Von Friedrich Romig*
Ähnlich wie John Henry Kardinal Newman (1801–1890) ist Hilaire Belloc (1870–1953) ein typischer Repräsentant der britischen Geistesaristokratie. Ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen nimmt sie sich die Freiheiten, die ihren Weg zur Wahrheit stützen. Newman ist Konvertit, er hat die anglikanische Religionsgemeinschaft verlassen und ist in die Katholische Kirche eingetreten. Belloc war als junger Mann Atheist und musste seinen katholischen Glauben erst wieder finden. Newman wurde ein heiliger Kirchenfürst, Belloc ein Historiker, Kriegsberichterstatter, Politiker, Schriftsteller, Dramatiker und Poet, der unermüdlich für den katholischen Glauben in der säkularen Welt eintrat.
Hilaire Belloc publizierte mehr als 150 Bücher. Er gehörte mit H. G. Wells, George Bernhard Shaw und G. K. Chesterton zu den „Großen Vier“ der Edwardian Schriftstellerei. So berühmt er auch in der englischsprachigen Welt wurde, so wenig ist er heute in deutschsprachigen Ländern bekannt. Es gehört zu den Verdiensten des kleinen Renovamen-Verlags, einige von Bellocs Büchern in guter
Deutscher Übersetzung nun herauszubringen.
Es sind gleich drei Bücher, die der Renovamen-Verlag 2020 aufgelegt hat.1 Das im angelsächsischen Raum wohl berühmteste und in viele Sprachen übersetzte trägt den Titel: „Die großen Häresien“. Das älteste, „Der Sklavenstaat“, ist bereits 1912 in englischer Sprache erschienen. Es wendet sich gegen den Kommunismus. Und eines der wichtigsten kam nach dem Ersten Weltkrieg und der bolschewistischen Revolution heraus und ist nun erstmals in deutscher Übersetzung zugänglich: „Gegen Mächte und Gewalten – die alten und die neuen Feinde der katholischen Kirche“.
Alle drei Bücher sind jeweils mit einer instruktiven Einführung des amerikanischen Literaturprofessors und ausgewiesenen Belloc-Experten Robert Hickson versehen. Und in allen drei Büchern wagt es der promovierte Oxford-Historiker Hilaire Belloc die Geschichte durch das sukzessive Auftreten der Feinde der katholischen Kirche zu interpretieren. Sie sind gekommen, haben mit Macht und Gewalt die christliche Kultur und Zivilisation verändert, sie schwer gefährdet, ihr ihren Stempel aufgedrückt, sind nie ganz verschwunden und zum Teil sogar kräftiger und einflussreicher geworden. Sie alle zielten darauf ab, die katholische Kirche zu schwächen und zu zerstören, indem sie die Fundamente des christlichen Glaubens in Frage stellten, bezweifelten, zum Mythos erklärten oder als vernunftwidrig rundweg ablehnten. In ihr Visier nahmen sie „die Inkarnation und die vollkommene Gottheit Christi, die Lehre von der Heiligsten Dreifaltigkeit, die göttlich begründete autoritative Kirche und deren zentrale, universelle geistliche Autorität, die sieben Sakramente und folglich das besondere Priestertum Christi mit seinen Opfer- und Lossprechungspflichten im Sakrament der Beichte und dem hl. Messopfer“ (H, 16). Dazu kommt der folgenschwere „Angriff auf die Unauflöslichkeit der Ehe“ (H, 14).
Fünf „große“ Häresien
Belloc konzentriert sich auf fünf „Große“ Häresien: die „arianische“, die „mohammedanische“, die „albigensische“, die „reformatorische“ und die „modernistische“ (vgl. H, 31). Jede einzelne dieser Häresien hatte das Potential, die römisch-katholische Kirche zu marginalisieren oder gar auszulöschen. In Summe haben ihre Wirkungen dazu geführt, dass wir heute in einem Zeitalter der Häresie leben, zumindest in Europa und im ganzen „Abendland“.
Der Arianismus
Schon in den ersten drei Jahrhunderten nach Gründung der Kirche am Pfingsttage des Jahres 33 AD sind zahlreiche Bewegungen entstanden, welche die Menschwerdung Gottes ablehnten. Die arianische Häresie war gewissermaßen das Sammelbecken all dieser Bewegungen. Arius (ca. 270–327 AD) argumentierte mit bezwingender Logik: Nur Gott ist unerschaffen, alle anderen Wesen, daher auch der Sohn Gottes, sind erschaffen. Der Sohn Gottes kann daher niemals „wesensgleich“ mit Gott sein. Er ist vollkommener Mensch, Fürst aller Fürsten, „Gott-Kaiser“, aber kein Gott. Die Kirche als „Heilsanstalt“ und Repräsentant des Reiches Gottes auf Erden betrachtete sich als allen weltlichen Herrschaften und Gewalten vorgeordnet. Arius, der das ablehnte, fand Unterstützung bei den weltlichen Herrschern, den Fürsten, Adeligen, Heerführern, Beamten und allen Kreisen, die die Schwächung ihrer weltlichen Macht durch die Subordination unter die Kirche fürchteten.
Gegen Arius traten zahlreiche Bischöfe auf, die an der Lehre der Dreifaltigkeit festhielten, darunter auch der Patriarch von Alexandrien und Metropolit von Ägypten. Konstantin der Große (Kaiser von 306–337), dem an der religiösen Einheit als Grundlage seines Reiches gelegen war, suchte den Streit zu schlichten und berief zu diesem Zweck das Konzil zu Nicäa (325 AD) ein. Auf diesem Konzil gelang es dem Erzdiakon von Alexandrien, dem später heiliggesprochenen Athanasius (ca. 300–372 AD), den Kaiser und die Mehrheit der anwesenden Bischöfe von der traditionellen Dreifaltigkeitslehre und der Wesensgleichheit des Gottessohnes mit dem Vater zu überzeugen. Arius wurde verbannt, später begnadigt.
