
Buchbesprechung von Friedrich Romig*.
Nun sind die wichtigsten Schriften des Historikers Augustin Cochin (geb. 1876, gefallen 1916 als Frontoffizier) über die Französische Revolution erstmals auf Deutsch erschienen. Für die deutschsprachige Welt ist die Bedeutung dieser Publikation nicht zu überschätzen. Sie räumt auf mit den „unverhandelbaren Werten“ einer „freiheitlich demokratischen Grundordnung“, den „Menschenrechten“, der „Religionsfreiheit“, der „Toleranz“, der „Nichtdiskriminierung“ und dem ganzen Geplapper (engl. „squabble“) über „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, das den Terror einer bis heute nicht abgestellten „Revolutionsmaschine“ am Laufen hält. Zwar werden heute meist nicht mehr mit der Guillotine, dem „Rasiermesser der Revolution“, die Köpfe abgeschnitten, aber „telekratisch abgeschafft“ (Botho Strauss: Anschwellender Bocksgesang, 1983).
Augustin Cochin ist der Nachkomme einer großen vornehmen Familie, die seit dem 13. Jahrhundert Paris ihren Stempel aufdrückte und noch im 19. Jahrhundert dem konservativen Katholizismus anhing. Sein Vater, Baron Denys Marie Pierre Augustin Cochin (1851–1922), war Politiker und Schriftsteller, Mitglied der Académie française, Abgeordneter zur Nationalversammlung, Staatssekretär und Minister sowie Sprecher der katholischen L´Union sacrée zur Verteidigung der katholischen Erziehung, Schulen und Orden gegen Angriffe aus dem laizistischen Lager. Dank des Vermögens der Familie musste Augustin Cochin keinem Brotberuf nachgehen, sondern konnte sich ganz auf das Studium von Philosophie, Geschichte und Soziologie mit brillantem Erfolg konzentrieren. Vom Großvater, einem anerkannten Historiker, wurde er noch im Knabenalter zum Bibliothekar und zum sorgfältigen Umgang mit Archivquellen ausgebildet. Die nach seinem Tod veröffentlichte Quellensammlung, „Les Actes du Gouvernement Révolutionnaire“ (für den Zeitraum vom 23. August 1793 bis zum 27. Juli 1794), zeugt für seine akribische, auf Quellen gestützte Arbeitsweise.
Cochin spezialisierte sich ab 1903 ganz auf die Geschichte der Revolution. „Bei seinen Reisen von Archiv zu Archiv“ (S. 13) stieß er auf die Papiere der Wahlkampagne in der Bretagne und in Burgund. Er war verwundert über den Gleichklang der Argumente und Parolen, ungeachtet der doch erheblichen räumlichen Distanz und der Verschiedenheit der ökonomischen und politischen Umstände. Seine Verwunderung hat ihn auf eine Spur geführt, die vor ihm noch niemand entdeckt hatte und der noch niemand nachgegangen war, es war die Spur des „Jakobinismus“.
Der „Jakobinismus“ war für Cochin kein Komplott, keine Verschwörung, sondern Ausdruck einer Geisteshaltung, die in den „sociétés de pensée“, den „Denkgesellschaften“, zuhause war. Diese hatten sich schon Jahrzehnte vor 1789 gebildet und traten unter verschiedenen Namen auf: als „philosophische Gesellschaft“, als „literarischer Kreis“, als (Freimaurer-) Loge, als „Akademie“, als „Patriotischer Klub“ oder als kultureller „Salon“. Sie, diese „Denkgesellschaften“, waren und sind keine Körperschaften wie im Ancien Régime, keine politischen Instanzen, keine Interessenvertretungen. Ihr Ziel ist nicht zu handeln, sondern Meinungen zu äußern und so lange zu debattieren, bis sich ein gemeinsamer Konsens herausschält, der „stimmig“, „vernünftig“ und für alle Mitglieder, unabhängig von ihrer beruflichen Stellung, gesellschaftsübergreifend „akzeptabel“ war. In gewissem Sinne lässt sich hier die Denk- und Funktionsweise der Demokratie vorausahnen (S. 182). Cochin sieht in der Demokratie nicht – wie Tocqueville – die Tendenz zur ökonomischen und sozialen Nivellierung, sondern ein politisches System, das auf der abstrakten, realitätsfernen Gleichheit der Individuen, auf den „Wahlbürgern“, beruht. Die „Denkgesellschaften“ errichteten nicht das Modell der repräsentativen, sondern der „reinen Demokratie“ (S. 184). Der Wille der Gesamtheit des Volkes sollte ihr Gesetz sein. Dem Volk der Wahlbürger wurde und wird vorgegaukelt, es regiere sich selbst. Doch genau das führte zum Terror.

