gesellschaftsordnung oder die Ad-hoc-Technik …“ (213f). Im Gegensatz zur utopistischen Sozialtechnik oder Ganzheitsplanung, die den Gesamtumbau der Gesellschaft bezweckt, setzt sich die rationale Sozialtechnik beschränkte Ziele (215): Sie untersucht die Eignung sozialer Institutionen für die Erreichung menschlicher Zwecke (401), sie entwickelt Maßnahmen für die Verbesserung ihres Wirkungsgrades, entwirft Pläne für die Änderung sozialer Institutionen in Übereinstimmung mit unseren Wünschen und Zielen (48), z. B. für Krankenversicherungen, Arbeitslosenversicherungen, Depressionsbekämpfung oder Schulreformen (216). Sie ist nicht auf der Suche nach einem „wahren“ oder „idealen“ Staat (220), einem „höchsten Gut“, sie versucht nicht „Glück“ zu bringen, Vollkommenheit, Einheit oder Schönheit (266), sondern sie versucht, die größten Übel und das schwerste Leid zu beseitigen (215). Statt dem größten Glück für die größte Zahl strebt sie lieber nach dem kleinsten Maß an Leid für alle (388).
Diese Sozialtechnik der kleinen Schritte hat den Vorteil, daß sie sofort anwendbar ist und nicht zu einer beständigen Verschiebung des Handelns führt und die Früchte ihrer Maßnahmen nicht für eine unabsehbar ferne Zukunft versprechen muß (215). Die einzelnen Schritte sind relativ einfach zu beurteilen, weniger riskant und aus diesem Grund weniger umstritten (216). Sie werden daher leichter unterstützt, ausgehandelt und kontrolliert.
Die Methode, die bei dieser Sozialtechnik der Einzelprobleme Anwendung findet, ist die Trial-and-Error-Methode, die allein zu einer empirischen Sozialwissenschaft beitragen kann (397). Nur durch Versuch und Irrtum lernen wir (227). Das ganze Geheimnis der wissenschaftlichen Methode liegt in der Bereitschaft, aus begangenen Fehlern zu lernen (227). Sie allein ist der Weg zur Rationalisierung der Gesellschaft und der Politik (II, 294 und I, 214).
§ 9 Die humanitären Wertvorstellungen und die Verfassung der sozialen Institutionen: Gleichheit und Machbarkeit der Institutionen
Alle sozialen Institutionen und die ihnen zugrunde liegenden Normen sind Menschenwerk in dem Sinne, daß niemand anderer außer uns selbst für sie verantwortlich ist (401 u. II, 96). Normen und Institutionen sind abänderlich, sie sind nicht tabu (233), sondern einer rationalen Einstellung zugänglich, die es unternimmt, die sozialen Bedingungen zu verbessern. Solche Verbesserungen setzen den Glauben an die „offene Gesellschaft“ voraus, der im Glauben an die Vernunft, an die Freiheit und an die Brüderlichkeit aller Menschen besteht (248) und die ”kritischen Fähigkeiten des Menschen in Freiheit setzt” (21). Dieser Glaube führt zu einer humanitären Einstellung zur Gerechtigkeit, womit gemeint wird:
„a) Die gleiche Verteilung der Lasten der Staatsbürgerschaft, d. h. der im sozialen Leben notwendigen Einschränkungen der Freiheit;
b) die gleiche Behandlung der Bürger vor dem Gesetz, vorausgesetzt natürlich, daß
c) die Gesetze selbst einzelne Bürger oder Gruppen oder Klassen weder begünstigen noch benachteiligen;
d) Unparteilichkeit der Gerichtshöfe und
e) gleicher Anteil an den Vorteilen (und nicht nur an den Lasten), die die Mitgliedschaft im Staate den Bürgern zu bieten vermag” (130).
Diese “humanitäre Theorie der Gerechtigkeit erhebt hauptsächlich drei Forderungen oder Vorschläge, nämlich
a) das Prinzip der Gleichberechtigung, d. h. den ”Vorschlag, ’natürliche‘ Vorrechte auszuschalten;
b) das allgemeine Prinzip des Individualismus, und
c) das Prinzip, daß die Aufgabe und der Zweck des Staates im Schutze der Freiheit seiner Bürger besteht“ (137).
§ 10 Demokratie als Kontrolle der Herrscher durch die Beherrschten
Herrscher befinden sich moralisch und intellektuell selten über und oft unter dem Durchschnitt (172). Die Hauptfrage der Verfassung ist daher nicht, wer regieren soll, sondern: Wie können wir politische Institutionen so organisieren, daß es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzu großen Schaden anzustellen? (170, im Original hervorgehoben). Die Lösung der Frage liegt auf der Linie der wohlverstandenen Demokratie. Demokratie ist nicht Herrschaft des Volkes, denn das Volk hat noch in keinem praktischen Sinne je regiert (175), noch bedeutet Demokratie Herrschaft der Mehrheit (175). Demokratie meint vielmehr institutionelle Kontrolle der Herrscher und gegenseitige Beschränkung der Kräfte im Staat (”countervailing powers“) (172, 173), Vermeidung der Tyrannei (174), Institutionen zur Absetzung der Herrscher (allgemeine Wahlen), Pressefreiheit mit der Pflicht zur genauen Information (II, 422), Beschränkung der ökonomischen Gewalt, d. h. der Machtbefugnisse des Besitzes (II, 164), Freiheit der Kritik (II, 278), Ablehnung aller Autoritätsansprüche (II, 293).
§ 11 Die Sinnlosigkeit der Geschichte
„Weltgeschichte hat keinen Sinn“ (II, 333, im Original hervorgehoben). Die Weltgeschichte der Menschheit, so wie sie uns nahegebracht wird, ist „Geschichte der politischen Macht“ (II, 334, hervorgehoben). Aber das ist bereits eine „Beleidigung jeder anständigen Auffassung von der Menschheit … denn die Geschichte der Machtpolitik ist nichts anderes als die Geschichte internationaler Verbrechen und Massenmorde“ (II, 334, teilweise hervorgehoben). Die Behauptung, daß Gott in der Geschichte internationaler Massenmorde und Verbrechen sich offenbart, ist eine Gotteslästerung (II, 336). Eine Geschichte der Menschheit kann es nach humanitärer Auffassung nicht geben, denn sie müßte die Geschichte jedes einzelnen Menschen sein, denn kein Mensch ist wichtiger als irgendein anderer.
Geschichtstheorien unterscheiden sich von wissenschaftlichen Theorien schon dadurch, daß sich die Tatsachen der Geschichte nicht willkürlich wiederholen lassen und nur jene Tatsachen festgehalten werden, die zu einer vorgefaßten Theorie passen (II, 328). Solche Theorien sind Kristallisationen von Interessengesichtspunkten. Jede Generation hat das Recht, die Geschichte auf ihre Weise zu betrachten und neu zu deuten (II, 331), denn von Interesse ist nur, in welcher Beziehung unsere heutigen dringendsten Probleme zur Vergangenheit stehen, wie die Schwierigkeiten entstanden sind und wie wir sie lösen können (II, 332). Nicht die Geschichte bestimmt unsere Probleme oder unsere Zukunft, sondern wir sind es, die die Tatsachen der Geschichte auswählen und ordnen (II, 333). Nicht die ‚Geschichte‘ hat Sinn, sondern wir können der Geschichte Sinn verleihen, indem wir in ihr den Kampf um Gleichberechtigung, um Rationalmachung der politischen Institutionen und der Sprache und um die offene Gesellschaft sehen (II, 346).
§ 12 Hinweise zur Lehrgeschichte der „offenen Gesellschaft“
Mit den Griechen hat der Übergang von der “geschlossenen“ zur „offenen“ Gesellschaft begonnen. Ursachen waren: Übervölkerung, Kolonisation, Berührung mit fremden Kulturen, Schiffahrt. Handel, Seeschiffahrt und Demokratie sind Ausdrucksformen einer neuartigen Bewegung, die geistig in den Lehren der „Großen Generation“ verarbeitet wurde (238). Zu ihr gehören vor allen die Sophisten, Sokrates, Protagoras, Gorgias, Alkidamas, Lykophron, Antisthenes, die alle Gleichheit, Individualismus und die menschliche Natur der Gesetze und Institutionen verkündeten. Ferner Demokrit (Atomismus, Individualismus, Demokratie) und schließlich Perikles, der große Führer der athenischen Demokratie. Sophokles, Euripides, Aristophanes begleiteten diese Bewegung mit ihren Dichtungen.
II. Teil: Die ”geschlossene Gesellschaft“ und ihre Vertreter
§ 1 Wirklichkeit, Vernünftigkeit und Unveränderlichkeit der Ideen: die Grundprämisse der magisch-metaphysischen Wissenschaft
Um die Auswirkungen des Zusammenbruchs der „geschlossenen Gesellschaft“, ihrer magischen Glaubensgrundlagen und ihrer Herrschaftsformen aufzuhalten und zu bannen, hat Platon die Ideenlehre erfunden (46f). Die Ideen sind unveränderlich, vollkommen, jenseits von Raum und Zeit, daher unstofflich und ewig, nicht mit den Sinnen wahrnehmbar. Sie sind in höherem Maße wirklich als veränderliche Dinge, deren Ideal, Original, Ursprung und Vernunft sie sind (51ff). Nach Platon sind die Ideen Gedanken Gottes (55) und sie stehen zu den hinfälligen, veränderlichen Dingen in einer ähnlichen ontologischen Differenz wie die Götter zu den Menschen: Auch die Götter sind unsterblich, ewig, vollkommen, die Menschen dagegen sterblich (54).
§ 2 Wahres Wissen nicht durch Vernunft, sondern durch intellektuelle Intuition
Die Ideen sind nur der denkenden Betrachtung (54), der intellektuellen Anschauung oder Intuition zugänglich. Die Dialektik ist die Kunst, Ideen zu sichten und zur Anschauung zu bringen (186). Sie ist dem Philosophen vorbehalten. Wahres Wissen ist nur von den Ideen möglich. Sie allein sind die Gegenstände des Wissens, weil sie unwandelbar sind (58ff). Über empirische Dinge, d. h. über wahrnehmbare, veränderliche Dinge, gibt es kein Wissen, sondern bloß „Meinung“.