Obwohl nachfolgende Konzile die Beschlüsse von Nicäa immer wieder bestätigten und die „zwei Naturen“ in Christus – vollkommener Mensch und vollkommener Gott – in das kirchliche Dogma eingeflossen sind, dauert die Auseinandersetzung mit Anhängern des Arianismus in zeitangepasster Form bis heute an. Falls für den Großteil der Bevölkerung überhaupt noch theologische Fragen eine Rolle spielen, ist die Frage der Wesensgleichheit oder Wesensungleichheit des Sohnes mit dem Vater kaum noch Thema. Belloc stellt mit Recht die Frage, wie denn unsere Kultur und Zivilisation sich entwickelt hätten, wäre die Konzilsentscheidung in Nicäa nicht gefallen. Würden wir dann von „göttlichen“ „Imperatoren“, „Duces“, „Diktatoren“ oder „Tyrannen“ regiert werden? Welchen Einfluss hätte das auf die Philosophie, bildende Kunst, Literatur, Musik, Architektur, Erziehung und Moral gehabt? Und wie stünde es dann mit unserer Freiheit?
Der Islam
Diese Überlegungen werden mit dem anschließenden Kapitel über „Die große Häresie des Mohammed“ (H, 65–132) fortgesetzt. Für Belloc war und ist der Islam „der größte und hartnäckigste Feind, den unsere Zivilisation jemals hatte“ (H, 79). Der Islam entstand nicht innerhalb der Kirche wie der Arianismus, sondern er kam von außen, aus der Wüste (vgl. H. 83). Mohammed (geboren ca. 570, gestorben 673 AD) war ein Heide, ein Kameltreiber, der eine reiche Frau geheiratet hatte (vgl. H, 76). Seine Armee bestand aus Männern, die allesamt Heiden waren, bevor sie Mohammedaner wurden. Sie überwältigten in wenigen Jahren die Hälfte Kleinasiens und ganz Nordafrika, übersetzten die Straße von Gibraltar, bevor sie Spanien überfluteten und schließlich ins Herz Frankreichs vorstießen.
Erst in der Schlacht bei Tours und Poitiers wurden sie (732 AD) durch Karl Martell geschlagen, doch mehr, als sie hinter die Pyrenäen zu drücken, gelang nicht, der Großteil Spaniens blieb noch mehrere hundert Jahre in ihrem Besitz. Die Mohammedaner kontrollierten weiterhin ganz Nordafrika einschließlich Ägypten und Großsyrien. Sie dominierten das Mittelmeer mit seinen vielen Inseln. Sie begannen Konstantinopel und das Kaiserreich zu bedrohen und stießen bis Mailand vor. Sie überwanden das persische Reich und breiteten sich mächtig in Vorderasien aus (vgl. H, 66). Sie hielten den Kampf gegen die Christen für über eintausend Jahre aufrecht. Die „Kreuzzüge“ (1095–1300) scheiterten, Jerusalem ging verloren und konnte nie mehr rückerobert werden. Und wenn auch die Osmanen vor Lepanto (1571 AD) den Gutteil ihrer Flotte verloren und die Europäer weitgehend Nordafrika kolonialisierten, die Erfolge einer Christianisierung der Bevölkerung blieben bescheiden. Lange noch wurden die Küsten und Inseln des Mittelmeeres von Beutezügen der mohammedanischen Piraten aus der Levante nicht verschont. Im östlichen Europa konnte das Vordringen der muslimischen „Türken“ oder Osmanen vor Wien zweimal gestoppt werden (1529 und 1683 AD). Aus Ungarn wurden die Türken durch Prinz Eugen vertrieben. Belloc nennt es einen „Treppenwitz der Geschichte“, dass ausgerechnet das katholische Frankreich mit den islamischen Osmanen sich verbündete, um die Armee der katholischen Habsburger zu schwächen. Doch mit der Befreiung Ungarns von den Türken durch Prinz Eugen war die Geschichte der Islamisierung Europas, wie Belloc 1938 (!) schrieb, „noch keineswegs zu Ende“ (H, 67), denn es ist ja nicht auszuschließen, dass die „mohammedanische Macht in der modernen Welt … wieder erwachen könnte“ (H, 76).
Was den Islam für die Massen so anziehend und kampfstark macht, führt Belloc auf die Einfachheit seiner religiösen Vorstellungen zurück. Der Islam, so Belloc, hat viel vom Christentum übernommen, aber er kennt nur einen Gott, keine Dreifaltigkeit, keine Taufe, feiert keine Messe, verzichtet auf die magische Wandlung von Wein in Blut oder Brot in Fleisch. Christus ist, wie viele andere, nur ein Prophet, seine leibliche Mutter keine „Gottgebärererin“. Vom Dogmatischen her ist der Islam der „Todfeind des Christentums“. Doch nur wenige sind es, die sich im „Abendland“ für dogmatische Fragen interessieren. Viele nennen sich noch Christen, sind aber keine. Die Zehn Gebote haben für die meisten keine Bedeutung mehr, ihr Credo wird nur noch heruntergeleiert und, soferne überhaupt verstanden, wird jeder Satz von Mentalreservationen begleitet. Die „Aufklärung“ hat, wie Belloc uns im letzten Kapitel nahebringt, ganze Arbeit geleistet.
Die Albigenser
Pädagogisch geschickt, schiebt Belloc vor die „protestantische Reformation“ das Kapitel über die „albigensische Häresie“ ein. Der „albigensische Angriff auf die römisch-katholische Kirche“ erfolgte im 11. und 12. Jahrhundert. Es war der Versuch, eine Art Gegenkirche mit gleich zwei gleichrangigen Göttern zu gründen und durchzusetzen, einem „bösen“ und einem „guten“ Gott.
