
Von Univ.-Doz. em. Dr. Friedrich Romig*
Am 19. April 2021 verstarb in Wien der Philosoph Rudolf Burger, einer der zeitgenössisch klügsten Köpfe, die weit über die Grenzen Österreichs gewirkt haben. Die unzähligen Nachrufe, die kurz nach seinem Tod in vielen Ländern erschienen sind, haben seine Bedeutung für das, was wir heute „Politische Philosophie“ nennen, hervorgehoben. Burger wurde nicht müde, in seinen Büchern, Essays, Vorlesungen und Vorträgen auf die Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit unserer fundamentalen Werte und unserer sogenannten „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ hinzuweisen. Sein eindrucksvoller Lebenslauf, der ihn vom Physiker zum Philosophen, Wissenschaftsberater in der Bundesrepublik Deutschland und langjährigen Rektor an der Universität für angewandte Kunst in Wien werden ließ, kann heute im Internet leicht nachvollzogen werden und braucht hier nicht weiter dargestellt zu werden. Wir beschränken uns auf die Vorstellung seiner Gedanken über den Missbrauch der Geschichte.
Burger behandelt dieses Thema unter dem Titel: „Im Namen der Geschichte. Vom Missbrauch der historischen Vernunft“. In dieser anregenden Publikation nimmt Burger die ganze „Zeitgeschichte“ aufs Korn, die ihren zweifelhaften Ruf der professionellen Verbreitung von “Geschichtslügen” verdankt. Nirgends wird ja heute der Missbrauch der “historischen Vernunft” als Instrument zur Durchsetzung von auf der Hand liegenden Interessen deutlicher als in der Holocaust-Industrie: “Ihre verheerenden Auswirkungen auf die US-amerikanische Außenpolitik sind inzwischen bekannt”, lässt uns Rudolf Burger (S. 115) unter Berufung auf die weltbekannte Arbeit von Mearsheimer und Walt über “The Israel Lobby and American Foreign Policy” (London 2006) wissen.
Doch was an diesem Beispiel so offensichtlich geworden ist, lässt sich ganz grundsätzlich für alle Geschichtsschreibung festhalten. Die “Geschichte”, die uns vorgesetzt wird, ist immer bloß ein “Konstrukt”, eine “Erzählung”, eine Art “Märchen”, ein “Roman”, ein “Epos”, nicht selten aufgebauscht zu einem “Mythos” zwecks Untermauerung, Legitimierung oder Delegitimierung parteipolitischer, kultureller, pädagogischer, religiöser oder sozialer Interessen. Geschichte in irgendeinem “objektiven Sinne” gibt es nicht. Vergangenes ist vergangen, es “ist” nicht mehr. Nur was aus der Vergangenheit in die Gegenwart hereingeholt wird, existiert und ist von Bedeutung. Für uns „Aufgeklärte“ ist nicht „Gott der Herr der Geschichte“, sondern wir Menschen “schaffen” Geschichte, wir “wählen” unsere Vergangenheit, indem wir dem, was in der Vergangenheit geschah, eine Bedeutungsstruktur überstülpen, Ereignissen einen “Sinn” verleihen, den sie von sich aus niemals haben. An der Unterstellung von „Sinn“ entzündet sich häufig der Streit von Historikern, der in gewichtigen Fragen nicht selten auf die Politik übergreift. Gleiche historische Ereignisse werden dann u. U. ganz verschieden gedeutet: Ob beispielsweise der Einmarsch fremder Truppen in Deutschland und Österreich 1945 oder 2003 im Irak „Befreiung“ oder „Niederlage“ war, hängt von der Einstellung oder dem Auftraggeber desjenigen ab, der die Geschichte betrachtet oder beschreibt. Geschichtsschreibung und Geschichtsbetrachtung sind stets “ideologiegetränkt”, eine Form von “Propaganda”. Individuelle und kollektive, moralische und politische, ethnische und kulturelle Vorlieben, Machtverhältnisse und “Identitäten” kommen mit ins Spiel und arten manches Mal sogar zu “Glaubenskriegen” aus, in denen die “Glaubenstreuen” oder “Politisch Korrekten” die Häretiker fanatisch ausgrenzen und verfolgen, bis sie “niedergemacht” sind. Typisches Beispiel war der berühmte “Historikerstreit” im Jahr 1986. Hierbei ging es überhaupt nicht mehr um geschichtliche Fakten, sondern um ihre Interpretation, “mit persönlichen Konsequenzen für jene, die von der herrschenden Meinung dissentierten” (S. 39).

