Der Missbrauch der Geschichte

In memoriam Rudolf Burger


Am 21. April 2021 ist der Philosoph Rudolf Burger verstorben – ein Nachruf.
Am 21. April 2021 ist der Philosoph Rudolf Burger verstorben – ein Nachruf.

Von Univ.-Doz. em. Dr. Fried­rich Romig*

Anzei­ge

Am 19. April 2021 ver­starb in Wien der Phi­lo­soph Rudolf Bur­ger, einer der zeit­ge­nös­sisch klüg­sten Köp­fe, die weit über die Gren­zen Öster­reichs gewirkt haben. Die unzäh­li­gen Nach­ru­fe, die kurz nach sei­nem Tod in vie­len Län­dern erschie­nen sind, haben sei­ne Bedeu­tung für das, was wir heu­te „Poli­ti­sche Phi­lo­so­phie“ nen­nen, her­vor­ge­ho­ben. Bur­ger wur­de nicht müde, in sei­nen Büchern, Essays, Vor­le­sun­gen und Vor­trä­gen auf die Wider­sprüch­lich­keit und Brü­chig­keit unse­rer fun­da­men­ta­len Wer­te und unse­rer soge­nann­ten „frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung“ hin­zu­wei­sen. Sein ein­drucks­vol­ler Lebens­lauf, der ihn vom Phy­si­ker zum Phi­lo­so­phen, Wis­sen­schafts­be­ra­ter in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und lang­jäh­ri­gen Rek­tor an der Uni­ver­si­tät für ange­wand­te Kunst in Wien wer­den ließ, kann heu­te im Inter­net leicht nach­voll­zo­gen wer­den und braucht hier nicht wei­ter dar­ge­stellt zu wer­den. Wir beschrän­ken uns auf die Vor­stel­lung sei­ner Gedan­ken über den Miss­brauch der Geschichte.

Bur­ger behan­delt die­ses The­ma unter dem Titel: „Im Namen der Geschich­te. Vom Miss­brauch der histo­ri­schen Ver­nunft“. In die­ser anre­gen­den Publi­ka­ti­on nimmt Bur­ger die gan­ze „Zeit­ge­schich­te“ aufs Korn, die ihren zwei­fel­haf­ten Ruf der pro­fes­sio­nel­len Ver­brei­tung von “Geschichts­lü­gen” ver­dankt. Nir­gends wird ja heu­te der Miss­brauch der “histo­ri­schen Ver­nunft” als Instru­ment zur Durch­set­zung von auf der Hand lie­gen­den Inter­es­sen deut­li­cher als in der Holo­caust-Indu­strie: “Ihre ver­hee­ren­den Aus­wir­kun­gen auf die US-ame­ri­ka­ni­sche Außen­po­li­tik sind inzwi­schen bekannt”, lässt uns Rudolf Bur­ger (S. 115) unter Beru­fung auf die  welt­be­kann­te Arbeit von Mears­hei­mer und Walt über “The Isra­el Lob­by and Ame­ri­can For­eign Poli­cy” (Lon­don 2006) wissen.