Der gute Gott schuf die Seele und das Himmelreich, der böse Gott das „Fleisch“, den „Leib“, die Physis, die materielle Welt. Das Leibliche, Physische, Materielle hat für das Seelische und das Seelenheil, nach Auffassung der Albigenser oder Katharer („die Reinen“), keine Bedeutung. Das Physische, das ist das Begehren, die Lust, der Trieb, die Gier, das „Tier“ im Menschen. Der Leib kann leiden, krank, gemartert, gekreuzigt werden und absterben, die Seele leidet dadurch nicht. Christus hat am Kreuz seelisch nicht gelitten. Er hat nicht unsere Sünden auf sich genommen, für uns gebüßt oder uns gar „erlöst“. Christus war ein Mensch, so wie wir alle, geschaffen, nicht „eingezeugt“. Er wurde nicht vom „Geist“ gezeugt und von einer Jungfrau geboren, sondern „empfangen“ auf ganz natürliche Weise. Er lebte entsprechend seiner „Prädestination“, seiner Vor-Bestimmung. Sein Wille war nicht frei, so wie auch unser Wille nicht frei ist. Ob der gute oder der böse Gott uns „ergreift“, ist von unserem Willen unabhängig, wir tragen dafür keine Verantwortung, es ist Fatum. Das Böse lässt sich durch Ethik und Moral nicht beeinflussen. Daher bedarf es auch keiner „Kirche“, die uns vorschreibt, wie wir leben sollen. Sündenbekenntnis, Reue, Buße und das „Sakrament“ der Lossprechung durch beamtete Priester sind Einrichtungen, durch die sich die Kirche unentbehrlich macht. Das Gleiche gilt auch für die „Messe“ mit ihrer magischen Wandlung von Brot in den „Leib“ und von Wein in das „Blut“ Christi oder ähnlichem Hokuspokus.
Es klingt das alles für uns Christen unglaublich, aber diese „albigensische“ Lehre fand Unterstützung von weiten Kreisen der Bevölkerung, vom niedrigen Adel, von herabgekommenen Priestern und ihren Frauen, und sogar von dem einen oder anderen geistlichen Würdenträger, der seine Einkünfte aus dem Zehent nicht nach Rom abführen wollte. An die Spitze dieser „Bewegung“ stellte sich der Graf von Toulouse, der um seine Besitzungen bangte. Die Lehre breitete sich vor allem in Südfrankreich, Teilen Spaniens und im Norden von Italien rasch aus. Splittergruppen waren in ganz Europa anzutreffen. Und mit Recht betont Belloc, dass es unerheblich sei, ob sich diese Irrlehre von den Manichäern oder den Bogumilen herleite, das „Mysterium inequitatis“, das Geheimnis des Bösen, beschäftige die Menschen, Stämme und Völker, seit sie in der Geschichte aufgetreten sind bis zum heutigen Tage.
Die Lehre der Kirche hat für die Frage nach dem Ursprung des Bösen eine eindeutige Erklärung: Das Böse hat seinen Ursprung im Bruch mit Gott und seinen Geboten. Dieser Bruch vollzog sich zuerst im Himmel, durch den höchsten der Engel, den „Lichtbringer“ oder „Luzifer“, der eben durch diesen Bruch zum Satan und „Fürsten dieser Welt“ wurde. Ihm folgten nicht nur Heerscharen von Engeln, sondern auch die Stammeltern im Paradies. Vertreibung und Tod waren die Folge und blieben es für alle, die es ablehnten, als „Söhne im Sohn Gottes“ das Opfer Christi anzunehmen, sich mit Ihm zu vereinen und die göttliche Natur wiederzuerlangen.
Der große Papst Innozenz III. (1198–1216) hat unendliche Geduld bewiesen und alles getan, um auf gütlichem Wege glaubensuntreue Priester und die meist adeligen Anführer des Volkes von dieser fatalen Irrlehre zu befreien (vgl. H, 124). Er beauftragte mit dieser Aufgabe die „Bettelmönche“ (Dominikaner). Den wortgewaltigen Predigten des Domenicus ist manche Bekehrung zu verdanken, doch die große Masse blieb bei ihrem Irrglauben. Schließlich musste der Papst einen „heiligen Kreuzzug“ gegen die Ketzer ausrufen. Das Fass zum Überlaufen hatte die Ermordung eines von Innozenz zu den Anführern entsandten Delegaten gebracht. Der Kreuzzug wurde auf grausame Weise und mit aller Härte geführt: Wer sich nicht zum Glauben der Kirche bekannte, wurde einer gründlichen „Inquisition“ unterzogen. Wurde dem Glauben auch unter der Folter nicht abgeschworen, drohte das Todesurteil und die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Eroberte Städte wurden eingeäschert und die nichtgeflohene Bevölkerung wurde ermordet. Der militärische Widerstand der von spanischen Truppen unterstützten Rebellen wurde von glaubenstreuen Rittern unter Führung des Grafen Montfort gebrochen, vernichtet aber wurde die Irrlehre nicht. Die manichäischen Grundzüge der Irrlehre „verliefen unterirdisch“ (H, 131), sie veränderten ihre Formen und erstanden immer wieder neu. Luther und Calvin wurden ihre bedeutendsten und wirkmächtigsten Vertreter. Philosophisch wurde die Irrlehre durch die „Aufklärung“ untermauert. In der Französischen Revolution feierte sie ihren politischen Triumph. Sie spaltete nicht nur Frankreich, sondern ihre „Spaltung setzte sich mit solcher Kraft fort, dass unsere europäische Zivilisation im Westen entzweibrach“ (H, 153).