Mit “Faktentreue” hat das alles nichts zu tun. Die Geschichtswissenschaft – wenn man sie überhaupt als “Wissenschaft” bezeichnen und nicht der Literatur zuordnen will – sollte sich schleunigst von der Illusion verabschieden, sie könne “objektiv” sein. Facta ficta sunt. Wir “konstituieren”, was wir als Tatsache ansehen. “Es gibt keine Tatsachen an sich, man muss stets einen Sinn einführen, damit eine Tatsache statthaben kann”, zitiert Burger seinen Gewährsmann Friedrich Nietzsche, dessen Abhandlung “Über den Nutzen und den Nachteil der Historie für das Leben” Burgers Überlegungen stark beeinflusst haben. Sinngebung als ein Konstrukt durch uns ist das logische Prius der Tatsachen, die in die geschichtlichen Erzählungen Eingang finden, durch welche wir uns im Hinblick auf unsere Zukunft definieren. Dabei kommt dem “Vergessen” eine unverzichtbare, lebenshygienische Funktion zu. Je mehr Geschichtsforschung, desto geringer die Bedeutung der Geschichte fürs Leben. Tatsachen wiederholen sich nicht. Deshalb ist es ja auch gänzlich ausgeschlossen, aus der Geschichte irgendetwas zu lernen. Jede Generation muss ihre Torheiten selber machen, niemand kann sie davon abhalten, am allerwenigsten die Kenntnis der Geschichte. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass in der Moderne – im Gegensatz zur jahrhundertealten Produktionsweise von Bauern und Handwerkern – Erfahrung und Tradition durch die Furie des immer Neuen verschwunden sind und keine Bedeutung mehr haben.
Beides, Entfesselung der Produktivkräfte in der Moderne und Verlust der Tradition, führt Burger auf die “Aufklärung” zurück, die den Menschen aus religiösen Bindungen befreien wollte und doch wieder verknechtet hat:
“Das geschichtliche Denken sollte den Menschen von der Unterwürfigkeit unter Gott befreien, doch verlangt diese Befreiung von ihm die vollständige Unterwerfung unter das Werden … Die wahre Leidenschaft des 20. Jahrhunderts ist die Knechtschaft” (Camus).
Wir wissen heute, oder könnten es wissen, kommentiert Burger:
“Alle großen Verbrechen entspringen großen Idealen, nicht dem bösen Willen, die Täter verfolgen aus ihrer Binnenperspektive immer das ‚Gute´, ihr Antrieb ist stets eine ‚Begierde des Rettens´ (Hegel)“.
Heute mobilisiert man die Massen im Namen der „Humanität“, der “Menschlichkeit”. Damit wird implizit der Gegner zum Unmenschen und Schurken erklärt. Wenn nicht alles täuscht, so schließt sich der Kreis und die Moderne kehrt zu ihren fideistischen Ursprüngen zurück. Die prophetisch gewendete Geschichtsphilosophie mit ihren Heilsversprechen – dem „ewigen Frieden“, dem „Kommen des Messias“, der Verwirklichung des „Reiches Gottes auf Erden”, des “Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit”, der Entstehung einer “klassenlosen und herrschaftslosen Gesellschaft” oder einer Welt „liberaler Demokratien“ und des „Endes der Geschichte“ etc. – ist heute politisch desavouiert, aber die Autorität der Geschichte ist ungebrochen als Stütze der moralischen Autorität, mit der ganze Länder “im Namen der Geschichte” überfallen, zerbombt, besetzt und tyrannisiert werden.
Wenigstens das können wir aus der Geschichte lernen: Sie wird auch morgen wieder von den Mächtigen missbraucht werden.
Rudolf Burger: Im Namen der Geschichte. Vom Mißbrauch der historischen Vernunft. 128 Seiten. Geb. Zu Klampen-Verlag, Springe (Deutschland), ISBN 978–3‑86674–015‑0.
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