Doch was an die­sem Bei­spiel so offen­sicht­lich gewor­den ist, lässt sich ganz grund­sätz­lich für alle Geschichts­schrei­bung fest­hal­ten. Die “Geschich­te”, die uns vor­ge­setzt wird, ist immer bloß ein “Kon­strukt”, eine “Erzäh­lung”, eine Art “Mär­chen”, ein “Roman”, ein “Epos”, nicht sel­ten auf­ge­bauscht zu einem “Mythos” zwecks Unter­maue­rung,  Legi­ti­mie­rung oder Dele­gi­ti­mie­rung par­tei­po­li­ti­scher, kul­tu­rel­ler, päd­ago­gi­scher, reli­giö­ser oder sozia­ler Inter­es­sen. Geschich­te in irgend­ei­nem “objek­ti­ven Sin­ne” gibt es nicht. Ver­gan­ge­nes ist ver­gan­gen, es “ist” nicht mehr. Nur was aus der Ver­gan­gen­heit in die Gegen­wart her­ein­ge­holt wird, exi­stiert und ist von Bedeu­tung. Für uns „Auf­ge­klär­te“ ist nicht „Gott der Herr der Geschich­te“, son­dern wir Men­schen  “schaf­fen” Geschich­te,  wir “wäh­len”  unse­re Ver­gan­gen­heit, indem wir dem, was in der Ver­gan­gen­heit geschah, eine Bedeu­tungs­struk­tur über­stül­pen,  Ereig­nis­sen einen “Sinn” ver­lei­hen, den sie von sich aus nie­mals haben. An der Unter­stel­lung von „Sinn“ ent­zün­det sich häu­fig der Streit von Histo­ri­kern, der in gewich­ti­gen Fra­gen nicht sel­ten auf die Poli­tik über­greift. Glei­che histo­ri­sche Ereig­nis­se wer­den dann u. U. ganz ver­schie­den gedeu­tet: Ob bei­spiels­wei­se der Ein­marsch frem­der Trup­pen in Deutsch­land und Öster­reich 1945 oder 2003 im Irak „Befrei­ung“ oder „Nie­der­la­ge“ war, hängt von der Ein­stel­lung oder dem Auf­trag­ge­ber des­je­ni­gen ab, der die Geschich­te betrach­tet oder beschreibt. Geschichts­schrei­bung und Geschichts­be­trach­tung sind  stets “ideo­lo­gie­ge­tränkt”, eine Form von “Pro­pa­gan­da”. Indi­vi­du­el­le und kol­lek­ti­ve, mora­li­sche und poli­ti­sche, eth­ni­sche und kul­tu­rel­le Vor­lie­ben, Macht­ver­hält­nis­se und “Iden­ti­tä­ten” kom­men mit ins Spiel und arten man­ches Mal sogar zu  “Glau­bens­krie­gen” aus, in denen die “Glau­bens­treu­en” oder “Poli­tisch Kor­rek­ten” die Häre­ti­ker fana­tisch aus­gren­zen und ver­fol­gen, bis sie “nie­der­ge­macht” sind. Typi­sches Bei­spiel war der berühm­te “Histo­ri­ker­streit”  im Jahr 1986. Hier­bei ging  es über­haupt nicht mehr um geschicht­li­che Fak­ten, son­dern um ihre Inter­pre­ta­ti­on, “mit per­sön­li­chen Kon­se­quen­zen für jene, die von der herr­schen­den Mei­nung dis­sen­tier­ten” (S. 39).

Mit “Fak­ten­treue” hat das alles nichts zu tun. Die Geschichts­wis­sen­schaft – wenn man sie über­haupt als “Wis­sen­schaft” bezeich­nen und nicht der Lite­ra­tur zuord­nen will – soll­te sich schleu­nigst von der Illu­si­on ver­ab­schie­den, sie kön­ne “objek­tiv” sein. Fac­ta fic­ta sunt. Wir “kon­sti­tu­ie­ren”, was wir als Tat­sa­che anse­hen. “Es gibt kei­ne Tat­sa­chen an sich, man muss stets einen Sinn ein­füh­ren, damit eine Tat­sa­che statt­ha­ben kann”, zitiert Bur­ger sei­nen Gewährs­mann Fried­rich Nietz­sche, des­sen Abhand­lung “Über den Nut­zen und den Nach­teil der Histo­rie für das Leben” Bur­gers Über­le­gun­gen stark beein­flusst haben. Sinn­ge­bung als ein Kon­strukt durch uns ist das logi­sche Pri­us der Tat­sa­chen, die in die geschicht­li­chen Erzäh­lun­gen Ein­gang fin­den, durch wel­che wir uns im Hin­blick auf unse­re Zukunft defi­nie­ren. Dabei kommt dem “Ver­ges­sen” eine unver­zicht­ba­re, lebens­hy­gie­ni­sche Funk­ti­on zu. Je mehr Geschichts­for­schung,  desto gerin­ger die Bedeu­tung der Geschich­te fürs Leben. Tat­sa­chen wie­der­ho­len sich nicht. Des­halb ist es ja auch gänz­lich aus­ge­schlos­sen, aus der Geschich­te irgend­et­was zu ler­nen. Jede Gene­ra­ti­on muss ihre Tor­hei­ten sel­ber machen, nie­mand kann sie davon abhal­ten, am aller­we­nig­sten die Kennt­nis der Geschich­te. Das hängt nicht zuletzt damit zusam­men, dass in der Moder­ne – im Gegen­satz zur jahr­hun­der­te­al­ten Pro­duk­ti­ons­wei­se von Bau­ern und Hand­wer­kern – Erfah­rung und Tra­di­ti­on durch die Furie des immer Neu­en ver­schwun­den sind und kei­ne Bedeu­tung mehr haben.