Der Protestantismus
Dieses Entzweibrechen wurde ganz entschieden vorangetrieben durch die „protestantische Reformation“. Sie erschütterte und spaltete auf Generationen hinaus die geistige Welt (vgl. H. 140), und zwar nicht nur Europas, sondern des ganzen „Abendlandes“. Von allen anderen Häresien unterscheidet sich der „protestantische Angriff“ dadurch, „dass er nicht in der Verkündigung einer neuen Lehre oder einer neuen Autorität bestand noch einen konzentrierten Versuch der Errichtung einer Gegenkirche unternahm. Sein Prinzip war die Verleugnung der Einheit. Es war die Bemühung, einen Geisteszustand zu fördern, in dem eine Kirche…als unfehlbarer, vereinter Lehrkörper, eine Person, die mit göttlicher Autorität spricht, zurückgewiesen wird“ (H, 32). Für Protestanten ist „die Kirche keine sichtbare, definierbare und vereinte Persönlichkeit, … keine unfehlbare Zentralautorität…und keine durch die Zentralautorität garantierte Einheit“ (H, 33).
Luthers Aufstand hatte gute Gründe. Im alten katholischen Europa gab es vor dem Aufstand Luthers eine Fülle klerikaler Pfründen, Pachtzinsen, Feudalabgaben, alle möglichen Arten von Einnahmen für den Unterhalt von Bischofssitzen, Domkapiteln, Pfarren, Klöstern und Konventen (vgl. H, 161). “Das Ereignis, das eine Explosion provozierte, war ein kleines und unbedeutsames“: der Handel mit Ablässen (vgl. H, 147). Dieser Missbrauch, die Käuflichkeit des Seelenheils, beruhte auf einem Prozess, der die ganze Kirchengeschichte durchzog: dem Prozess der „Verweltlichung“, Die „Weltlichkeit des Amtsklerus“ (H, 147) sorgte lange vor Luther für Unmut und „Querelen zwischen den Laien und dem Klerus“ (H, 166).
Der Heilige Stuhl als Zentralautorität der gesamten Christenheit war schon lange (Anm.: vor Luther) in einen tödlichen Streit mit der Laienmacht verwickelt, die „das Reich“ genannt wurde, „d. h. den Kaisern deutscher Herkunft, die eine allgemeine, aber sehr komplizierte und vielgestaltige und oft nur schattenhafte Autorität nicht nur in den deutschsprachigen Ländern, sondern auch über Norditalien und einen Gürtel des heutigen Ostfrankreichs sowie über die Niederlande und gewisse Gruppen von Slawen“ ausübte (H, 141). Belloc empfiehlt deshalb zur Erklärung der protestantischen Reformation mindestens auf die Auseinandersetzung des Staufer-Kaisers Friedrich II.(1194–1250) mit Rom zurückzugehen (vgl. H, 141f). Das Papsttum siegte zwar über die Staufer, doch seine Kräfte waren erschöpft. Von neuem bedrängt, musste der Papst im 14. Jahrhundert Rom aufgeben und in Avignon residieren (1307–1377). In dieser Zeit der Wirren brach die Pest aus (1347) und raffte gut ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung hinweg. Die einander bekriegenden Könige Englands und Frankreichs mit ihren wechselnden Verbündeten stellten den Päpsten immer wieder Gegenpäpste entgegen und halfen dadurch mit, die Autorität und Glaubwürdigkeit der Kirche zu untergraben (vgl. H, 145). Was als eine Art Familienstreitigkeit begann, endete mit der Teilung des Abendlandes in zwei Kulturen, die protestantische und die katholische. Dafür sorgte der Dreißigjährige Religionskrieg (1628–1648), der in einer „Sackgasse“ endete (H, 157). Religion wurde durch den Fürstenabsolutismus zu einer Sache staatlicher Willkür – „cuius regio, eius religio“. Der auf dem Reichstag zu Augsburg (1555) beschlossene „Religionsfriede“ stellte die protestantische Religion mit der katholischen gleich und wertete damit die letztere und ältere ab. Durch Calvin (1509–1564) wurde die protestantische Religion auf puritanische („reinigende“) Weise gefestigt und gestärkt. Calvin wurden bei den Feiern zu seinem 500. Geburtstag als Nachwirkungen seines rigorosen Eintretens für die protestantische Sache die Schaffung der neuzeitlichen Demokratie und der Menschenrechte, die Glorious Revolution, die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Bill of Rights, die Erklärung der Bürger- und Menschenrechte, die Französische Revolution, die Charta der Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Deutsche Reichsverfassung von 1849, die Weimarer Verfassung und sogar das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland samt dem Bundesverfassungsgericht zugeschrieben. Ganz im Gegensatz dazu sieht Belloc in Calvin die Hauptfigur unter jenen, „die für die Zerstörung der alten Religion waren“, den Gründer „einer neuen Religion“ und einer „Gegenkirche“ (H, 155): „Er (Anm.: Calvin) formulierte eine völlig neue Theologie, in der kein Platz war für Priestertum und Sakramente. Er startete einen Angriff, der nicht nur antiklerikal, sondern destruktiv war…“ (H, 155). Der Kern seiner Theologie besteht – nach Belloc – in „einer Zuschreibung des Bösen in die göttliche Natur selbst“, die Vorstellung „eines Moloch-Gottes“. (H, 155). In gewissem Sinne wurde diese Zuschreibung von Luther vorweggenommen, denn, so lehrte er, „muss Gott zum Teufel werden, bevor er Gott wird“. (WA 31,I, 249, 25–26) Von Gott sagt Luther „ego sum qui creo bonum et malum, so mächtig ist Gott, dass er den größten Widerspruch mit seiner eigenen ewigen Natur vereinen kann“ (WA 40 II, 417).2
Wie dem auch sei: Die mit dem Augsburger Religionsfrieden erfolgte Gleichstellung des Protestantismus mit der Religion der Römisch-Katholischen Kirche ließ das Interesse an religiösen Fragen in den Hintergrund treten. Politisch traten die Machtausweitung auf die neu entdeckten Gebiete Amerikas sowie die Kolonialisierung Afrikas und Indiens in den Vordergrund. England, Holland, Spanien, Portugal, Frankreich und das Habsburger Imperium, „in dem die Sonne nicht unterging“, strebten nach Reichtum durch Beherrschung von Landmassen und Meeren. In den Naturwissenschaften sorgte die „Kopernikanische Wende“ (Kopernikus 1473–1543) für die Ablösung des kirchlich-geozentrischen durch das heliozentrische Weltbild. Die Erde war nicht mehr der Nabel der Schöpfung. Und auch das Verhältnis des Menschen zur Natur änderte sich. Geforscht wurde nach Ursache und Wirkung, nicht nach Gott. Die kausale Methode verbannte Gott in den Himmel. Aber auch dort wurden ihm Fesseln auferlegt. Mit der Entdeckung der Regeln für die Bewegung der Himmelskörper durch Kepler (1571–1630) und dem Gravitationsgesetz durch Newton (1571–1630) wurde Gott zu einer entbehrlichen Hypothese.