Nach Aristoteles, der hierin Platon folgt, ist das intuitive Wissen allein Quelle der Wissenschaft. Das intuitive Wissen, die intellektuelle Anschauung schließt jedes Element aus, das von unseren Sinnen abhängt (II, 17). Es ist mit seinem Gegenstand identisch und vereinigt, und irrt darum niemals (II, 18).
§ 3 Begriff und Definition als Wesensaussagen: der Essentialismus
Die Aufgabe der Wissenschaft besteht in der Entdeckung und Beschreibung der wahren Natur der Dinge, ihrer verborgenen Realität, Form, Essenz (59), die einen eigentümlichen Namen (= Begriff) besitzt und definiert werden kann (60). Definitionen sind nur möglich, wenn das Wesen des zu Definierenden (= Definiendum) durch die intellektuelle Intuition erfaßt wurde (II, 17).
§ 4 Die Unveränderlichkeit der Normen: das Tabu
In der geschlossenen Stammesgesellschaft beherrschen und regeln magische Tabus in starrer Weise alle Aspekte des Lebens (232), niemals zum Gegenstand kritischer Überlegung werdend (232). Die Tabus bewirken die Stabilität der sozialen Institution: „Jedermann hat seinen vorbestimmten Platz innerhalb des Ganzen der sozialen Struktur; jedermann fühlt, daß sein Platz der richtige, der natürliche Platz ist, der ihm durch die Kräfte, die die Welt regieren, zugeteilt wurde; jedermann ‚kennt seinen Platz‘” (36). Das Leben in dem unveränderlichen Zauberkreis von Tabus, Gesetzen und Sitten wird als unvermeidlich und natürlich empfunden (91). Die Normen sind Ausfluß des Tabus (101) und daher, ebenso wie alle auf den Tabus und Normen gegründeten gesellschaftlichen Institutionen, sakrosankt. Der Schutz der Tabus, der Normen und geheiligten Institutionen erfordert Ausschluß fremder Einflüsse, demokratischer Ideologien, Verbot der Rassenmischung, Autarkie und Unabhängigkeit vom Handel sowie Beschränkung des Wachstums, damit die Einheit gewahrt bleiben kann (245).
§ 5 Die irrationalistische Auffassung der Gesellschaft: die Stammesgesellschaft oder geschlossene Gesellschaft
Die Stammesgesellschaft beruht nicht auf abstrakten Beziehungen, sondern auf halb-biologischen Banden: Verwandtschaft, Zusammenleben, gemeinsamen Anstrengungen, Gefahren, Freuden, Schicksalsschlägen und konkreten physischen Beziehungen wie Berührung, Geruch, Sicht (234). Verbot der Rassenmischung, Wahrung der Geschlossenheit erfordern Inquisition, Geheimpolizei und ein romantisiertes Gangstertum (268). Persönliche Verantwortung, Vernunft, Sittlichkeit und Freiheit werden durch Zwangsnormen des Kollektivismus ersetzt.
§ 6 Magische Institutionen
Institutionen sind sakrosankt, haben sakralen Charakter, entsprechen göttlichem Plan, sind von Gott gewollt, von Gottes Gnaden. „Es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist“, meint Hegel.
§ 7 Führerprinzip, Elitenlehre und Klassenherrschaft
Der Herrscher oder Führer muß die Gabe der mystischen „Wesensschau“, der irrationalen Intuition, das Wissen um die Ideen besitzen, um die sakralen Institutionen leiten zu können. Führung ist daher den Eingeweihten und Auserwählten vorbehalten, die den idealen, „wahren Staat” im Himmel erblickt haben, um ihn auf Erden zu verwirklichen. Sie sind die Vollstrecker der Intentionen des „Weltgeistes“, die großen Männer der Geschichte.
Die der Sicht der Ideen Mächtigen bilden die herrschende Klasse, den Adel, die Elite. Mit dem Adel wird das Schicksal des Staates identifiziert. Daher wird diese Klasse bevorrechtet (z. B. Waffentragen), sie wird gelehrt, die Arbeit und den Arbeiterstand zu verachten, Krieg, Jagd, Pferde sind ihre Symbole (311). Ständische Erziehung.
§ 8 Universalistische Sozialtechnik oder Ganzheitsplanung
Die Methode des Planens im großen Stil, die utopische Sozialtechnik des Umbaus der Gesellschaftsordnung oder die Technik der Ganzheitsplanung ist die von den Vertretern der „geschlossenen Gesellschaft“ bevorzugte Methode zur Behandlung politischer Probleme (213). Sie betrachten die Wahl eines Zieles als Voraussetzung des Handelns. Dieses Ziel ist der ideale, der „wahre Staat“, den es zu erreichen gilt, dessen Bauplan festgelegt werden muß, um ihn zu verwirklichen (214). Das führt zur Gewaltherrschaft, ja in der Regel zur Diktatur (217). Der Einsatz der Gewalt wird durch den Glauben an ein unveränderliches Ideal gerechtfertigt, doch ist dieses Ideal rational nicht erkennbar und nur der Intuition zugänglich (219).
Solche utopistische Ganzheitsplanung hängt vielfach mit Ästhetizismus zusammen, d. h. dem Wunsch nach einer schöneren Welt, einer Welt, die von Häßlichkeit frei ist (223). Politik wird als eine Kunst zur Komposition von Staaten betrachtet, die die Wahrheit des Schönen, des Gerechten und des Guten vom Himmel auf die Erde herabbringen soll (224). Das Berauschen an den Träumen von einer schöneren Welt ist Romantizismus, der mit der besten Absicht, den Himmel auf Erden einzurichten, die Welt in eine Hölle zu verwandeln vermag (227).
§ 9 Der Sinn der Geschichte: Historizismus
Der Geschichte wird Sinn unterlegt, wobei entweder die Geschichte dem Willen Gottes folgt oder dem Naturgesetz oder dem Gesetz der geistigen oder der ökonomischen Entwicklung. Das Verständnis des Soziallebens beruht auf einer Betrachtung und Deutung der menschlichen Geschichte (31). Geschichtsmächtig sind die großen Nationen, die großen Führer, die großen Klassen und die großen Ideen (31).
§ 10 Lehrgeschichte: Heraklit
Stammt aus der Familie der Priesterkönige von Ephesos. Verzichtet zu Gunsten seines Bruders auf Thronansprüche. Ist Verächter der Demokratie und des Volkes, das keinen als seinen Besten erkennen will und den Hermodoros vertreibt, sich den „Wanst stopft wie das Vieh“, fahrenden Sängern folgt und sich keine Gedanken über die wesentlichen Dinge macht. Heraklits Interpretation der Geschichte ist pessimistisch, Geschichte ist Abstieg und Verfall, alles untersteht dem Schicksalsgesetz, das über alle Wandlungen erhaben ist und den Trost für den Verlust einer stabilen Welt abgibt (38).
§ 11 Lehrgeschichte: Platon
Ebenfalls aus königlichem Geschlecht, mit Kodros und Solon verwandt. Auch für ihn ist Geschichte universaler Verfallsprozeß (44f), begleitet von sittlichem Verfall und rassischer Degeneration (46) . Er wünscht dem Verfall Einhalt zu gebieten durch die Erfindung einer neuen Wirklichkeit, die dem Verfall nicht ausgesetzt ist, des Reiches der Ideen, einer Ideenwelt, an der sich die Politik und der Staat zu orientieren haben, um dem Verfall zu entkommen (51).
Gerecht und Recht ist, was der Macht des Staates nützt (168). Strenge Klasseneinteilung, beruhend auf der Lüge von angeborenen, rassischen Merkmalen wie Gold‑, Silber‑, Kupfer- oder Eisengehalt in den Seelen. Die goldene Herrenrasse ist übermenschlich, gottähnlich, durch Züchtung und Erziehung hervorgebracht (205f). Die Erziehungsaufgabe ist die wichtigste Aufgabe des Staates. Staat ist Erziehungsinstitution (185). Das Schicksal des Staates ist mit dem der herrschenden Klasse identisch: Erhaltung des Staates heißt daher Erhaltung der Einheit der herrschenden Klasse (80). Innere Uneinigkeit in der herrschenden Klasse führt zu Verfall und Revolution (76). Die Uneinigkeit ist in der Regel auf ökonomische Gründe zurückzuführen, daher sind diese auszuschalten und auf ein Minimum zu reduzieren. Die Chrematistik wird daher ebenso verachtet wie die Arbeit. Platon führt den wildesten Angriff auf die liberalen Ideen, den die Geschichte kennt (127), er ist reaktionär (129) und antihumanitär (128), sein Programm ist totalitär. Seine Schriften sind mit Gift gefüllt (73), seine Kritik an der Demokratie ist verleumderisch, eine feindselige und ungerechte Parodie (72). Für ihn ist Freiheit Gesetzlosigkeit, persönliche Freiheit Zügellosigkeit, Gleichheit Unordnung. Die Demokraten werden als liederlich, geizig, unverschämt, gesetzlos, schamlos, als wilde, schreckliche Raubtiere hingestellt, die jeder Laune folgen und die nur dem Vergnügen und den unnötigen und unreinen Wünschen leben. Er wirft den Demokraten vor, daß sie „Scham einfältiges Betragen nennen … Mäßigung aber Unmännlichkeit … Bescheidenheit und Maßhaltung im Ausgeben nennen sie Niedrigkeit und Mangel an guten Sitten … (Staat 560 d) … Der Lehrer fürchtet seine Schüler und er schmeichelt ihnen … alte Männer lassen sich herab …, um nicht als mürrische, despotische alte Herren zu erscheinen“ (563 a – d). Hinter seiner Idee des königlichen Philosophen steht das Streben nach Macht (212). Das schöne Portrait des Herrschers ist sein Selbstportrait (212). Diese Idee ist ein Monument an menschlicher Kleinheit (213).
§ 12 Lehrgeschichte: Aristoteles
Aristoteles stammt bereits nicht mehr aus königlichem Geblüt, sondern er ist seiner Herkunft nach Bürgerlicher. Sein bester Staat ist ein Kompromiß zwischen platonischer Aristokratie, Feudalismus und demokratischen Ideen (II, 7). Seine Bedeutung liegt vor allem in der Herausarbeitung der essentialistischen Methode, mit der er das Wesen der Dinge zu erfassen sucht. Jede Bewegung und Veränderung ist gerichtet auf ein Ziel, ein Ende, einen Zweck, identisch mit der Form oder dem Wesen. Veränderung ist Verwirklichung (Entelechie). In der Veränderung enthüllt sich das Wesen, das wir daher auch durch Intuition erkennen können. Die Suche nach dem Wesen führt zu Scholastizismus, Mystizismus, Dogmatismus und zur Verwerfung jeder rationalen Argumentation, wie das später bei Fichte, Schelling und Hegel penetrant ausgeprägt ist (II, 31).
§ 13 Lehrgeschichte: „Hegel und der neue Mythos der Horde“ (II, 37)
Hegel ist das Bindeglied zwischen Platon und den modernen Formen des totalitären Gedankengutes. Er belebt die Ideen der Feinde der offenen Gesellschaft (Heraklit, Platon, Aristoteles), Ideen, die die Grundlage des ewigen Aufstandes gegen die Vernunft und die Freiheit sind (II, 41). Seine Philosophie ist die Reaktion auf den Kampf gegen die offene Gesellschaft, wie er mit den Ideen von 1789 eingesetzt hat. Sowohl der marxistische, extreme linke Flügel als auch die konservative Mitte sowie schließlich die faschistische Rechte gründen alle ihre politische Philosophie auf Hegel (II, 39).
Die Dialektik wurde von Hegel erfunden, um die Ideen von 1789 zu verdrehen (II, 54). Mit ihrer Hilfe wird die Behauptung gestützt, daß Widersprüche zur Vernunft gehören und nur Momente der Synthese wären, die zu finden der Gegenstand des denkerischen Prozesses sei, während es doch gerade darum geht, Widersprüche zu beseitigen und zu vermeiden. Mit der Zulassung von Widersprüchen bricht die Wissenschaft zusammen (II, 51), aber gerade das entspricht Hegels Wunsch, rationale Argumentation und intellektuellen Fortschritt aufzuhalten (II, 52). Sein Kollektivismus ist radikal: Das Individuum verdankt dem Staat alles (II, 42). Die Hegelsche Philosophie ist die Renaissance der Ideologie der Horde (II, 41). Nur der Staat ist um seiner selbst willen, er ist das vorhandene wirkliche, sittliche Leben, die göttliche Idee, wie sie auf Erden erscheint. Der Staat muß daher verehrt werden (II, 42). Geschichte wird für Hegel zu einem riesigen Syllogismus, einem Denkprozeß des absoluten Geistes oder „Weltgeistes“ (II, 61). Der Krieg wird angebetet, Frieden und wirkliches Leben bedeuten für Hegel versumpfen, Langeweile, Nullität (II, 95f). Glück wird verachtet, denn die Zeiten des Glücks sind die leeren Blätter im Buche der Weltgeschichte (II, 96). Das Bemühen um die Verbesserung der menschlichen Zustände erscheint vergeblich (II, 97). Die Religion des „Großen Mannes der Geschichte“ führt zum Stammesideal des heroischen Menschen, der gefährlich leben will, gleichgültig wofür. Für ihn und seinesgleichen gilt nicht die Litanei der Privattugenden, der Bescheidenheit, Demut, Menschenliebe und Mildtätigkeit. In ihnen wirkt die List der Vernunft, die die Leidenschaften der großen Männer für sich wirken läßt und ihnen gestattet, sich über Zucht und Ordnung, Mäßigung, Recht und Moralität hinwegzusetzen. Selbst die Mechanisierung des Krieges hebt die individuelle Tapferkeit zur allgemeinen und damit zur höheren Gestalt (89). Auch bei E. Kaufmann, E. Banse, M. Scheler, E. Ludendorf, H. Freyer, S. Lenz, E. Jünger, E. J. Jung wird der Krieg als kostbares Gut verherrlicht. Für den Existentialisten Jaspers heißt wesentlich leben in der Krise leben. Heidegger empfiehlt uns, das Nichts zu suchen, denn Leben heißt das Nichtsein riskieren (II, 97ff). Alle diese Autoren haben die geistige Atmosphäre entwickelt, die dem Nazismus den Weg bereitet hat (II, 403). Hegels Philosophie ist intellektueller Betrug, der größte, den die Geschichte der Zivilisation und des Kampfes gegen ihre Feinde kennt. Dieser Farce, die soviel Unheil angerichtet hat, muß Einhalt geboten werden (II, 101). Hegels Stil ist skandalös, seinen Schriften ermangelt Originalität und Vernunft, wenngleich dieser Mangel natürlich Ausdruck seines Geisteszustandes ist (II, 42). Mit ihm beginnt die “Periode der Unredlichkeit” in der Philosophie, wie Schopenhauer die Periode des deutschen Idealismus nannte (II, 37).
§ 14 Lehrgeschichte: Marx oder der soziologische Determinismus oder ökonomische Historizismus
Der aus der Hegelschule hervorgegangene Marxismus ist „eine wahrhaft humanitäre Bewegung” (II, 102). “Marx liebt die Freiheit, die wirkliche Freiheit‘ (II, 129). Sein „Reich der Freiheit“ ist nicht materialistisch, sondern idealistisch (II, 131). Seine materialistische Geschichtsauffassung darf nicht ernst genommen werden: Sie ist nichts als ein Vorschlag, soziale Phänomene auch von ihrem ökonomischen Hintergrund aus zu betrachten (II, 137). Seine Methode dient in erster Linie der Verkündigung des bevorstehenden sozialistischen Millenniums (II, 109): Der Sozialismus sollte von einer Utopie zur Wissenschaft weiterentwickelt werden (II, 105), seine Verkündigung hat jedoch religiösen Charakter (II, 241), sie vermittelt den Glauben an die Mission und die große Zukunft der Arbeiterschaft (II, 241) mit einer eigenen Ethik, deren kategorischer Imperativ lautet: Bekenne Dich zum Moralsystem der Zukunft, d. h. des Proletariats (II, 251). Heute ist der wissenschaftliche Marxismus tot (II, 259), aber Marxens Kampf gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Degradierung der Arbeit zur Ware, die an Sklaverei erinnert, muß weiterleben (II, 243).
III. Teil: Kritik an Poppers „Kritischem Rationalismus“ oder Neopositivismus
§ 1 Die Armseligkeiten der Vernunft
Für Popper ist die Vernunft nicht ursprünglich, sondern abgeleitet, Produkt sozialer Beziehungen, Ergebnis des fortschreitenden sozialen Erfahrungsprozesses. Sein “Glaube an die Vernunft”, weil irrational, bedarf der moralischen Begründung durch den Hinweis auf die leidvollen Konsequenzen, die mit jedem anderen Glauben, etwa mit dem Glauben an einen absoluten Gott und Herrn, verbunden sind (moral of consequences).
Aber Poppers moralische Begründung für die Vernunft ist nicht sehr überzeugend, war doch der “Glaube an die Vernunft“ das Bekenntnis der Jakobiner, die nicht nur die Kathedrale von Notre Dame zum „Tempel der Vernunft“ umfunktionierten, sondern im Namen der Vernunft und der „Großen Ideen von 1789“ schätzungsweise 40.000 Menschen guillotinierten, ertränkten (so in Lyon) oder sonstwie ermordeten. Kein Glaube feit gegen Schreckensherrschaft, Massenmord, verbrecherisches Führertum. Die Marats, Dantons und Robespierres leihen ihre Henkerkraft jedem Glauben.
Vernunft, so müssen wir Popper entgegenhalten, ist nicht ein Produkt sozialer Beziehungen, sondern das Vermögen, zu denken. Vermögen nennen wir die Fähigkeit, Möglichkeit oder Potenz, sich zu aktuieren. Denken ist sich aktuierende Vernunft. Denken als Tätigkeit, als Prozeß oder Vollzug – Denktätigkeit, Denkprozeß, Denkvollzug – erfordert den Vollziehenden, den Täter, das denkende Subjekt. Das Subjekt ist Träger der Vernunft, d. h. des Vermögens, zu denken. Dieses mit Vernunft begabte Subjekt muß in all seinem Denken sich selbst gleichbleiben, sonst ginge es in den Erzeugnissen seines Denkens, seinen Gedanken, unter. Denken bestünde dann in einer Aneinanderreihung völlig unzusammenhängender Gedanken. Wir bezeichnen das sich selbst gleichbleibende Subjekt des Denkens als „Ich“. Das in seinem Denken sich selbst gleichbleibende Subjekt, das Ich, muß sich wissen und erkennen und dazu sich selbst denken. Mithin: Das Ich aktuiert, produziert, schafft, denkt oder „setzt“ sich selbst7; es weiß sich selbst; in all seinen Gedanken bleibt es sich selbst gleich. Spontaneität, Selbstbewußtsein und Identität kennzeichnen das Ich, das denkende Subjekt. Nur denkend bin ich (Spontaneität). Nur mich selbst denkend, bin ich Ich (Selbstbewußtsein). Nur als mir selbst bewußt, denke ich (bin ich das in meinem Denken sich selbst Gleichbleibende: Identität). Im Prozeß des Denkens wird das denkende Subjekt sich seiner eigenen Vernunft, seines Wesens, seines Selbst bewußt. Das seines Selbst bewußte Wesen, das selbstbewußte Wesen, das reine Ich, das nichts außer sich selbst weiß, das absolute Selbstbewußtsein oder absolute Ich ist die reine Vernunft, der Logos: absolutes oder allgemeines Ich = Logos, d. h. Gott.
Die sich im Denken des Ich aktuierende Vernunft ist sich selbst Ursprung und Resultat oder Produkt. Sie ist daher kein Produkt sozialer Beziehungen, nicht aus etwas anderem als aus sich selbst ableitbar. Sie ist an und für sich seiend. Als an und für sich seiend, ist die Vernunft Idee (denn Idee nennen wir An-und-für-sich-Seiendes), mehr noch: das allen Ideen Zugrundeliegende, Vernünftige, logisch Vorangehende, die Idee der Ideen, das in jeder Idee notwendig als vorhanden zu Denkende, der Logos. Die Vernunft ist nicht Instrument des Menschen, Werkzeug, mit dessen Hilfe der Mensch die Mängel seiner organischen Existenz in Chancen seiner Daseinsfristung umarbeitet, sondern der Mensch selbst, als vernunftbegabtes, denkendes Wesen, ist Geschöpf der Vernunft, die Vernunft ist die Wahrheit des Menschen. Die Würde der Vernunft liegt nicht in ihren guten Diensten für den Menschen, ihrem Nutzen oder ihrer Anwendbarkeit. Sie bedarf nicht des Glaubens als eines bloßen Fürwahrhaltens, der Anerkennung oder Inthronisation durch den Menschen, denn sie ist, was sie ist, durch sich selbst. Vernunft glaubt nicht, sie weiß und ist sich ihrer selbst gewiß. Poppers Glaube an die Vernunft ist ein Köhlerglaube, seine Herleitung der Vernunft aus sozialen Beziehungen verletzt die Würde der Vernunft und die Würde des Menschen, der kraft seiner Begabung am Logos, d. h. an der göttlichen Vernunft, teilhat.
§ 2 Die Reduktion des Wissens auf die Erfahrung
Nach Popper lernt die Vernunft aus der Erfahrung. Diese Hypothese impliziert eine dualistische Auffassung vom Sein, nämlich ein irgendwie gedachtes, vorgestelltes, inneres oder hypothetisches Sein und ein wirkliches, erfahrbares, äußeres und objektives Sein. Die Erfahrung, so interpretieren wir Popper, vermittelt zwischen beiden und gleicht unsere Vorstellungen an die Wirklichkeit, an die Fakten oder Tatsachen an. Die an die Tatsachen voll angeglichenen und angepaßten Vorstellungen sind auf Erfahrung reduziertes Wissen.
Angepaßtes Denken, angepaßte Vorstellungen, angepaßtes Wissen führen zur Anpassung des sozialen Verhaltens, d. h. zur Dressur oder Manipulation des Menschen. H. Marcuse hat diese Seite des Neopositivismus mit Recht schärfster Kritik unterzogen.8
Denken ist nicht Reflektieren wahrgenommener Erscheinungen äußerer Dinge. Im Denken ist nichts, was nicht aus ihm selber stammt. Die Schöpfungen und Gegenstände des Denkens sind Begriffe, die es in Urteilen und Schlüssen systematisch miteinander verknüpft und zu neuen Begriffen „synthetisiert“. Das Denken, die Begriffsbildung ist Weltschöpfung und fortwährende Um- und Neuschöpfung, die Vernunft, der Logos Weltenschöpfer. Was das Denken erfährt, sind immer nur seine eigenen Gedankenschöpfungen. Wenn John Locke behauptet: „Nichts ist im Verstande, was nicht in den Sinnen war“, so ist ihm mit Leibniz entgegenzuhalten: „Nichts ist in den Sinnen, was nicht im Verstande war“. Unsere Sinne sind Organe des Geistes, Instrumente der Vernunft. Ihre Funktion ist die Versinnlichung, der „Ausdruck“ der Gedanken, die im Denkprozeß „gebildet“ werden, also Gestalt, Denkgestalt annehmen und so im Geiste als “Bild“ veranschaulicht werden. Erst was im Geist angeschaut, drückt sich im Handeln aus, wird mit Hilfe unseres Willens und unserer Sinnesorgane in Körperlichkeit und Stofflichkeit transponiert, wird zuerst durch das Medium der Sprache lautbar und hörbar, wird materiell, verleiblicht, einverleibt, „organisiert“. Materie ist Organ des Geistes, Baumaterial, außerhalb des Geistes, nicht geschaffen von ihm, gibt es keine „Welt“, gibt es keine „Natur“.9 Was wir mit unseren Sinnen erfahren oder wahrnehmen, d. h. für wahr nehmen, sind unsere eigenen, in die Körperwelt transponierten Gedankenproduktionen, ‑aufzeichnungen, ‑bilder. Auch die Natur trägt die Signatur des Geistes10, jedes Element, jeder Stern am Himmel über uns muß, um wahrgenommen zu werden, um für uns wesentlich zu werden, Teil unseres Gedankensystems sein. Wäre die Natur nicht verleiblichter Geist, wir könnten sie weder denken noch erkennen.11
Wenn wir dennoch durch Erfahrung lernen, so liegt das an der Unzulänglichkeit des menschlichen Denkens, der menschlichen Erkenntnis, der Unvollständigkeit der Urteile und Schlüsse, der Kraftlosigkeit im Synthetisieren, d. h. im Verknüpfen der Gedanken zur Einheit und Geschlossenheit des Weltbildes, in fehlender Vertiefung und Vereinigung der Gedanken. Durch leidvolle und schmerzliche Erfahrung werden wir dieses Mangels gewahr, aufgefordert und angespornt, den Denkvorgang zu wiederholen und fortzubilden, bis die Synthese gelungen und die Identität unserer Gedanken mit dem Logos, mit der Vernunft hergestellt ist. Unser Denken ist Teilhabe am Logos und nicht ein Anpassen an die durch die Sinne wahrgenommenen Erscheinungen äußerer Dinge. Vielmehr sind die Erscheinungen Ausdruck unseres Denkens12. Wenn wir ein Ding ansprechen und z. B. sagen: dies ist ein Baum, so müssen wir bereits vor der Sichtung und Bezeichnung dieses konkreten „Dings“ als Baum wissen, was ein Baum ist.
§ 3 Die Blindheit der Vernunft
Die Vernunft als Produkt der sozialen Beziehungen, des gesellschaftlichen Verkehrs, des Austausches von Meinungen, ist nichts Notwendiges und Gewisses, sondern Zufälliges und Ungewisses. Als bloß Zufälliges und Ungewisses wäre sie für uns unerkennbar. Nur denknotwendige Erscheinungen sind vernünftig. Wo der Begriff der Vernunft fehlt, können alle Handlungen und Tatsachen als Erzeugnisse sozialer Prozesse den Anspruch erheben, vernünftig zu sein, auch Auschwitz, der Vietnamkrieg, die Hochbauten New Yorks, die Verstopfung der Städte und die Vergiftung der Umwelt. Die Vernunft wäre dann, wie eben bei Popper, mit Blindheit geschlagen.
§ 4 Die Beschneidung der Wissenschaft und die Vorläufigkeit der Wahrheit
Für Popper ist die Wissenschaft eine Ansammlung von Hypothesen über Ereignisabläufe (= Theorien), die durch unsere bisherigen Beobachtungen und Erfahrungen von Tatsachen noch nicht widerlegt sind, gleichwohl widerlegt werden können. Damit wird der Bereich dessen, was wir wissen können, auf den Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen beschränkt und die Vorläufigkeit der Wahrheit behauptet.
Diese Beschränkung der Wissenschaft auf Theorien über den Bereich des sinnlich erfahrbaren, beobachtbaren Seins ist willkürlich.13 Die Hypothese Poppers, derzufolge Wissenschaft die durch Beobachtung und Experiment überprüfbare und überprüfte Theorie sei, ist selbst nicht durch Beobachtung und Experiment überprüfbar oder ”falsifizierbar“. Sie widerspricht sich selbst. Die Begründung der Wissenschaft hängt damit in der Luft. Eine „Spielregel“ oder Konvention für das, was Wissenschaft zu sein hat, ist kein ausreichendes Konstitutionsprinzip der Wissenschaft.
Ebenso widerspricht sich der Satz von der Vorläufigkeit der Wahrheit. Gilt dieser Satz immer und überall, dann ist er nicht bloß vorläufig, sondern ewig wahr. Es gibt also das, was wir ewige Wahrheit nennen. Die Hypothese von der Vorläufigkeit der Wahrheit ist also logisch nicht haltbar, weil sie sich widerspricht. Es muß notwendig eine Wahrheit gedacht werden, die immer und überall gilt und damit von allen sich wandelnden Gegenständen unserer Erfahrung in Raum und Zeit absieht, also apriori aller Erfahrung und in diesem Sinne ”rein” und spekulativ ist. Das Wissen um die Notwendigkeit der „reinen“ Wahrheit ist ein Wissen, das nicht aus der Sinneserfahrung schöpft und sich nicht auf Ereignisabläufe als seinen Beweis bezieht. Von ihm, diesem „reinen” Wissen allein ist Wissenschaft möglich. Wissenschaft ist das, was not-wendig gedacht werden muß.14 Das, was als notwendig gedacht werden muß, ist in Wahrheit und in Wirklichkeit.15 Alles übrige, auch die Erfahrung, ist Zufälligkeit und Schein, von dem es keine Wissenschaft gibt. Was aber in Wahrheit und Wirklichkeit ist, weil es notwendig gedacht werden muß, ist logisch oder vernünftig.16 Darauf, auf der Einerleiheit von Denken und Sein (= notwendiger Wirklichkeit) gründet alle „Wissenschaft”.17
§ 5 Die verkannte Natur des Begriffes
Der Begriff ist kein Etikett, das irgendwelchen zusammengeschneiten und aufgeschütteten Erfahrungstatsachen umgehängt wird, keine griffige „Wortmarke”, unter der Tatsachen auf dem Markte der Wissenschaft gehandelt, ausgetauscht und verkauft werden. Solche Etikettierung würde keine Anstrengung der Wissenschaft erfordern, sondern höchstens Übereinkunft über die verwendeten Etiketten. Die Wissenschaft hat jedoch die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen, denn der Begriff allein ist ihr Objekt. Ohne Begriff gäbe es keine Wissenschaft, ohne Begriffe kein Denken!
Es ist nicht einmal denkbar, auf das Denken und die Begriffe zu verzichten und nur „die Tatsachen für sich sprechen zu lassen“, denn ohne Begriffe „sprechen“ die Tatsachen nicht. Es sind nicht die Tatsachen und Erfahrungen, die die Begriffe schaffen, sondern die Begriffe schaffen die Tatsachen und Erfahrungen, bestimmen ihre Ordnung und ihren Zusammenhang. Immer ist es der Verstand, der der Natur ihre Gesetze vorschreibt.18
Tatsachen und Erfahrungen sind überhaupt nur Tatsachen und Erfahrungen als Manifestationen oder Erscheinungen von Begriffen. Sie haben niemals ihren Zweck und ihre Wahrheit in sich. Als einzelne Tatsachen und Erfahrungen sind sie gleichgültig. Erst als Ausdruck von Begriffen erhalten sie Gültigkeit und Beurteilung.
Ist der Begriff Gegenstand des Denkens und bestimmt das Denken das Handeln und sind Handlungen Tat-Sachen, so folgt daraus, daß der Begriff kein gleichgültiges Etikett ist, das wir nachträglich bestimmten Tat-Sachen umhängen, sondern daß er selbst diese Tat-Sachen fordert, schafft und ordnet. Der Begriff ist der Weltschöpfer (Fichte), er verurteilt und zerbricht die Tatsachen, die ihm entgegenstehen. Er hat umstürzenden Charakter.
Indem Popper in Konsequenz seines Neopositivismus die Gleichgültigkeit des Begriffs gegenüber den Tatsachen behauptet und diesen allein Wahrheit zuerkennt, leugnet er diese umstürzende Natur des Begriffs. Sein Denken ist affirmativ. Der Positivismus beurteilt nicht die Welt, in der wir leben, sondern er bestätigt sie. Gleichzeitig brandmarkt er Begriffe, die sich zu diesen Tatsachen kritisch verhalten und ihnen widersprechen, als metaphysische Spekulation, Irrationalismus und Romantizismus. Er verkürzt und verstümmelt das Denken, um es an die Tatsachen, an die gegebene Gesellschaft und ihre Verhältnisse, die er unbefragt läßt, anzupassen.
§ 6 Die unterdrückte Bedeutung der Sprache
Popper beschränkt die Funktion der Sprache auf die Kommunikation. Als Kommunikationsmittel ist sie Instrument zur Nachrichtenübermittlung und zum Erfahrungsaustausch. Um diese instrumentale Funktion zu erfüllen, soll sie rational und in jede andere Sprache übersetzbar sein.
Diese Beschränkung der Sprache auf die Kommunikation von Nachrichten über Erfahrungstatsachen, der Versuch, sie an diese Funktion voll anzupassen, sie zu „rationalisieren“, verwandelt den Charakter der Sprache in stereotypische und hypnotische Formeln, verkürzt die Syntax zur Lehre von der Wirksamkeit gesprochener Schlagzeilen, verwendet Possessivpronomen, um eine falsche Vertraulichkeit herzustellen, kombiniert bestimmte Adjektiva mit bestimmten Substantiva, um Eigenschaften und Urteile zu suggerieren (z. B. „technischer Fortschritt“), ohne ihre Bedeutung kritisch zu hinterfragen oder ihre moralische Qualität zu beurteilen (z. B. „saubere Bombe“). Die Sprache verliert die Fähigkeit zur Rede. Sie wird zum Vehikel der Gleichschaltung und Anpassung an die Tatsachen. An die Stelle des Urteils tritt die Aufzählung, an die Stelle der Deutung die Information, an die Stelle der Überlegung die Emotion. Die Sprache dringt nicht mehr zum Verständnis der Tatsachen und zur kritischen Beurteilung ihrer Bedeutung, ihrer Ursachen und ihrer Verhältnisse zu anderen Erscheinungen vor. Durch die operationelle Sprache und den operationellen Begriff, die wiedergeben, was ist, wird die Spannung zwischen Sein und Sollen, Erscheinung und Wirklichkeit, Wirkung und Ursache, Besonderem und Allgemeinem aufgehoben, die Spannung, von der die Rede lebt. Die Sätze enthalten keine Aussage mehr, denn das Subjekt wird in seine Prädikate aufgelöst, es hat keine eigene Substanz, keine eigene Wirklichkeit mehr, die es von seinen Prädikaten nicht nur grammatikalisch, sondern logisch und ontologisch unterscheidet. Das Subjekt wird „fixiert“, festgelegt auf bestimmte Zustände und Funktionen. Andere werden ausgeschlossen. Das Subjekt hat keine, von seinen jeweiligen Zuständen und Tätigkeiten getrennte, eigene Existenz. Es ist nicht mehr die Synthese dieser verschiedensten, sich manchmal widersprechenden Funktionen und Zustände, die es in sich aufhebt. Es ist nicht „mehr“ als seine Prädikate, nur noch ihre willkürliche Abkürzung. Daher auch die von Popper behauptete Identität und Ersetzbarkeit von Definiens und Definiendum, seine Abqualifizierung des begrifflichen Denkens als „Wortklaubereien“.
Die auf die Kommunikation von Tatsachen reduzierte Sprache verliert die Fähigkeit zur Aufdeckung des „Frag-Würdigen”, zur Darlegung der Widersprüche und Spannungen zwischen Sollen und Sein, zwischen Idee und Erscheinung. Sie wird sprachlos, stumm. Sie kommuniziert die Tatsachen und akzeptiert sie, indem sie sie, ohne sie zu hinterfragen, kommuniziert. Sie wird zum Komplizen der Repression des Denkens.19
§ 7 Die “offene”, weil repressive Gesellschaft
Die „offene” Gesellschaft, die Popper mit der Brille des Rationalismus sowohl erkennt als fordert, ist die moderne Industriegesellschaft. Sie hat ihren Mitgliedern nichts zu bieten außer Arbeitsplätzen. Die Beziehungen der Mitglieder zueinander beschränken sich auf das Ineinandergreifen von Funktionen. Am gesellschaftlichen Leben nehmen sie teil wie eine Maschine, wie ein Computer am Arbeitsprozeß eines Industriebetriebes: Sie werden ebenso vernutzt, abgeschrieben und, wenn sie nicht mehr funktionieren, ausgeschieden.
Diese Industriegesellschaft ist ”offen“ für alle, die sich ihr einpassen wie abgedrehte Bolzen in vorgebohrte Löcher. Farbe, Herkommen (Fremdarbeiter), geistige Interessen, persönliche Bindungen sind gleichgültig, wenn sie die Funktionserfüllung nicht stören. Anpassung wird belohnt durch zusätzliche Belastung mit weiteren Funktionen, die Konkurrenz, das heißt der gegenseitige Kampf der Funktionsträger untereinander, wird wachgehalten. Krieg (Kampf, Sieg, Niederlage, Waffenstillstand, Okkupation, Annexion) oder Gleichgültigkeit („friedliche Koexistenz”) liefern die Verhaltensschemata der Individuen, der Parteien, der Industriekonzerne und der gesellschaftlichen Gruppierungen.
Die offene, abstrakte, ”rationale“, verwissenschaftlichte Industriegesellschaft bietet keinen, von der Arbeitswelt unterschiedenen geistigen Lebensraum, kein Feld für geistige, zwecklose, gesellschaftlich relevante und anerkannte Aktivität. Sie hält sich Künstler, Literaten, Geisteswissenschafter, Anarchisten, Idealisten, Utopisten wie exotische Vögel in den Käfigen der Spießbürger oder in zoologischen Gärten, sorgsam ausgesperrt vom wirksamen Einfluß auf die Arbeitsstruktur und Arbeitswelt. Sie ist tolerant bis zum Exzeß, wo sie die Kontrolle ausübt oder die Tore verschlossen hält. Der Einzelwille, die Konsumwahl ist frei, denn die Großzahl wird zum Massenbedarf, der isolierte freie Einzelwille hat keine Qualität, er wird in Quantität “umgeschlagen“. Ohne den geistigen, gesellschaftlich relevanten Lebensraum erkennt sich der Einzelne nicht im Denken, sondern in seinen Funktionen, die er erfüllt und in den Produkten, die er kauft.
Mit der im Kontext ausgesprochenen Diffamierung jener Gesellschaft, die ihren Mitgliedern geistigen Lebensraum und sinnvolle Betätigung bietet, ihren kulturellen Erbbesitz wahrt und vertieft, die ihre eigenen Kulte feiert, ihren Dichtern huldigt und die alten Lieder singt, deren Mitglieder ihr Leben zum Fest und ihre Arbeit zur Freude machen, mit der Diffamierung und Verhöhnung dieser Gesellschaft als „geschlossene“, magische, tabuierte, irrationale Stammesgesellschaft oder Horde, will Popper eine Öffnung erreichen, die die Widerstände abbaut, die der universalen Geltung von Technologie, Industrie, Verwaltungs- und Militärbürokratie heute noch im Wege stehen. Seine geforderte Gesellschaft ist „offen“, weil wertentleert und repressiv.
§ 8 Die Dressur des Menschen durch die Sozialtechnik
Die Sozialtechnik der Einzelprobleme, die Popper vorschlägt, soll durch Experimente, durch „Versuch-und-Irrtum“ zu einer empirischen Sozialwissenschaft entwickelt werden, die sich „stückchenweise“ an die Lösung von Einzelproblemen herantastet und mithilft, das Leid in der Welt zu minimieren.
In der Tat, „Sozialtechnik“ erscheint für diese Auffassung der Sozialwissenschaft ein treffend gewählter Ausdruck, der ihren instrumentalen, therapeutischen und manipulativen Charakter ohne Umschweife preisgibt. Im Gefolge dieser Auffassung ist für jedes soziale Einzelproblem, oder besser für jede Einzelaufgabe, eine verwirrende Vielfalt von Stückwerkswissenschaften entstanden, die auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können: die Dressur des Menschen. Sozial‑, Betriebs‑, Werbepsychologie, Demoskopie, Politologie, Mediaanalyse, Motivforschung, human and social engineering, public relations sorgen für „Charakterwäsche“ 20, psychische Hygiene, brain washing, „head shrinking“, re-education und die Behebung individueller Anpassungsschwierigkeiten. Ihr Zweck ist so klar wie ihre in Geschäft, Politik und Strategie gleichzeitig engagierten Auftraggeber offensichtlich sind. Zusammen mit den Massenmedien schaffen sie die Tatsachen, die ihnen die empirische Wissenschaft bestätigt. Im „Ersten Kreis der Hölle“ unterscheiden sich die Methoden zwischen „Demokratie“ und „Diktatur“ wie Nervengift von Faustschlag.
Um ganz klar zu sein: Eine empirische Sozialwissenschaft ist eine contradictio in adjecto. Wissenschaft beruht auf Denknotwendigkeit ihrer Erkenntnisse. Die Empirie bringt es immer nur zur Wahrscheinlichkeit ihrer Aussagen. Die Sozialwissenschaft kann nicht experimentieren: Experimente mit dem Menschen sind Verbrechen. Die Sozialwissenschaften sind keine empirischen, sondern sie sind normative Wissenschaften. Ihre Fragestellungen und erst recht ihre Antworten sind „value loaded“ (G. Myrdal21). Die wertfreie Sozialwissenschaft, der Wunschtraum der Liberalen, verlangt das Bekenntnis zum Wert der Wertfreiheit und ist damit selbst schon normativ. Dieses Bekenntnis ist immer assoziiert mit hedonistischer Individualethik (bei Popper „Leidminimierung“ als Nuance zur Lustmaximierung), utilitaristischer Gesellschaftsauffassung und positivistischer Methode.
Auf die Sozialwissenschaften selbst angewendet, wird die Wertfreiheit zum Alibi, jedem Interessenten für jeden beliebigen Zweck zu dienen. Mit der Wertfreiheit beginnt die Prostitution der Sozialwissenschaft.
Im klassischen Dreigestirn von Logik, Ethik und Physik waren die politischen und sozialen Wissenschaften stets der Ethik zugeordnet und damit an die Bestimmung des Menschen und seiner Gemeinschaft gebunden. Sie waren nicht Soziotechnik, sondern Teil der Humanwissenschaften mit der Aufgabe, die Sittlichkeit und Freiheit des Menschen als das Vernünftige und Denknotwendige zu erweisen und danach die sozialen Verhältnisse und Tatsachen zu beurteilen.
Die soziotechnischen Stückwerkswissenschaften sind, weil sie die Folgen ihrer Experimente und Empfehlungen für den ganzen Menschen und die ganze Gesellschaft nicht bedenken und beachten, notwendig antihuman22. Ein Beispiel: Gegen die prognostizierte Bevölkerungsexplosion empfiehlt die Soziotechnik der Einzelprobleme die Geburtenbeschränkung und entwickelt hierfür eine ganze Reihe von Programmen, einschließlich Legalisierung der Abtreibung und der freiwilligen Sterilisation. Abgesehen von den schweren und verantwortungslosen Eingriffen in die psychische und physische Struktur ihrer Opfer, übersieht sie dabei geflissentlich, daß die Gründe für die Gefährdung der Welt viel tiefer liegen und die Bevölkerungsexplosion nur ein Symptom dieser Gefährdung ist, dessen Bekämpfung die Gesamtgefährdung nicht vermindert. Bereits vor mehreren Jahrzehnten wurde ein sehr einfaches, mathematisches Modell oder „System“ konstruiert, das mit wenigen Variablen und den zwischen ihnen vermuteten Abhängigkeiten versucht, ”die Zukunft in den Griff zu bekommen“. Es beschränkt sich auf verschiedene Annahmen über Bevölkerungszuwachs, Kapitalinvestitionen, verfügbare Rohstoffvorräte und Umweltvergiftung. Indem verschiedene Annahmen oder Szenarios zusammengestellt werden, gestattet das Modell oder „System“ eine Reihe von wahrscheinlichen Abläufen zu simulieren. Die erste Simulation nimmt eine starke Abnahme der Rohstoffvorräte an, die dazu führt, daß die Weltbevölkerung spätestens 2020 – bei deutlicher Minderung des Lebensstandards – absinken muß. Werden ausreichende Rohstofflager gefunden, so nehmen die Investitionen und der Lebensstandard rasch zu, jedoch erreicht die Umweltvergiftung ein Ausmaß, dem zwischen 2030 und 2070 vier Fünftel der Menschheit zum Opfer fallen werden. Wird die Geburtenrate ab sofort (1970) um 30 Prozent vermindert, so wird der etwas höhere Lebensstandard pro Kopf (der in den Entwicklungsländern sehr rasch wieder eine Anhebung der Geburtenrate zur Folge haben wird) kaum etwas an der Ausbeutung der Naturschätze, den Industrieinvestitionen und der Umweltvergiftung ändern. Das angegebene Resultat bleibt gleich: Die Beschränkung der Geburtenrate mindert nicht die Gefährdung. Der Verfasser, der über die Rechenmodelle berichtete, kam zu dem Schluß, daß „Einzelmaßnahmen scheinbar humanitären Inhalts (z. B. weltweite Geburtenkontrolle oder verstärkter Kapitaleinsatz) ohne Kombination mit anderen Maßnahmen vielfach letzten Endes zu einem inhumanitären Ergebnis führen“.23
Die von Popper so verfemte und hier am Beispiel des Systems dargestellte “Ganzheitsplanung“, die, unbestritten, einen Gesamtumbau, eine Reformation und Reformierung der Gesellschaft fordert, ist weit harmloser als Küretten, Skalpelle und Hormonpräparate. Ihre Wirksamkeit beruht auf dem „sanften Gesetz“ der Überzeugungskraft ihrer Ideen. Ist ihre Kraft ausreichend, dann durchdringen sie alle Lebensgebiete und Gemeinschaften und wahren so deren Verbundenheit und Einheit, anstatt ihren Verfall und ihre Auflösung zu fördern.24
§ 9 Der Verlust der Gerechtigkeit durch die Gleichheit
Reduziert man Poppers noch aus der Französischen Revolution stammende Wertvorstellungen und Losungen – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – auf ihren inhaltlich dürftigen Kern, so bleibt die Gleichheit in der Verteilung der Lasten und der Vorteile aus der Staatsbürgerschaft als Gerechtigkeitsprinzip übrig.
Es gibt kein Gesetz, durch das nicht eine Klasse gegenüber anderen Klassen begünstigt würde. In den meisten Staaten sind die Lasten – über die progressive Einkommensteuer – ebenso wie die Vorteile aus den Sozialeinrichtungen sehr ungleich verteilt. Verstoßen darum alle Staaten gegen die als Gleichheit aufgefaßte Gerechtigkeit?
Gerechtigkeit, was immer sie sonst noch sein mag, ist ein Prinzip der gesellschaftlichen Wertfeststellung, und die ist immer Feststellung von Ungleichheit. Der gesellschaftliche Wert einer Handlung, einer Institution oder Person ist umso höher und „ausgezeichneter“, einen je entscheidenderen Beitrag für die Erreichung des Zwecks der Gesellschaft, das bonum commune, sie liefern. Wie immer dieser Begriff inhaltlich bestimmt wird25 – z. B. als Wohlfahrt, technischer Fortschritt, Naturbeherrschung, Menschenrecht, Humanität, Sittlichkeit, das „Heilige“, Stammvater, Gott usw. – ist hier gleichgültig. Wesentlich ist nur, daß die Gesellschaft in Anwendung des Prinzips der Gerechtigkeit die Verdienste um die Erreichung ihres wie immer gearteten Zwecks unterschiedlich und niemals gleich bewertet. Die gleiche Bewertung ungleicher Handlungen und Verdienste würde die größte Ungerechtigkeit bedeuten: Das Versagen vor einer Aufgabe würde dann ebenso bewertet wie die Bewährung, die Tapferkeit ebenso wie die Feigheit, die Trägheit ebenso wie der Fleiß.
§ 10 Kontrolle als demokratische Tünche der Machtverhältnisse
Es ist Popper zuzugeben, daß Demokratie keineswegs Volksherrschaft bedeutet und das Volk noch in keinem praktischen Sinn je regiert hat. Aber seine Auffassung von der Demokratie als Institution zur Kontrolle und Absetzung der Herrscher durch allgemeine Wahlen, Pressefreiheit, Beschränkung der ökonomischen Macht und Ablehnung aller Autoritätsansprüche, erscheint angesichts der Entwicklung der westlichen Parteiendemokratien weltfremd26. Demokratie heißt dort Herrschaft der politischen Parteien. Politische Parteien sind Verbündungen, die sich die Ausübung und Exploitation der staatlichen Macht zur Durchsetzung der von ihnen vertretenen Ideen oder zum Vorteil ihrer (führenden) Mitglieder und Financiers zum Ziel setzen. Prinzipiell unterliegen sie keiner Beschränkung: Sie üben sowohl die gesetzgebende wie die exekutive Gewalt aus, sie regieren und verfügen über parlamentarische Mehrheiten, selbst die höchstrichterliche Gewalt wird von ihnen weitgehend mittelbar (über die Justizverwaltungen) oder unmittelbar (über die Besetzung der Richterposten) usurpiert. Ihre innere Verfassung ist nicht demokratisch, sondern oligarchisch27. Mit dem Eindringen des Staates in die Wirtschaftsverwaltung werden sie zum Auftrag- und Brotgeber nicht nur ihrer Anhänger und der staatlichen Beamten, sondern auch eines guten Teils der Arbeitnehmer und der Industrie. Ihre politische und wirtschaftliche Macht gibt ihnen Mittel an die Hand, mit denen sie die öffentliche Meinung, repräsentiert durch die Massenmedien, stärkstens beeinflussen. Angesichts dieser Machtkonzentration sind die gewährten und verfassungsmäßig garantierten Individualrechte (Wahlfreiheit, Meinungsfreiheit, Kritikfreiheit, Lehr- und Forschungsfreiheit, Erwerbsfreiheit, Koalitionsfreiheit etc) materiell gegenstandslos, suspendiert Die einzige Schranke der Parteiallmacht sind die Gegen- oder Oppositionsparteien, die alles das kritisieren, was sie selbst zu tun gedenken, wenn sie durch „freie“ Wahlen, sprich: massivsten Einsatz der Wahlkampfmittel, an die Macht gelangen. So wenig also die Demokratie je Herrschaft des Volkes gewesen ist, so wenig ist die Kontrolle der Herrscher durch die Beherrschten von den modernen Parteidemokratien verwirklicht. Die Vorschläge Poppers sind höchstens Palliativa. Eine effektvolle Kontrolle wird wohl nur dann durchführbar werden, wenn es zahlenmäßig bedeutende, von den Parteien unabhängige, autonome Körperschaften und Bevölkerungsschichten gibt, die den Parteien unbestraft Paroli bieten können. Insofern ist das sich heute in den meisten Demokratien ausbreitende Verbändewesen nicht nur zu begrüßen, sondern in seiner ordnungspolitischen Bedeutung als Ansatz wahrer und wohlverstandener Demokratie zu würdigen und zu stärken.28 Doch gerade das Verbändewesen wird von den Vertretern der „Großen Ideen des Jahres 1789“ mit aller Schärfe bekämpft. Sie fordern in totalitärer und egalitärer Weise „Ein Volk, Eine Regierung“, eine Forderung, die die östlichen Volksdemokratien sehr buchstäblich erfüllt haben.
§ 11 Zeit ohne Geschichte, versteinertes Leben
Das Postulat von der Sinnlosigkeit der Geschichte ist logische Konsequenz des positivistischen Denkansatzes. Von diesem Ansatz her kann es für geschichtliche Ereignisse keine rationale Theorie geben, die sich falsifizieren ließe. Geschichtliche Ereignisabläufe sind einmalig, unwiederholbar, sie folgen keinem physikalischen Naturgesetz, durch das sie eindeutig determiniert wären. Für den Positivismus ist Geschichte daher ex definitione irrational; geschichtliche Ereignisse sind der wiederholten Beobachtung, dem Experiment und damit der wissenschaftlichen Forschung nicht zugänglich.
Die Verdrängung und Abqualifizierung der Geschichte ist Selbstverteidigung des Positivismus. Geschichte ist Erinnerung an Vergangenes und Erwartung des Künftigen. Das hat ontologischen Bezug: Nicht-mehr-Seiendes und Noch-nicht-Seiendes sind und wirken. Wenn aber Nicht-mehr- und Noch-nicht-Seiendes in der Gegenwart sind und wirken, dann muß notwendig eine andere Seinsschicht angenommen werden als jene, welche die präsente Tatsachenwelt allein umschließt. Dann hat das Sein Ge-Schichte, ist geschichtet, mehrdimensional. Geschichtliches Bewußtsein ist dialektisches Bewußtsein katexochen. Es deckt Unterschiede und Widersprüche auf zwischen dem, was ist und dem, was war, zwischen den herrschenden und den erhofften Zuständen und Verhältnissen. Solche Unterschiede und Widersprüche brechen die Gegenwart auf, sie relativieren sie: Der Absolutheitsanspruch der gegenwärtigen Tatsachenwelt wird zurückgewiesen. Geschichtliches Bewußtsein wird so zum stärksten und unbezwinglichen Gegner des Positivismus .
Durch die Aussperrung der Geschichte aus Wissenschaft und Bewußtsein erhält die Zeit eine rein technisch-physikalische Bedeutung. Diese technisch-physikalische Zeit hat keine Geschichte, sie läuft ab wie das Fließband. Sie ist in gleiche, unendlich kleine Einheiten oder Momente teilbar, die in endloser Monotonie aufeinander folgen. Sie kennt keine unterschiedlichen Zeitqualitäten, keine Höhepunkte und Spannungen, keine Jugend und kein Alter, keine Saat‑, Reife- und Erntezeiten. Sie ist das völlig Leere und Sinnlose, ohne Ende und Anfang, ohne Ursprung und Ziel. Sie enthält keinerlei Leben, sie ist das Unlebendige schlechthin, das immer schon Tote. Keine Hoffnung erlöst sie, sie ist nur mechanischer Ablauf, Abspulung.
Diese technisch-physikalische, in gleiche, monoton aufeinander folgende Einheiten zerlegte, leere Zeit wird zum Maßstab der Geschwindigkeit und der Beschleunigung von Bewegungen der Gegenstände im Raum, d. h. zum Maßstab des sehr buchstäblich zu nehmenden Fortschritts. Der durch die technisch-physikalische Zeit gemessene Fortschritt heißt mit gutem Recht „technischer Fortschritt“: Beschleunigung, Erhöhung der Geschwindigkeit ist sein Inhalt. Fortschritt ersetzt Geschichte.
Der zutiefst ahistorische Zug, die Ersetzung der Geschichte durch den monoton beschleunigten Fortschritt, die Progression ins Unendliche, ohne Ziel, ist das entscheidende Charakteristikum des industriellen Zeitalters, d. h. der durch die industriell-technischen Interessen und Sachzwänge bestimmten und beherrschten Zeit.
Dieses technisch-industrielle Zeitalter hat sich bis zur Ausschließlichkeit mit dem Anorganischen eingelassen, dem Leblosen, Toten. Es züchtet Denkformen und geistige Einstellungen, die der Welt des Anorganisch-Leblosen, Mechanisch-Technischen, des Monotonen verwandt sind. Die Ideologie dieses technisch-industriellen Zeitalters fordert die Zurückdrängung der organischen, lebendigen Welt, dieses ständigen und lästigen Mahners, und ihre Ersetzung durch technisch-artifizielle Industrieerzeugnisse. Eine Pseudoreligion kommt auf, die dem Menschen einredet, er sei ganz frei nur dort, wo er sich mit einer Welt umgibt, die von ihm selbst auf technisch-künstliche Weise gemacht ist. Diese Ideologie affiziert die Moral: Gegenüber der anorganischen Natur, ihrer Erkenntnis und Ausbeutung gibt es von vornherein keine moralischen Hemmungen, nur technische Grenzen.29
Die Haltung der Technik gegenüber der Natur wird auf das Zusammenleben, auf die Gesellschaft übertragen: Frei von moralischen Hemmungen feiert der Eigennutz, das Machtstreben, die Verantwortungslosigkeit, die Härte und Rücksichtslosigkeit, die Welt ohne Liebe Triumphe. Gleichzeitig zeigt sich eine Ausbreitung der mechanisch-funktionellen Organisation, zunehmende Starrheit, Vereinzelung, Isolierung, Uniformierung und Vermassung. Die Zurückdrängung der organischen Natur – man denke nur an unsere Großstadtwüsten –, die Ersetzung der Geschichte durch die tote Zeit, versteinert Leben und Kultur. Erst in dieser versteinerten Kultur hat Geschichte keinen Sinn. Aber auch diese Versteinerung der Kultur ist die zeitliche Erscheinung der in der Gesellschaft herrschenden Denkformen und Denkeinstellungen, auch sie enthüllt die „kulturprägende Macht des Verfahrens“ 30, also des methodischen Weges, den das Denken zur Weltansicht einschlägt und welcher Weg eben die Resultate des Denkens bestimmt. Der Positivismus als Methode zeugt die Welt des Todes:
- die Welt ohne die sich selbst bewegende Vernunft,
- die Welt ohne Wahrheit und lebendige Wissenschaft,
- die Welt, die ihren Verstand, weil ihre Begriffe, verloren hat,
- die Welt ohne „Über-Zeugung” der Rede, ohne Aussage,
- die Welt ohne Hoffnung auf Alternativen,
- die Welt des Inhumanen, des Experiments mit dem Menschen,
- die Welt ohne Sittlichkeit, in der Eigennutz und Härte triumphieren,
- die Welt ohne Wert und ohne Liebe,
- die Welt ohne Geschichte, ohne Kultur, ohne die Epiphanie des Logos,
- die Welt ohne Einheit und Ganzheit.
Erstdruck unter dem Titel „Neopositivismus und Ganzheitslehre. Eine Auseinandersetzung mit K. Popper“, in: J. H. Pichler (Hrsg.): Festschrift für W. Heinrich zum 70. Geburtstag. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1973, S. 79–105. Eine popularisierte Fassung wurde veröffentlicht unter dem Titel: „Karl Popper und die Folgen. Eine Philippika angesichts von Politik und Gesellschaft heute“, in: DIE PRESSE, 14./15. Juli 1984, Spectrum, S. I–II.
*Friedrich Romig, geboren 1926 in Königsberg, Studium in Wien, 1967 Habilitation für Volkswirtschaftstheorie und ‑politik, Gastdozent in Aachen und Graz, Privatdozent der Wirtschaftsuniversität Wien, bis 1986 in der Industrie tätig, Träger des Kardinal-Innitzer-Preises und des Goldenen Ehrenzeichens der Republik Österreich.
Zuletzt vom Autor bei Katholisches.info veröffentlicht:
- Der Missbrauch der Geschichte
- Rechtskatholizismus – Eine geistig politische Strömung
- Wunder über Wunder: Rom, „die ewige Stadt“
- Alta Vendita
- Hilaire Belloc: Die Feinde der Katholischen Kirche
- Augustin Cochin: Die Französische Revolution „satanique“
- Was läuft falsch?
- Über die Notwendigkeit des gewaltsamen Widerstandes gegen das Böse
- „Consummatum est“ – Léon Bloy: Das Heil durch die Juden
Bild: NBQ
1 Vgl. auch C. v. Schrenck-Notzing: Charakterwäsche. Die Politik der amerikanischen Umerziehung. München 1981.
2 Zur Einführung F. Romig: Die Rechte der Nation (Stocker, Graz 2002), insbesondere das Kapitel: Der Deutsche Idealismus, die Philosophie der Deutschen (S.148–174).
3 Dazu jetzt zusammenfassend R. Kosiek: Die Frankfurter Schule und ihre zersetzenden Auswirkungen, 6. Auflage, Hohenrain-Verlag, 6. Aufl. 2006.
4 A. Griesbach: Den Deutschen eine andere Seele einimpfen, in: Zur Zeit, Nr. 34/2005, S 18.
5 Wir zitieren aus Band II unter Voranstellung der Bandzahl. Zitate in Anführungszeichen sind wörtliche, andere nicht.
6 Die Paragrapheneinteilung im III. Teil korrespondiert mit jener im I. Teil.
7 Die Selbstsetzung und Sichselbstentgegensetzung des Ich zum ersten Grundsatz der Philosophie erhoben zu haben bleibt die unvergängliche Leistung Fichtes. Vgl. J. G. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. 1794, § 1 bis 3.
8 Vgl. H. Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Soziologische Texte, hrsg. v. H. Maus und F. Fürstenberg, 3. Aufl., Neuwied und Berlin 1968. Der Kritik Marcuses am Positivismus als Denkform der modernen Industriegesellschaft wird über weite Strecken auch dann beizupflichten sein, wenn man seine Idealvorstellung einer herrschaftsfreien Gesellschaft und seinen Kulturpessimismus nicht teilt.
9 „Welt“, „Natur“, „Materie“ sind selbst schon Begriffe und als solche Gedankenschöpfungen, „Synthesen“ des mannigfach Unterschiedenen.
10 Für Hegel ist die Natur die „Idee in ihrem Anderssein“ (d. h. äußerlich, endlich, zeitlich, unfrei, teilbar), „Darstellung der Idee“, „Manifestation des Geistes“ und als solche ist die „Natur wesentlich ein Ideelles“. In der Natur erkennt der Geist sein Wesen. Nur „dem sinnlichen Bewußtsein erscheint die Natur als das Erste, Unmittelbare, Seiende“; für den Geist ist jedoch die Idee das absolute Prius der Natur. G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830, zweiter Teil: Die Naturphilosophie, §§ 247 f. (Theorie Werkausgabe, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1970, S. 24 ff).
11 Die Natur als objektivierten Geist zu begreifen, mit diesem Gedanken hat Schelling den deutschen Idealismus bereichert. Vgl. dazu auch O. Spanns Darstellung und Würdigung Schellings im Philosophenspiegel. Die Hauptlehren der Philosophie begrifflich und geschichtlich dargestellt, 2. Aufl., 1950 (Neudruck als Band XIII der Gesamtausgabe der Werke von O. Spann, Graz 1970): „Die Naturphilosophie wird stets die größte Tat Schellings bleiben. Der tiefste Gedanke seiner Naturphilosophie: daß das im Menschen als Ich zum Bewußtsein kommende Geistige durch die ganze Schöpfung hindurchgegangen sei … “ (S. 248). „Dasselbe Ansich – heiße es das Absolute, Geist, Vernunft schlechthin, Urgeist oder Weltgeist – das den Setzungen des Ich zugrunde liegt … setzt sich auch in der Natur“. (S. 236).
12 Was die Erscheinung zur Erscheinung macht, was in ihr scheint, ist das (intelligible, ideelle) Wesen, das vom Begriff befaßt wird. Der Begriff ist Gegenstand des Denkens und als solcher Setzung des Ich. Über den Zusammenhang von Sein, Wesen, Begriff, vgl. G. W. F. Hegei: Wissenschaft der Logik (1812, 2. Ausg. 1834), (Suhrkamp, Theorie Werkausgabe, Berlin 1969), bes. Zweiter Teil: Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff.
13 Benedikt XVI.: Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen. Ansprache in der Aula Magna der Universität Regensburg vom 12. September 2006. Der Papst wendet sich in dieser Rede gegen die willkürliche, weil „selbstverfügte Beschränkung der Vernunft auf das im Experiment Falsifizierbare“, durch welche „der Radius von Wissenschaft und Vernunft“ unzulässig und sehr zum Schaden der westlichen Gesellschaften „verkürzt“ werde. Wo die Vernunft so verengt wird, daß „ihr die Fragen der Religion und des Ethos nicht mehr zugehören“, entstehen für den Zustand der Menschheit „gefährliche Pathologien der Religion und der Vernunft“. „Eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich der Subkulturen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen.“
14 Auf der Denknotwendigkeit ihrer Begriffe, Urteile und Schlüsse beruht „der sichere Gang der Wissenschaft“. Kant hat dies in der Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft“ (2. Aufl. 1787) mit aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen. Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1. Bd., Deutsche Bibliothek, Berlin, o. J., S.1–31.
15 Daß das notwendig zu Denkende auch wirklich ist, folgt aus dem Begriff der Notwendigkeit: Es ist unmöglich, das Nichtsein des Notwendigen zu denken, denn dann wäre das Gedachte nicht notwendig.
16 „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), Vorrede. Zitat nach: Hegels Schriften zur GeselIschaftsphilosophie, Teil I: Philosophie des Geistes und Rechtsphilosophie, hrsg. v. A. Bäumler, Slg. Herdflamme, Bd. 11, Jena 1927 S. 462.
17 „Von zweierlei hat man sich Rechenschaft zu geben. Daß nämlich das, was ist, in Wahrheit ist – und das, was nicht ist, in Wahrheit nicht ist“ (10). „Am frühesten stellt … Parmenides, der Eleat, die Frage nach dem Wissen um Sein und Nichtsein, welche dem abendländischen Menschen zu sich selber verhilft“ (9). Mit dem Satz: daß nämlich Denken und Sein dasselbe sind, stehen und fallen Erkenntnis und Wissenschaft überhaupt. „Das, was nicht ist, kannst du nimmer wissen, denn zu ihm steigt kein Pfad hinan… “ (Parmenides). Vgl. zu Vorstehendem L. Ziegler: Von Platons Staatheit zum christlichen Staat, Olten 1948, S. 9–14.
18 Vgl. Kant, a. a. O. S. 142f. Kants Gedankengang ist folgender: Die Natur ist Inbegriff aller Erscheinungen (natura materialiter spectata). Erscheinungen existieren nicht an sich, sie sind bloß Vorstellungen, die ein Subjekt sich von den Dingen macht. Die Verknüpfung von Vorstellungen geschieht nach Verstandesgesetzen oder Kategorien. Demnach ist es der Verstand, der der Natur ihre Gesetze vorschreibt.
19 Wesentliche Einsichten zu diesem Abschnitt verdanken wir H. Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Soziologische Texte, hrsg. v. H. Maus und F. Fürstenberg. 3. Aufl., Neuwied und Berlin 1968. S. 103ff und S. 186ff. („Die Absperrung des Universums der Rede“ und „Der Triumph des positiven Denkens: eindimensionale Philosophie“). Marcuse hat in diesen beiden Abschnitten die entscheidende Positivismuskritik unserer Tage geliefert.
20 C. v. Schrenck-Notzing: Charakterwäsche. Die Politik der amerikanischen Umerziehung, München 1981.
21 G. Myrdal: The Political Element in The Development of Economic Theory, London 1953. Myrdal bringt das Beispiel der „Negerfrage“ in den USA. Sie stellt sich erst, wenn der Wert der “equality“, der Chancen, zwischen Schwarzen und Weißen als Norm vorausgesetzt wird.
22 F. H. Tenbruck: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen, Styria, Graz 1984, insbes. S. 188ff.
23 G. Bruckmann: Um die Zukunft in den Griff zu bekommen. Was will und was kann die Futurologie, in: Die Presse, Wien 29./30. Jänner 1972, Wochenendbeilage, S. II.
24 Die für jede Ganzheitslehre entscheidende gegenseitige Durchdringung der einzelnen Kultursachgebiete hat O. Spann unter dem Begriff des „Gestaltwandels” entwickelt. Vgl. O. Spann: Gesellschaftsphilosophie, 2. Aufl., Band 11 der Gesamtausgabe Othmar Spann, Akademische. Verlagsanstalt, Graz 1969, S. 121 u. ö. Der Glaube will sich in Philosophie und Wissenschaft “verwandeln“, er will durch die Vernunft “begriffen“ und in der Kunst „versinnlicht“ werden.
25 Über die inhaltliche Bestimmung dieses für die ganzheitliche und christliche Soziallehre und Sozialmetaphysik tragenden Begriffes haben wir abgehandelt in: Theorie der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, Bd. l der Reihe Beiträge zur ganzheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftslehre, Berlin 1966, S. 47–55 und S. 126–134.
26 C. Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 8. Aufl., Duncker & Humblot, Berlin 1996; H. H. v. Arnim: Der schöne Schein der Demokratie, Droemer Knaur Verlag, München 2000.
27 Zu erinnern ist hier an die klassische Untersuchung von R. Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Stuttgart o. J. (Neudruck der 2. Aufl., vermutlich 1958). Parteien sind Organisationen für die „Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden“ (370f). Wachsen der Parteiorganisation erfordert Übertragung der wichtigsten Kompetenzen der Wählerversammlung auf die Parteivorstände (75f), die zunehmende Komplexität des politischen Metiers, der Gesetzgebung, des öffentlichen Lebens bedingt die Zunahme des Abstands der Parteiführer zu dem Gros der Genossen, „bis die ersteren schließlich des Gefühls der Gemeinsamkeit mit der Klasse, der sie entsprungen sind, verlustig gehen und ein Klassenunterschied zwischen den exproletarischen Führern und den proletarischen Geführten entsteht“ (78). Die Parteiführer sind Meister in der Kunst der Versammlungsleitung und den Kniffen, opportune Resolutionen durchzubringen, strittige Punkte auszuschalten, die Opposition mundtot zu machen und selbst eine gegnerische Majorität zu günstig lautenden Abstimmungen zu bringen (80f). Sie beherrschen die finanzielle Macht der Partei sowie die Macht der Presse (125). Der Anfang der Bildung eines berufsmäßigen Politiker- und Parteiführertums „bedeutet den Anfang vom Ende der Demokratie … Eine Masse, die ihre Souveränität delegiert. d. h. einzelnen wenigen Männern aus ihr überträgt, dankt als Souverän ab … Der Akt der Wahl ist gleichzeitig Ausdruck und Vernichtung der Massensouveränität“ (130).
28 W. Heinrich hat dieser Frage seine Lebensarbeit gewidmet. Vgl. bes.: Das Ständewesen mit besonderer Berücksichtigung der Selbstverwaltung der Wirtschaft (1. Aufl., Jena 1932, 2. Aufl. 1934); Die soziale Frage, Jena 1934; Wirtschaftspolitik, 2 Bde. (1. Aufl., Wien 1948–1954, 2. Aufl., Berlin 1964–1967); Staatsgefüge. Wirtschaftsverbände und Betriebsleben in ihrer Gegenseitigkeit. Beitrag zur Festschrift P. Gysler, in: Wissenschaft und Gewerbe, St. Gallen 1953.
29 Auf den Zusammenhang von industrieller Technik mit technischen Denkweisen, anorganischer Ausrichtung der Kultur und der menschlichen Umgebung, Verlust moralischer Hemmungen hat H. Sedlmayr immer wieder aufmerksam gemacht, so in: Gefahr und Hoffnung des technischen Zeitalters, Salzburg 1970.
30 Diese hochbedeutsame, bedenkenswerte Einsicht von der „kulturprägenden Macht des Verfahrens“ hat W. Heinrich näher ausgeführt in: Die Verfahrenlehre als Wegweiser für die Wissenschaften und die Kultur, in: Die Ganzheit in Philosophie und Wissenschaft. Festschrift für Othmar Spann zum 70. Geburtstag, hrsg. v. W. Heinrich, Wien 1950, S. 3–46. Heinrich begründet diese prägende Macht des Verfahrens damit, daß die Art (”Grundgestalt“) des Verfahrens die Erfassung, Ordnung, Entfaltung, Idee, Wissenschaft und Lehre der Weltwirklichkeit und damit die ganze „Weltanschauung“ bestimmt.