Bei­des, Ent­fes­se­lung der Pro­duk­tiv­kräf­te in der Moder­ne und Ver­lust der Tra­di­ti­on, führt Bur­ger auf die “Auf­klä­rung” zurück, die den Men­schen aus reli­giö­sen Bin­dun­gen befrei­en woll­te und doch wie­der ver­knech­tet hat: 

“Das geschicht­li­che Den­ken soll­te den Men­schen von der Unter­wür­fig­keit unter Gott befrei­en, doch ver­langt die­se Befrei­ung von ihm die voll­stän­di­ge Unter­wer­fung unter das Wer­den … Die wah­re Lei­den­schaft des 20. Jahr­hun­derts ist die Knecht­schaft” (Camus).

Wir wis­sen heu­te, oder könn­ten es wis­sen,  kom­men­tiert Burger: 

“Alle gro­ßen Ver­bre­chen ent­sprin­gen gro­ßen Idea­len, nicht dem bösen Wil­len, die Täter ver­fol­gen aus ihrer Bin­nen­per­spek­ti­ve immer das ‚Gute´, ihr Antrieb ist stets eine ‚Begier­de des Ret­tens´ (Hegel)“.

Heu­te mobi­li­siert man die Mas­sen  im Namen der „Huma­ni­tät“, der  “Mensch­lich­keit”. Damit wird impli­zit der Geg­ner zum Unmen­schen und Schur­ken erklärt.  Wenn nicht alles täuscht, so schließt sich der Kreis und die Moder­ne kehrt zu ihren fide­i­sti­schen Ursprün­gen zurück. Die pro­phe­tisch gewen­de­te Geschichts­phi­lo­so­phie mit ihren Heils­ver­spre­chen – dem „ewi­gen Frie­den“,  dem „Kom­men des Mes­si­as“, der Ver­wirk­li­chung des „Rei­ches Got­tes auf Erden”, des “Fort­schritts im Bewusst­sein der Frei­heit”, der Ent­ste­hung einer “klas­sen­lo­sen und herr­schafts­lo­sen Gesell­schaft” oder einer Welt „libe­ra­ler Demo­kra­tien“  und des „Endes der Geschich­te“ etc. – ist heu­te poli­tisch des­avou­iert, aber die Auto­ri­tät der Geschich­te ist unge­bro­chen als Stüt­ze der mora­li­schen Auto­ri­tät, mit der gan­ze Län­der “im Namen der Geschich­te” über­fal­len, zer­bombt, besetzt und tyran­ni­siert werden.

Wenig­stens das kön­nen wir aus der Geschich­te ler­nen: Sie wird auch mor­gen wie­der von den Mäch­ti­gen miss­braucht werden.

Rudolf Bur­ger: Im Namen der Geschich­te. Vom Miß­brauch der histo­ri­schen Ver­nunft. 128 Sei­ten. Geb. Zu Klam­pen-Ver­lag, Sprin­ge (Deutsch­land), ISBN 978–3‑86674–015‑0.

Zuletzt von Fried­rich Romig bei Katho​li​sches​.info erschienen: 

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