Geistig und politisch war der römische Katholizismus derart erschüttert, dass bei Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) der junge, energische Schwedenkönig Gustav Adolf II. (1594–1632) beinahe mühelos große Teile der dem Kaiser treuen Gebiete in Deutschland besetzen und ausplündern konnte. Für Belloc ist es ein weiterer „Treppenwitz der Geschichte“, dass das katholische Frankreich die protestantischen Schweden aufhetzt, gegen die katholischen Habsburger in den Krieg zu ziehen, und ausgerechnet Kardinal Richelieu den Schweden drei Tonnen Gold schenkt, damit sie in ihren Kriegsanstrengungen nicht erlahmen (vgl. H, 160). Kein Wunder, dass das religiöse Thema „sich verlor“ (H, 163) und auf verbreiteten Skeptizismus stieß (vgl. H, 171). Philosophische Debatten wurden unter Protestanten, die keine Lehrautorität anerkannten, freier geführt als unter Katholiken. Das kam dem Wettbewerb und Innovationsgeist zugute. „Die protestantische Kultur war (Anm.: im 17. und 18. Jahrhundert) zum eindeutigen Führer der weißen Zivilisation geworden“ (H, 177).
England wurde zur beherrschenden Seemacht und verleibte sich Indien ein. Eine große Mehrheit unter den Engländern und Schotten „sah den Katholizismus als etwas den Landesinteressen Fremdes an.… und (war) von einem heftigen Hass auf den Katholizismus erfüllt, wie man ihn sonst in Europa nirgendwo vorfand“ (H, 167f). Frankreich war innerlich zerstritten, Klerikale und Antiklerikale ritterten um die Vormacht. Italien fehlte es an Einheit. Unter König Friedrich II. wurde Preußen zur führenden Landmacht in Europa. Das Habsburgerimperium begann zu zerfallen. Die protestantischen holländischen Kaufleute „waren in den Anfängen des modernen Bankwesens richtungsweisend, England folgte sogleich“ (H, 170f). Und nur „sehr wenige sahen voraus, was die neue Republik in Nordamerika für die Zukunft bedeuten würde“ (H, 174).
„Am Ende des achtzehnten und bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein fanden die Religionskriege und die Napoleonischen Kriege statt. Auch sie vermehrten die allgemeine Stärke des Protestantismus und schwächten die katholische Kultur“ (H, 174). Die Französische Revolution war eine antiklerikale Bewegung und ihr Erbe, Napoléon, war selbst kein gläubiger und praktizierender Katholik (vgl. H, 174): Sein Scheitern im Russlandfeldzug trug zum Abstieg Frankreichs entscheidend bei. Die Errichtung der parlamentarischen französischen Republik begann die französische Zivilisation und militärische Widerstandskraft zu ruinieren und stärkte die antikatholische Partei (vgl. H, 176). Das militärisch disziplinierte Preußen besiegte die französische Armee in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts „plötzlich und vollständig, nahm Paris ein und annektierte an französischem Territorium, was ihm gefiel“ (H, 176).
Doch auch der preußische Traum von einer Neuordnung Europas zerstob in wenigen Jahrzehnten. Spätestens gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts rührten sich die Gegenkräfte und schnitten die protestantische Kultur von ihrer Wurzel ab (H, 179).
Der „moderne Geist“
Ihm widmet Belloc das letzte Kapitel „Die moderne Phase“ (H, 187–209). Für sie ist kennzeichnend, dass sie keine bestimmte Glaubenshäresie darstellt, sondern die Existenz des Glaubens selbst angreift und ihn vernichten will (vgl. 187). Die Moderne kann zwar die Kirche nicht zerstören, doch die Kirche wird aus den Sachgebieten, in denen sie überlebt, „bis auf letzte Stellungen“ zurückgedrängt, „bis es so aussehen könnte, als sei der Antichrist gekommen..“ (H, 187).
Der Streit findet in der heutigen modernen Phase „statt zwischen der Kirche und der Antikirche, der Kirche Gottes und der des Antigottes, der Kirche Christi und der des Antichristen“ (H, 188f). Der antichristliche Vormarsch hat zum Ziel „die Zerstörung der katholischen Kirche und der Zivilisation, die aus ihr hervorgeht“ (H, 190). Für die Moderne ist Gott „nichts anderes als eine Ausgeburt der Phantasie“, „ein Hirngespinst“ und keine Realität oder „Wirklichkeit“ (H, 194). Die Leugnung der Wirklichkeit Gottes nimmt dem Menschen seine Würde, verneint seinen freien Willen und macht ihn zum Sklaven. Am deutlichsten wird dies im Kommunismus. „Kommunismus ist die Ausbeutung durch den Staat“ (H, 196).
„Der Kommunismus leugnet Gott, die Würde und macht den Menschen zum Sklaven dessen, was er Staat nennt – was jedoch tatsächlich nichts anderes ist als eine Gruppe von begünstigten Beamten“ (H, 197), der Nomenklatura.
In keinem System ist die Ausbeutung von Menschen durch Menschen so fortgeschritten und vollkommen wie im Kommunismus. Einen Wesensunterschied macht es für Belloc allerdings nicht, ob die Ausbeutung und Versklavung durch die Nomenklatura oder im modernen Kapitalismus „durch wenige Besitzer der Produktions‑, Transport- und Tauschmittel“ erfolgt (H, 195), die Masse der Menschen enteignet ist und die Fähigkeit verloren hat„ „ihr eigenes Leben zu bestimmen“ und außerdem „Not und Unsicherheit“ erleidet“ (H, 195). „Wenn der Großteil der Familien eines Staates ohne Eigentum ist, dann werden diejenigen, die einst Bürger waren, zu Sklaven. Je mehr der Staat einspringt, um die Sicherheits- und Lebensbedingungen durchzusetzen: je mehr er Löhne reguliert, für obligatorische Versicherung, ärztliche Versorgung und Erziehung sorgt und im Allgemeinen das Leben der Lohnarbeiter zum Vorteil der Firmen und Arbeitgeber in Beschlag nimmt“, dann wird nach wenigen Generationen eine „Art von Staatssozialismus auf das Gemeinwesen geschweißt und genietet, dass kein Entfliehen möglich ist“ (H, 196).
Belloc beschließt sein Buch über „die großen Häresien“ mit dem Hinweis, dass wir in der modernen Phase nun an einem Scheidepunkt angekommen sind, in dem auf der einen Seite die katholische Kirche steht und ihr antichristlicher Todfeind auf der anderen. Offen lässt Belloc, welcher „Antagonist siegen wird“ (H, 209).
Die Feinde der Kirche
„Die Großen Häresien“ sind im Wesentlichen eine religions- und kirchengeschichtliche Analyse. Ihr voraus lieferte Belloc eine mehr geistes- und philosophiegeschichtliche Untersuchung über „Die alten und die neuen Feinde der Kirche“ unter dem englischen Titel „Survival and Arrival“ (1929), die nun auch in deutscher Sprache vorliegt: „Gegen Mächte und Gewalten“ (GMG). Gleich in der Einleitung zu seinem Buch weist Belloc daraufhin, dass „die Ausgestaltung jeder Gesellschaft abhängig von ihrer Philosophie“ sei (GMG, 22). „Unser Schicksal wird nicht durch wirtschaftliche Verhältnisse bestimmt (GMG, 23), sondern durch unsere Geisteshaltung und den aus ihr hervorgehenden „Moralkomplex“: “Jedes wichtige politische Problem, jede wirtschaftlich wichtige Frage ist ein Ergebnis der Philosophie, die dahintersteht“ (GMG, 25). Als Beispiel führt Belloc den „Industriekapitalismus“ an, der sich aus einer „falschen Religion“ entwickelt habe, nämlich „aus der Reformation, insbesondere aufgrund calvinistischer Einflüsse“ (GMG, 23). Ohne auf ihn zu verweisen, nimmt Belloc hier die berühmte These von Max Weber aus den Jahren 1904 und 1905 auf, die protestantische Ethik präge den „Geist des Kapitalismus“3. Belloc sieht im Vordringen dieser „falschen Religion“ in der Moderne den Rückfall in die Sklaverei oder, wie Max Weber es ausdrückt, „in die stählernen Gehäuse der Hörigkeit“ verursacht. In seinem 1912 erschienenen Buch „Der Sklavenstaat“ beschreibt Belloc diesen Rückfall in die Sklaverei, von dem vor allem jene Gesellschaften betroffen sind, „welche im 16. Jahrhundert mit der Kontinuität der christlichen Kultur gebrochen haben“ (Der Sklavenstaat, 174). Belloc hegte noch die Hoffnung, dass dieser Rückfall aufgehalten wird. Für uns wurde diese Hoffnung mit der „Brave New World“, der „Animal Farm“, „1984“, der „Digitalisierung“, der „Künstlichen Intelligenz“ und dem sozialstaatlichen „Tittitainment“ endgültig begraben.
Für Belloc sind es „die Feinde der Kirche“, welche mit ihrer durch Macht und Gewalt durchgesetzten „falschen Religion“ diesen Rückfall in die „neuheidnische“ Sklaverei bewirkt haben. Als geistes- und philosophiegeschichtlich in dieser falschen Religion wirksame Elemente gibt Belloc uns zu erkennen:
- Den verbreiteten MATERIALISMUS
Also jene Auffassung, wonach alle gesellschaftlich bedeutsamen Handlungen auf materielle Beweggründe oder „Interessen“ zurückzuführen sind (vgl. GMG, 54). Es widerspricht dies der „richtigen Religion“ und kirchlichen Auffassung, dass das „Heil“ von der Erfüllung der Bestimmung des Menschen und der Gesellschaft abhängt, „das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen“ (vgl. Mt 6, 25–34). - Den FUNDAMENTALISMUS
Er ist vor allem bei Evangelikalen, Pfingstlern und anderen Sekten anzutreffen, die die Einheit der Kirche zerstören. Sie bezeichnen sich als „bibeltreu“, lehnen jedoch das Lehramt der katholischen Kirche und des Papstes ab (GMG, 60). - Den NATURALISMUS
Er führt alle Erscheinungen, Ereignisse, Entwicklungen, Erkenntnisse, Handlungen und Gefühle auf natürliche Ursachen zurück und erklärt sie auf naturwissenschaftliche Weise. Astrophysikalische, mechanische, atomare, subatomare, evolutive, assoziativ-psychologische Vorgänge und Spekulationen ersetzen den Glauben an Gott, den Schöpfer aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge. „Alles Übernatürliche: die Geburt unseres Herrn aus einer Jungfrau, die Wunder, die Inkarnation, die Eucharistie, die Offenbarung, die Unsterblichkeit – das gesamte Glaubensbekenntnis“ wird bestritten und „die ganze Grundlage des Glaubensbekenntnisses“ abgelehnt (vgl. GMG, 107). „Das Übernatürliche, das Außergewöhnliche war unmöglich“ (GMG, 106). Belloc hält die Ausdehnung naturwissenschaftlicher Methoden auf Religion, Metaphysik, Philosophie und Kulte für eine unzulässige Grenzüberschreitung. (vgl. GMG, 106). - Den LAIZISMUS
Nach der Französischen Revolution verbreitete sich die Vorstellung vom laizistischen Staat in ganz Europa (vgl. GMG, 50). Der Laizismus als Bildungsideal kommt jenen entgegen, die Religion für Privatsache und für gewöhnlich auch als Einbildung ansehen (vgl. GMG, 51) „Die katholische Position geht vom Prinzip aus, dass eine katholische Gesellschaft, in der Kirche und Staat miteinander verbunden sind, das Ideal darstellt“ (GMG, 51). - Den REPUBLIKANISMUS
Er beruht auf der These, nach der allein die bürgerliche Gesellschaft im Besitz der legitimen Gewalt sein könne und der Glaube nicht mehr sei als eine private Meinung einzelner Bürger. Nach kirchlicher Auffassung „geht alle Gewalt von Gott aus“ (vgl. Röm 13, 1), auch die des „Kaisers“. „Außerdem gründet sich auch die allgemeine Gesellschaftsordnung auf denselben hierarchischen Vorstellungen, die die hierarchische Organisation der katholischen Kirche bestimmen“ (GMG, 48). In wohlgeordneten Gesellschaften erfolgt die legitime Übertragung von Macht und Regierungsgewalt von oben nach unten (top down), nicht von unten nach oben (bottom up) (vgl. GMG, 48). - MACHT UND WOHLSTAND
Nach Belloc verweist dieses Argument auf den Verfall der militärischen Stärke und des Wohlstandes in katholischen Ländern im Vergleich zum Aufstieg in protestantischen Ländern (vgl. GMG, 54 und 75). Gegen dieses Argument wendet Belloc ein, dass der Zweck einer Religion oder einer Philosophie nicht darin besteht, Menschen reich oder mächtig, sondern endgültig glücklich zu machen, d. h. ihrem Daseinszweck gerecht zu werden. „Wenn ein derartiges Glück für unsterbliche Menschenseelen erreichbar ist, kann es nicht in einem sterblichen und vergänglichen, sondern nur in einem endgültigen und unvergänglichen Glück gesucht werden“ (GMG, 76). Belloc führt gegen die Wohlstandsillusion Thomas von Aquin mit der Antwort auf die berühmte Questio ins Treffen, „Ob die Seligkeit des Menschen im Reichtum besteht?“ (Summa theologiae I–II q.2 a. 1), muss allerdings zugeben, dass „selbst dort, wo der Glaube erhalten geblieben ist, die Menschen übermäßig nach Wohlstand und Macht streben. Wo der Glaube verloren ist, streben sie nach gar nichts anderem mehr“ (GMG, 77). - Den RATIONALISMUS
Für den Rationalismus ist allein dieses Streben nach Macht und Wohlstand „vernünftig“. Der Rationalismus ist die Denkweise der „Aufklärung“. Sie hofft, alle Probleme und Erscheinungen durch die Vernunft aufklären und den Erkenntnisfortschritt lösen zu können. Die Aufklärung lässt keinen Raum für Metaphysik und Offenbarung. Sie gipfelt in der Feuerbachthese, wonach Gott ein Geschöpf des Menschen ist und nicht der Mensch ein Geschöpf Gottes. Für Belloc gehören jene, „die in den alten Kategorien von Aufklärung und Fortschritt denken“, zu den „Begriffsstutzigen“ (GMG, 76). - Den SKEPTIZISMUS
Skeptizismus ist die Einstellung, alle Aussagen zu bezweifeln und als nichtwissenschaftlich einzustufen, die nicht empirisch oder auf mathematische Weise logisch bewiesen werden können. Die Theologie ist daher keine „Wissenschaft“. Für die Existenz Gottes gibt es keinen Beweis. Der Skeptizismus lehnt Wahrheitsaussagen grundsätzlich ab. Er kennt nur „Hypothesen“, die ständiger Veränderung und Erweiterung unterliegen (vgl. GMG, 103 und 161). Hypothesen gelten nur so lange, als sie nicht durch Beobachtung und Experiment „falsifiziert“ sind. Für Belloc ist der Skeptizismus Ausdruck des „modernen Geistes“, der religiöse Überzeugungen nur als „private Meinung“ toleriert und die Kirche als „humanitäre Organisation“ gelten lässt. Belloc sieht darin die Widerspiegelung freimaurerischer Auffassungen (GMG, 147). Das Programm der Freimaurerei ist die „Zerstörung der Kirche“ (ebenda). - Den NATIONALISMUS
Patriotismus hat es immer schon gegeben. Er ist sorgfältig vom Nationalismus zu unterscheiden, der die Nation zum Selbstzweck macht (GMG, 123). Nationalismus steht „im Widerspruch zur Universalität des Katholizismus“ (GMG, 126). Die nachteiligen Auswirkungen auf die Erziehung und Bildung der Jugend durch die Vereinnahmung dieser Funktionen durch den Staat sind für die christliche Zivilisation und Moral höchst abträglich. Sie reichen hinein in die Bereiche Literatur, Geschichte, Geographie und verstärken antikatholische Tendenzen. Politisch führen sie zur Diskriminierung von Katholiken, die unter dem Deckmantel der Neutralität immer mehr zunimmt. Bekennenden Katholiken wird häufig die Anstellung im öffentlichen Dienst verweigert und öffentliche Gelder jenen katholischen Schulen und Institutionen nicht gewährt, die das „liberale“ Staatssystem ablehnen (vgl. GMG, 146). - Den ANTIKLERIKALISMUS
In seinem Reifestadium bezweckt der Antiklerikalismus „die katholische Kirche mit Stumpf und Stiel auszurotten“ (GMG, 148). Zwischen der Kirche und dem Antiklerikalismus herrscht ein „Kampf um Leben und Tod“ (GMG, 148). Im Zeitpunkt der Abfassung seiner Schrift (1929) äußert Belloc die Befürchtung, dass zumindest in Frankreich der Antiklerikalismus den Sieg erringen konnte „und der Glaube dort nur noch bei einer Splittergruppe erhalten bleiben wird“ (GMG, 150). - Den „MODERNEN GEIST“
Nach Belloc hat der Antiklerikalismus ein „Neuheidentum“ hervorgebracht, welches das Wesen des „modernen Geistes“ kennzeichnet: Diesem Neuheidentum ist im Prinzip gemein, „dass der Mensch sich selbst genügt“ und „das Handeln einer absoluten göttlichen Autorität durch Offenbarung“ zurückgewiesen wird (GMG, 203). Doch der Mensch, auf sich selbst gestellt, steht vor dem Nichts, wie uns der Existentialist Sartre gezeigt hat. Um diesem Nichts zu entgehen, verschreibt er sich „toten oder sterbenden Ideologien“ (GMG, 165) oder „Pseudoreligionen“: dem Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, Nationalismus, Faschismus und ähnlichen „Sumpfgewächsen“, aus denen das Neuheidentum besteht (vgl. GMG, 193). Das Neuheidentum „wirkt mittels einer versuchten Leugnung von Gut und Böse, das alles zersetzt, was es berührt“ (GMG, 197). „Man kann es in der Architektur, in der Malerei, Literatur und Moral wahrnehmen“ (GMG, 227). Es verbreitet sich wie „die Fäulnis über die Ernte“ (GMG, 227), und endet in der Verzweiflung (GMG, 197) oder, wie das der Heilige Papst Johannes Paul II. nicht müde wurde, uns vor Augen zu stellen, mit „der Kultur des Todes“4
Für deutsche Leser sind die Bücher von Hilaire Belloc wohl „gewöhnungsbedürftig“. Es ist nicht jedermanns Sache, mit kompromisslosen Aussagen konfrontiert zu werden. Doch wir stehen an einem Scheideweg. Auf der einen Seite steht die katholische Kirche, auf der anderen ihr Feind, der Antichrist. Von unserer Entscheidung hängt ab, ob die christlich geprägte Kultur und Zivilisation Europas überleben wird oder untergeht.
*Univ.-Doz. em. Dr. Friedrich Romig, der Beitrag findet sich in gedruckter Ausgabe mit geringfügigen Unterschieden auch in der aktuellen katholischen Monatszeitschrift Theologisches, Nr. 11/12 (Nov/Dez 2020).
Alle drei Belloc-Bücher können über unsere Partnerbuchhandlung erworben werden.
Weitere Beiträge von Friedrich Romig:
- Augustin Cochin: Die Französische Revolution „satanique“
- Was läuft falsch?
- Über die Notwendigkeit des gewaltsamen Widerstandes gegen das Böse
- „Consummatum est“ – Léon Bloy: Das Heil durch die Juden.
Bild: Renovamen-Verlag (Screenshots)
1 · Hilaire Belloc: Die Großen Häresien. Der Kampf gegen Europa. Aus dem Englischen übersetzt von Julian Voth. 209 Seiten, 3. Aufl. Renovamen-Verlag, Bad Schmiedeberg 2020 (zitiert als H + Seite), ISBN 978–395621-135–2- Brosch. € 16,–
· Hilaire Belloc: Gegen Mächte und Gewalten – die alten und die neuen Feinde der katholischen Kirche. Aus dem Englischen übersetzt von Julian Voith. 239 Seiten. 1. Aufl., Renovamen-Verlag, Bad Schmiedeberg 2020 (zitiert als GMG + Seite), ISBN 978–95622-138–6. Brosch. € 16,–
· Hilaire Belloc: Der Sklavenstaat. Aus dem Englischen übersetzt von Arthur Salz. 176 Seiten. 2. Aufl. Renovamen-Verlag, Bad Schmiedeberg 2020 (zitiert als Sklavenstaat + Seite), ISBN 976–395622-137–9. Brosch. € 16,–
2 Aus: Prof. Alma von Stockhausen: Vorträge und Aufsätze, Bd. 2: Von Luther über Hegel zu Karl Rahner. Luthers Theologie – eine Autobiografie. Verlag Wilhelm Bierbronnen: Gustaf-Sieverth-Akademie, 2. Aufl. 1995. S. 150–176.
3 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Archiv für Staatswissenschaft und Sozialpolitik. H. 20/1904, S 1–54 und H. 21/1905, S. 1–110.
4 Johannes Paul II.: Enzyklika Evangelium vitae, Rom, 25. März 1995.
Gott sei Dank gibt es noch Gottesdiensträume in kontemplativen Klöstern, wo man noch die Heilige Eucharistie ohne Anwesenheit von Provokateuren und Ungläubigen feiern kann oder junge Provokateure, angestiftet von ihren Prägungsvermittlern, den Priester nachäffen oder sich gar das Allerheiligste Sakrament des Altares provokativ auf die Schuhsolen kleben (gelegentlich zu sehen wenn man in der Kirche bei der Messe hinten steht).
Vorgestellt ein neues Buch „Live Not by Lies: A Manual for Christian Dissidents“ in kath.net, das Wege für die Gläubigen aufzeigt, wenn die Anfeindungen noch mehr zunehmen sollten und der Satan noch mehr Macht erhält:
„Eine bewusste Entscheidung für Gott, Freundschaften in kleinen, geheimen Zirkeln und starke Familien sind für Christen notwendig, um in Zukunft ihren Glauben bewahren zu können, schreibt Rod Dreher. Für sein neues Buch „Live Not by Lies: A Manual for Christian Dissidents“ hat der Journalist und Autor Rod Dreher mittel- und osteuropäische Zeitzeugen der kommunistischen Diktaturen gefragt, ob sich ihrer Ansicht nach die USA in Richtung Totalitarismus bewegen. Alle hätten das bejaht, schreibt Dreher.“
http://kath.net/news/73615