Denn „das Volk“ kann sich nicht selbst regieren. Cochin entdeckt „den geheimen Schlüssel“ für das Regieren und Exekutieren, eine im „Schatten des Jakobinismus“ versteckte „Revolutionsmaschine“ (vgl. S. 184). Sie wird betrieben von kleinen militanten Gruppen, dem „inneren Kreis der Oligarchen“, den „Drahtziehern“, meist mediokren, austauschbaren und einander ablösenden Männern wie Robespierre, Marat, Brissot, Danton, Saint-Just, die alle von den Institutionen, die sie selbst erfunden, propagiert und errichtet hatten, hingerichtet wurden. Sie alle waren nur Werkzeuge der „Maschine“, Räder im Getriebe, „Gefangene der Logik des Systems“, „Manipulatoren, die selbst manipuliert wurden“ (S. 185).
Cochins Untersuchungen und Interpretationen der Französischen Revolution bestätigen einmal mehr Schillers Wort vom „Fluch der bösen Tat, die fortwährend Böses muss gebären“. Zu heftigen Auseinandersetzungen unter Historikern und politischen Beobachtern führte Cochins Darstellung der Reden, Abstimmungen und Beschlüsse in der Nationalversammlung (Convention nationale), im Wohlfahrtsausschuss (Comité de salut public) oder im Sicherheitsausschuss (Comité de sûreté générale) – eine Darstellung, die er in seinem historiographischen Aufsatz „La Crise de l´histoire révolutionnaire“ 1909 in der Zeitschrift Le Correspondant veröffentlicht hatte. Cochin wandte sich hier gegen die Fehldeutungen der unvorstellbaren Grausamkeiten der Französischen Revolution durch zwei meinungsbildende Historiker, Hippolyte Taine und Alphonse Aulard. Taine hatte die ersten revolutionären Jahre als ein erschreckendes Gemälde gezeichnet, auf dem die Akteure als Demagogen, Gauner, Fanatiker und blutrünstige Ungeheuer porträtiert und zugleich als triebgesteuerte Wesen von ihm „psychologisch“ entschuldigt wurden. Aulard fand bei Cochin nicht nur wegen der Fälschung von historischen Fakten keine Gnade, sondern wegen seines Versuchs, alle begangenen Grausamkeiten durch die große „Idee“ einer Weltordnung des ewigen Friedens und der Gleichheit aller Menschen zu rechtfertigen. Beiden warf Cochin vor, in ihrem Wolkenkuckucksheim den Mechanismus der Revolution zu verkennen. Beide ersetzen die Realität durch die Illusion und Utopie einer „Gesellschaft der Gleichen“. Gleichheit führt immer und überall zum Terror, ob im Kommunismus oder Liberalismus (Juan Donoso Cortés). Cochins Aufsatz gehört zu den wenigen Publikationen, die noch zu seinen Lebzeiten erschienen sind, kurze Zeit Aufmerksamkeit erregten, polemisch verurteilt wurden und Cochin zum „Outsider“ stempelten, der es nach Ansicht seiner Kritiker verdiente, rasch „begraben“ und vergessen zu werden. Cochin hat ein einziges druckfertiges Buch hinterlassen: „Les sociétés de pensée et la Révolution en Bretagne (1788–1789)“. Sein Freund und Mitarbeiter Charles Charpentier veröffentlichte es 1925. Seine Mutter ließ dann 1921 und 1924 zwei Bände nachgelassener Aufsätze herausgeben: „Les sociétes de pensée et la démocratie moderne“ (1921) und „La Revolution et la libre pensée“ (1924).

Die Übersetzung des Karolinger-Verlags basiert auf der französischen Werkausgabe von „La Machine révolutionnaire“, einer Sammlung von Aufsätzen, die von Denise Sureau zusammengestellt wurde und mit einem Vorwort von Patrice Gueniffey in Paris 2018 erschienen ist. Dankenswerterweise ergänzen die Karolinger diese Sammlung durch „Notizen über die Katholische Kirche“ (S.175–180), die in Brügge 1935 und wiederabgedruckt 1960 durch Michel de Boüard herausgegeben wurden.
Diese Notizen vermitteln in konzentriertester Form die weltanschauliche Substanz der theologischen, philosophischen und sozialen Auffassungen, die Augustin Cochin von Jugend an bis zu seinem frühen Tod vertrat.
Für ihn war die Katholische Kirche die höchste und „souveräne Realität, die jeder sieht, erkennt und ausreichend liebt“, durch die jeder sich selbst erhebt und seinen Bemühungen im Leben Sinn gibt durch „Buße, Sühne, Opfer“ (S. 175). Durch diese höchste „gesellschaftliche Realität“, die katholische Kirche, wird eine wirkliche „sakrale Union“ zum Faktum. Pius XII. erkannte in ihr „das Lebensprinzip der Gesellschaft“, und das Vaticanum II spricht von ihr als der „Seele der menschlichen Gesellschaft“. Gott zu lieben ist ihr Prinzip. Nach diesem Prinzip den Nächsten zu lieben, ist die Konsequenz und die Stütze des gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebens. Das soziale Leben nährt sich von der Verbindung des Glaubens und der Religion mit der Kirche. Es ist eine Verbindung, in der der Geist über den Körper herrscht und die Seele Geist und Körper belebt. „In jeder wahrhaft starken und tiefen menschlichen Gesellschaft nimmt die soziale Bindung einen religiösen Charakter an“ (S. 176). „Nicht durch die Liebe einer sozialen Ordnung dient man seinem Land, … sondern weil man sein Land liebt, weil man an Gott glaubt“ (S. 177).
„An dem Tag, an dem der Glaube von der Illusion, vom Irrtum, vom Betrug überzeugt ist (Anm. Cochin bezieht sich hier auf Kant, Renan und Durkheim) … wird er sich verflüchtigen, und der soziale Körper, Kirche oder Vaterland, wird sterben wie ein Körper ohne Seele, er wird ohne Saft vertrocknen“ (S. 177). Der Glaube beruht auf Überzeugung, die Überzeugung auf Wahrheit. Durch die Wahrheit ist man verbunden. Man vereinigt sich nicht, um die Wahrheit zu suchen. Man sucht sie nicht, man ist von ihr überzeugt. Die Überzeugung begeistert, sie geht der gesellschaftlichen Verbindung, der Union, voraus (vgl. S.180). „Das Christentum des Mittelalters begriff so das soziale Interesse; es errichtete das weitläufigste und majestätischste soziale Gebäude, die universale Kirche, und baute alle europäischen Nationen auf religiösen Fundamenten…(auf) die Lehre von der Wahrheit, von Gott, von Christus und dem ewigen Leben; die Kirche wird in der Summa des heiligen Thomas nicht einmal genannt und war doch niemals lebendiger“ (S. 178f). Schon die Sorge um die Kirche schwächt sie (vgl. S. 179).
Durch die Revolution – „satanique“ – von 1789 (de Maistre) wurde diese Einheit in Frankreich, in Europa und in der westlichen Welt endgültig zerschlagen. Augustin Cochin wird als der Meistererzähler des Weges „vom Salon zum Galgen“ (F. Roger Devlin) und wegen des nachfolgenden Ruins des Abendlandes bis ans Ende der Geschichte in Erinnerung bleiben.
Augustin Cochin: Die Revolutionsmaschine – Ausgewählte Schriften. Eingeleitet von Patrice Gueniffey und mit einem Text von Franҫois Furet, 191 Seiten, Karolinger-Verlag Wien und Leipzig 2020, ISBN 978 3 85418 198 9, Brosch, Euro 24,–
*Univ.-Doz. em. Dr. Friedrich Romig, zuletzt bei Katholisches.info erschienen: