Schlagabtausch zur Ukraine, zu Corona, „starken Kräften“ und zum Wesen und der Zukunft des Westens

Zwei offene Briefe: die Fragen von Silvana De Mari und die Antworten von Roberto de Mattei


Der Historiker Roberto de Mattei und die Ärztin Silvana De Mari, beide sind auch bekannte Publizisten, liefern sich einen Schlagabtausch, der die Kluft widerspiegelt, die seit zwei Jahren auch durch die Welt der Tradition geht.
Der Historiker Roberto de Mattei und die Ärztin Silvana De Mari, beide sind auch bekannte Publizisten, liefern sich einen Schlagabtausch, der die Kluft widerspiegelt, die seit zwei Jahren auch durch die Welt der Tradition geht.

Am 31. März ver­öf­fent­lich­te die katho­li­sche Ärz­tin, Schrift­stel­le­rin und Kolum­ni­stin Sil­va­na De Mari einen offe­nen Brief an Prof. Rober­to de Mat­tei wegen des­sen Posi­tio­nen zum Ukrai­ne-Kon­flikt, aber auch zur Coro­na-Pan­de­mie. De Mari, die auch stän­di­ge Kolum­ni­stin der Tages­zei­tung La Veri­tà ist, for­mu­lier­te 30 Fra­gen an den Histo­ri­ker de Mat­tei, der zu den Vor­den­kern der tra­di­tio­nel­len Katho­li­zi­tät zählt. Bei­de gehö­ren zur katho­li­schen Tra­di­ti­on, bei­de sind bekann­te Publi­zi­sten. Bei­de offe­nen Brie­fe wur­den von Una Vox Ita­li­en veröffentlicht.

Anzei­ge

Sil­va­na De Mari gehört zu den rund 1.500 Ärz­ten der Ärz­te­kam­mer Turin, die sich nicht mit dem expe­ri­men­tel­len Covid-Prä­pa­rat „imp­fen“ haben las­sen. Sie ist zudem eine von 341 Ärz­ten, die von die­ser Ärz­te­kam­mer des­halb im Vor­jahr sus­pen­diert wur­den. Die Sus­pen­die­rung, gegen wel­che die Betrof­fe­nen die Gerich­te ange­ru­fen haben, gilt vor­erst bis zum 15. Juni. De Mari erlebt Coro­na-Maß­nah­men als erschrecken­de Will­kür, die unver­nünf­tig und unbe­grün­det ist.

Am 5. April ant­wor­te­te Prof. de Mat­tei mit einem offe­nen Brief auf die Fra­gen De Maris. Obwohl auf der einen Sei­te Fra­gen, auf der ande­ren Ant­wor­ten for­mu­liert wer­den, und dadurch ein gewis­ses Ungleich­ge­wicht herrscht, spie­gelt der Schlag­ab­tausch in den bei­den offe­nen Brie­fen den­noch jene Kluft wider, die seit Beginn der radi­ka­len Coro­na-Maß­nah­men auch die Welt der Tra­di­ti­on spal­tet. Die­se Kluft ist eine Tat­sa­che, die sich mit eini­gen Akzent­ver­schie­bun­gen im der­zei­ti­gen Ukrai­ne­kon­flikt fort­setzt. Wir doku­men­tie­ren den Schlag­ab­tausch De Mari–de Mat­tei, weil dar­in in direk­ter Form die gegen­sätz­li­chen Posi­tio­nen ange­spro­chen wer­den und jeder sel­ber prü­fen kann, ob die Fra­gen berech­tigt bzw. die Ant­wor­ten ange­mes­sen sind.

Sehr geehrte Frau Dr. De Mari!

Ich kann nicht anders. als die Fra­gen zu beant­wor­ten, die Sie mir freund­li­cher­wei­se in Ihrem Brief nach mei­nem Bei­trag über den rus­si­schen Krieg und die Bot­schaft von Fati­ma stel­len. Ich habe Ihre Fra­gen nume­riert, um mei­ne Ant­wor­ten zu verdeutlichen.

Nr. 1

Sil­va­na De Mari: Indem Sie die Fak­ten zitie­ren, begin­nen Sie mit der Aner­ken­nung der Repu­bli­ken Donezk und Lug­ansk durch Ruß­land im Febru­ar 2022. Wäre es nicht ange­bracht, zumin­dest bis 2014 zurück­zu­ge­hen, als ein fremd­ge­steu­er­ter Putsch, der angeb­lich von Vic­to­ria Nuland mit über fünf Mil­li­ar­den Dol­lar finan­ziert wur­de, ein Mario­net­ten­re­gime in der Ukrai­ne instal­lier­te und ein Krieg gegen die­se bei­den Repu­bli­ken begann, der über 14.000 Tote unter der Zivil­be­völ­ke­rung zur Fol­ge hat­te?

Rober­to de Mat­tei: Ich habe den Ein­druck, daß Sie bezüg­lich die­ser Ereig­nis­se das Nar­ra­tiv des Kremls wie­der­ho­len und dabei ver­ges­sen, daß der eigent­li­che Staats­streich vom pro­rus­si­schen Prä­si­den­ten der Ukrai­ne Vik­tor Janu­ko­witsch (2010–2014) ver­sucht wur­de, als er zwi­schen 2013 und 2014 den Befehl zur gewalt­sa­men Nie­der­schla­gung der soge­nann­ten Euro­mai­dan-Demon­stra­tio­nen gab, benannt nach dem Platz in Kiew, auf dem sich die Demon­stran­ten ver­sam­mel­ten. Hin­ter­grund der Pro­te­ste war die Wei­ge­rung von Prä­si­dent Janu­ko­witsch, ein Asso­zi­ie­rungs- und Frei­han­dels­ab­kom­men zwi­schen der Ukrai­ne und der Euro­päi­schen Uni­on zu unter­zeich­nen. Als die Demon­stran­ten am 18. und 20. Febru­ar 2014 zum Kie­wer Par­la­ment mar­schier­ten, eröff­ne­ten Poli­zei und Spe­zi­al­ein­hei­ten das Feu­er und töte­ten fast 100 Men­schen. Janu­ko­witsch war dar­auf gezwun­gen, nach Ruß­land zu flie­hen, wo er eine bewaff­ne­te Inter­ven­ti­on von Mos­kau anstreb­te. Rus­si­sche Trup­pen, die kei­ne regu­lä­ren Uni­for­men tru­gen, dran­gen auf die Halb­in­sel Krim und in die Regi­on Don­bass ein und über­nah­men die Kon­trol­le. Es war der Beginn eines Bür­ger­kriegs, der von Ruß­land und nicht von der Ukrai­ne aus­ge­löst wur­de. Sie schei­nen die 14.000 Opfer des Kon­flikts den pro­rus­si­schen Sepa­ra­ti­sten zuzu­schrei­ben, aber laut dem offi­zi­el­len Doku­ment des Hohen Kom­mis­sars für Men­schen­rech­te der Ver­ein­ten Natio­nen umfaßt die­se Zahl zwi­schen dem 14. April 2014 und dem 31. Dezem­ber 2021 alle zivi­len und mili­tä­ri­schen Ver­lu­ste, die bei­de Sei­ten erlit­ten haben: die Regie­rung in Kiew und die pro-rus­si­schen Sepa­ra­ti­sten.
Mos­kaus Pro­pa­gan­da und mili­tä­ri­sche Ein­mi­schung in die Kri­se ist weit­aus grö­ßer als das, was Sie der Diplo­ma­tin Vic­to­ria Nuland zuschrei­ben, die von US-Prä­si­dent Barack Oba­ma ent­sandt wur­de, um die Kri­se zu lösen – mit wenig Erfolg. Um die­se Ereig­nis­se in die kom­ple­xe Geschich­te der Ukrai­ne ein­zu­ord­nen, emp­feh­le ich die Lek­tü­re einer aus­ge­wo­ge­nen Stu­die von Gior­gio Cel­la, Pro­fes­sor an der Katho­li­schen Uni­ver­si­tät vom Hei­li­gen Her­zen (Mai­land): „Sto­ria e geo­po­li­ti­ca del­la cri­si ucrai­na“ (Geschich­te und Geo­po­li­tik der Ukrai­ne-Kri­se), Caroc­ci, Rom 2021.

Nr. 2

Sil­va­na De Mari: Wäre es nicht ange­bracht gewe­sen, die Nicht­ein­hal­tung der Mins­ker Ver­ein­ba­run­gen durch die Ukrai­ne zu erwäh­nen, mit dem Schweigen/​der Zustim­mung der west­li­chen Staa­ten?

Rober­to de Mat­tei: Die Ver­ein­ba­run­gen von Minsk in Weiß­ruß­land wur­den am 6. Sep­tem­ber 2014 nach dem Ein­marsch Ruß­lands auf der Krim und den Zusam­men­stö­ßen im Don­bass unter­zeich­net und durch einen zwei­ten Waf­fen­still­stand, der am 11. Febru­ar 2015 in Minsk geschlos­sen wur­de, bekräf­tigt. Der erste Punkt war ein Waf­fen­still­stand, der jedoch von bei­den Sei­ten wie­der­holt gebro­chen wur­de, wie die bereits erwähn­te Zahl von 14 000 rus­si­schen und ukrai­ni­schen Opfern im Don­bass zeigt. Sie ver­ges­sen, daß zwan­zig Jah­re zuvor, am 5. Dezem­ber 1994, in Buda­pest ein Memo­ran­dum von Ruß­land, der Ukrai­ne, den USA und dem Ver­ei­nig­ten König­reich unter­zeich­net wur­de: Ruß­land ver­pflich­te­te sich im Gegen­zug zur nuklea­ren Abrü­stung Kiews, nicht in die Ukrai­ne ein­zu­mar­schie­ren und deren Gren­zen und ter­ri­to­ria­le Inte­gri­tät zu respek­tie­ren. Die Ver­ein­ba­run­gen wur­den erst­mals 2014 mit der rus­si­schen Anne­xi­on der Krim und nun ein zwei­tes Mal am 24. Febru­ar mit dem Ein­marsch in die Ukrai­ne gebro­chen. Eine gute Zusam­men­fas­sung fin­den Sie über fol­gen­den Link.

Nr. 3–4

Sil­va­na De Mari: Fin­den Sie es nicht selt­sam, daß bei der Coronavirus-„Pandemie“ die­sel­ben west­li­chen Staa­ten, dar­un­ter ins­be­son­de­re Ita­li­en, sich her­vor­ge­tan haben und unter dem Vor­wand der Gesund­heit die Frei­heit ver­wei­gern?
Und fin­den Sie es nicht selt­sam, daß man mit dem Ende der Epi­de­mie den Grü­nen Paß nicht abschaf­fen will, der auf der gesund­heit­li­chen Ebe­ne ver­sagt hat und ein­deu­tig ein Instru­ment der Kon­trol­le und der sozia­len Kon­di­tio­nie­rung ist, also das Gegen­teil der geprie­se­nen Frei­heit?

Rober­to de Mat­tei: Die­se Fra­gen schei­nen mir sehr weit her­ge­holt zu sein und haben wenig mit dem The­ma zu tun, um das es geht. Die Anwen­dung illi­be­ra­ler Maß­nah­men ist ein Merk­mal demo­kra­ti­scher Regime seit ihrer Ent­ste­hung, aber ich glau­be nicht, daß dies die Gewalt der tota­li­tä­ren oder auto­kra­ti­schen Regime recht­fer­tigt, die sich die­sen Demo­kra­tien ent­ge­gen­stel­len. Viel­mehr stört mich der Ver­such, eine ideo­lo­gi­sche Kon­ti­nui­tät zwi­schen der Pan­de­mie und dem Krieg in der Ukrai­ne her­zu­stel­len, so als ob sie Teil des­sel­ben „Kom­plotts“ wären. Die Ver­su­chung des Ver­schwö­rungs­den­kens läuft Gefahr, jeden Ver­such einer ernst­haf­ten Ana­ly­se der Ereig­nis­se ins Lächer­li­che zu zie­hen. Die­ser Arti­kel hat sei­ne Aktua­li­tät nicht verloren.

Nr. 5

Sil­va­na De Mari: Wenn die NATO eine rei­ne Ver­tei­di­gungs­or­ga­ni­sa­ti­on ist, die gegen den War­schau­er Pakt gegrün­det wur­de, war­um wur­de sie dann nicht auf­ge­löst, als der War­schau­er Pakt auf­ge­löst wur­de, son­dern statt­des­sen merk­wür­di­ger­wei­se um vie­le Staa­ten erwei­tert, die dem War­schau­er Pakt ange­hör­ten, wodurch die Kriegs­ar­se­na­le der NATO vor die Haus­tür Ruß­lands gebracht wur­den?

Rober­to de Mat­tei: Die von Ihnen beklag­te NATO-Erwei­te­rung um die Län­der des ehe­ma­li­gen War­schau­er Pak­tes wur­de von die­sen Staa­ten gera­de des­halb gewünscht, um sich gegen den post­so­wje­ti­schen impe­ria­len Revan­chis­mus zu ver­tei­di­gen. Ich emp­feh­le Ihnen, die­sen doku­men­tier­ten Arti­kel von Ste­fa­no Magni zu lesen.
Außer­dem ist das heu­ti­ge Ruß­land ein ande­res Rechts­sub­jekt als die UdSSR, die sich 1991 auf­lö­ste. Wie Prof. Pie­tro De Mar­co fest­stell­te: „Nichts von den Gebie­ten und Völ­kern, die Mos­kau durch frei­wil­li­ge Abtren­nung und nicht durch Erobe­rung durch ande­re ver­lo­ren hat, gehört im Prin­zip zum heu­ti­gen rus­si­schen Staat. Zum post­so­wje­ti­schen Ruß­land gehört nur ein mate­ri­el­les oder instru­men­tel­les Über­bleib­sel der Macht, die nuklea­re Abschreckung. Ein Anspruch Ruß­lands auf die Wie­der­erlan­gung der Kon­trol­le über „sei­ne“ ehe­ma­li­gen impe­ria­len Gebie­te, stützt sich auf ein Argu­ment, näm­lich die Geschich­te und histo­ri­sche Not­wen­dig­kei­ten, das unbe­grün­det ist und im Völ­ker­recht und in der inter­na­tio­na­len öffent­li­chen Moral kei­nen Platz hat.

Nr. 6–7

Sil­va­na De Mari: Glau­ben Sie nicht, daß es irre­füh­rend ist, die Irr­tü­mer der UdSSR, wie die Auf­lö­sung der Fami­lie und die Abtrei­bung, Ruß­land und Putin zuzu­schrei­ben? Putin hat die­se Situa­ti­on vor­ge­fun­den, erscheint es Ihnen nicht auch so, daß Putin ver­sucht hat, die­se Situa­ti­on ein­zu­däm­men, indem er die Fami­lie för­dert, die Abtrei­bung ein­schränkt und in der Ver­fas­sung aus­drück­lich fest­hält, daß die Ehe nur zwi­schen einem Mann und einer Frau mög­lich ist?

Rober­to de Mat­tei: Putin ver­sucht, die Abtrei­bung in Ruß­land nicht aus mora­li­schen Grün­den ein­zu­schrän­ken, son­dern aus Sor­ge um die demo­gra­phi­sche Kri­se des Lan­des. Sei­ne Posi­ti­on in die­sem Punkt ähnelt der Sta­lins, der, als er die kata­stro­pha­len Fol­gen der von Lenin und Trotz­ki ein­ge­führ­ten fami­li­en­feind­li­chen Maß­nah­men in der UdSSR erkann­te, 1936 eine Kehrt­wen­de voll­zog, die es ihm ermög­lich­te, den Krieg mit grö­ße­rem Nach­druck anzu­ge­hen. Wäre Putin ein ech­ter Ver­fech­ter der Fami­lie, wür­de er damit begin­nen, die Schei­dungs­ra­te zu begren­zen, bei der Ruß­land den Welt­re­kord hält. In Wirk­lich­keit läßt sich Putin als guter Kom­mu­nist von der „Phi­lo­so­phie der Pra­xis“ lei­ten, und es ist der Prag­ma­tis­mus, und nicht etwa mora­li­sche Grund­sät­ze, der ihn bei­spiels­wei­se dazu bringt, das Mos­kau­er Patri­ar­chat zu unter­stüt­zen, das sei­ner­seits von Putins poli­ti­scher und öko­no­mi­scher Unter­stüt­zung profitiert.

Nr. 8

Sil­va­na De Mari: Ist es nicht so, daß gera­de der Westen ver­sucht hat, LGBTQ-Orga­ni­sa­tio­nen nach Ruß­land zu expor­tie­ren und Gen­der-Theo­rien zu för­dern, denen sich Putin wider­setz­te und damit das Geschrei der Salon-Liber­tä­ren pro­vo­zier­te?

Rober­to de Mat­tei: Die Behaup­tung, „der Westen“ habe LGBTQ-Orga­ni­sa­tio­nen und die Gen­der-Theo­rie nach Ruß­land expor­tiert, ist völ­lig unan­ge­bracht, weil sie den Westen mit Grup­pen und Bewe­gun­gen gleich­setzt, die das Krebs­ge­schwür des Westens sind. Dar­über hin­aus unter­stüt­zen weder Polen noch Ungarn, die die Ukrai­ne offen unter­stüt­zen, Abtrei­bung und Gen­der, wäh­rend sich Weiß­ruß­land, Nord­ko­rea, Eri­trea und Syri­en auf die Sei­te Putins gestellt haben, indem sie gegen die UNO-Reso­lu­ti­on zur Ver­ur­tei­lung des Angriffs auf die Ukrai­ne stimm­ten, wobei sich Chi­na der Stim­me ent­hielt. Wie Don Ange­lo Cita­ti bemerkt, „ist die­se ideo­lo­gi­sche Les­art genau spie­gel­ver­kehrt – und damit funk­tio­nal – zur libe­ra­len Les­art, die in die­sem Kon­flikt erneut kei­nen Kon­flikt zwi­schen zwei Staa­ten, son­dern einen Kampf der Kul­tu­ren sieht, in dem die­ses Mal jedoch die Guten auf der lin­ken Sei­te stün­den und die „Wer­te“ des heu­ti­gen Westens ver­tei­di­gen wür­den: Gen­der-Theo­rie, LGBT-Rech­te, Can­cel Cul­tu­re, Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus. (…) Ohne sich des­sen bewußt zu sein, scha­den also jene, die die rus­si­sche Inva­si­on in der Ukrai­ne im Namen angeb­li­cher kon­ser­va­ti­ver Wer­te, die von Putins Ruß­land ver­kör­pert wer­den, unter­stüt­zen oder jeden­falls eine gewis­se Zwei­deu­tig­keit gegen­über die­ser Inva­si­on an den Tag legen, genau die­sen Wer­ten, weil sie damit die ideo­lo­gi­sche Les­art der Pro­gres­si­ven tei­len: Die­se Reak­ti­on ver­wur­zelt sie näm­lich noch mehr im Glau­ben, daß sie in einen Kampf ver­wickelt sind, der über die Geo­po­li­tik hin­aus­geht und statt­des­sen – genau wie ihr „Feind“ Kyrill behaup­tet – eine meta­phy­si­sche Bedeu­tung hätte.

Nr. 9

Sil­va­na De Mari: Mei­nen Sie nicht, daß die Ukrai­ne vom Westen ermu­tigt wur­de, zum Expor­teur von auf Bestel­lung gebo­re­nen Kin­dern zu wer­den, und daß Selen­skyj selbst, wie wir aus sei­nen Fil­men sehen kön­nen, als er (nen­nen wir es so) den Schau­spie­ler mach­te, homo­se­xu­el­len Krei­sen nahe­stand?

Rober­to de Mat­tei: Prä­si­dent Putin ist nicht weni­ger kor­rupt und glo­ba­li­stisch als Prä­si­dent Selen­skyj. Vor allem aber: Was ist mit „der Westen“ gemeint? Das ist ein ent­schei­den­der Punkt. Wäh­rend in Ruß­land ein auto­kra­ti­sches, ein­sei­ti­ges Regime herrscht, ist die öffent­li­che Mei­nung in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten und ande­ren west­li­chen Län­dern gespal­ten zwi­schen den Befür­wor­tern von Abtrei­bung und LGBTQ-Orga­ni­sa­tio­nen und jenen, die gegen die­sen mora­li­schen Ver­fall kämp­fen, wie die gro­ßen Mär­sche für das Leben zei­gen. Die The­se, daß der Westen in sich selbst onto­lo­gisch ver­dor­ben sei, ist die von Putin und dem chi­ne­si­schen Prä­si­den­ten Xi Jin­ping. Sie bekämp­fen nicht die Kor­rup­ti­on des Westens, son­dern den Westen an sich. Ich hin­ge­gen ver­tei­di­ge ad extra den Westen bis zum bit­te­ren Ende und bekämp­fe ad intra sei­ne Degeneration.

Nr. 10–11

Sil­va­na De Mari: Fin­den Sie es nicht gro­tesk, den heu­ti­gen Westen mit dem Chri­sten­tum gleich­zu­set­zen, wäh­rend in Wirk­lich­keit alle west­li­chen Regie­run­gen die übel­sten Per­ver­sio­nen dul­den und unter dem Coro­na-Vor­wand die in den Ver­fas­sun­gen ver­an­ker­ten natür­li­chen Frei­hei­ten ver­wei­gern?
Von wel­chen west­li­chen Wer­ten spre­chen wir, von wel­chen Frei­hei­ten, von wel­cher Demo­kra­tie, wenn selbst [der ehe­ma­li­ge Vor­sit­zen­de des stän­di­schen Berufs­ver­ban­des der Rich­ter und Staats­an­wäl­te] Luca Pala­ma­ra bestä­tigt, daß sich Ita­li­en seit 2011 in einem per­ma­nen­ten Putsch befin­det und die seit­her amtie­ren­den Regie­run­gen fremd­be­stimmt sind?

Rober­to de Mat­tei: Für mich ist der Westen der Name einer Zivi­li­sa­ti­on, deren See­le das Chri­sten­tum ist. Der eng­li­sche Histo­ri­ker Chri­sto­pher Daw­son bringt es auf den Punkt: „Die west­li­che Zivi­li­sa­ti­on ist die Atmo­sphä­re, in der wir atmen, und das Leben, das wir füh­ren. Es ist unse­re eige­ne Lebens­wei­se und die unse­rer Vor­fah­ren, und des­halb ken­nen wir sie nicht nur aus Doku­men­ten und Denk­mä­lern, son­dern auch durch unse­re per­sön­li­che Erfah­rung“.1 Sie dür­fen nicht den Feh­ler machen, den Westen mit des­sen Säku­la­ri­sie­rung zu ver­wech­seln. Die beson­de­ren Merk­ma­le des Westens, so der ame­ri­ka­ni­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Hun­ting­ton, gehen dem Säku­la­ri­sie­rungs­pro­zeß der Moder­ne vor­aus: „Der Westen war der Westen, lan­ge bevor er modern war“.2 Die Ukrai­ner kämp­fen, wie John Lamont schreibt, nicht für Geor­ge Sor­os und die Neue Welt­ord­nung. Sie kämp­fen für ihre Hei­mat, ihre Fami­li­en und ihr Land.

Nr. 12

Sil­va­na De Mari: Sind Sie der Mei­nung, daß Mon­ti und ins­be­son­de­re Draghi Aus­druck des Volks­wil­lens der Ita­lie­ner sind, oder wur­den sie von ande­ren gewählt und Ita­li­en mit der Zustim­mung des Staats­prä­si­den­ten auf­ge­zwun­gen?

Rober­to de Mat­tei: Die Behaup­tung, Ita­li­en befin­de sich seit 2011 in einem per­ma­nen­ten Staats­streich, ist hyper­bo­lisch und hat nichts mit dem statt­fin­den­den Krieg zu tun, eben­so wenig hat die Tat­sa­che etwas mit dem Kriegs­pro­blem zu tun, daß Mon­ti und Draghi ein Aus­druck der „star­ken Kräf­te“ der Gesell­schaft waren. Zu die­sen Fra­gen ver­wei­se ich auf mei­ne Arti­kel in der Cor­ri­spon­den­za Roma­na vom 6. Dezem­ber 2011 und vom 22. Febru­ar 2022. Dies hat jedoch wenig oder gar nichts mit dem aktu­el­len Krieg zu tun, und Ihre Fra­gen schei­nen mir vom The­ma wegzuführen.

Nr. 13

Sil­va­na De Mari: Haben Sie nicht bemerkt, daß Putin Christ ist und Berg­o­glio schon vor Jah­ren gebe­ten hat, Ruß­land dem Unbe­fleck­ten Her­zen Mari­ens zu wei­hen?

Rober­to de Mat­tei: Ich kann Ihnen ver­si­chern, daß die Nach­richt, Putin habe Papst Fran­zis­kus vor Jah­ren gebe­ten, Ruß­land dem Unbe­fleck­ten Her­zen Mari­ens zu wei­hen, falsch ist. Ich habe die Ange­le­gen­heit per­sön­lich durch befreun­de­te Prie­ster im Vati­kan verfolgt.

Nr. 14

Sil­va­na De Mari: Haben Sie die Wald­ai-Rede gehört, die Putin, wenn ich mich rich­tig erin­ne­re, 2017 gehal­ten hat, in der er die tra­di­tio­nel­len und christ­li­chen Wer­te als Grund­la­ge des Staa­tes bekräf­tigt?

Rober­to de Mat­tei: Ja, ich habe die­se und ande­re Reden Putins gele­sen, ins­be­son­de­re die Wald­ai-Rede vom 12. Juli 2021 über die histo­ri­sche Ein­heit von Rus­sen und Ukrai­nern, in der der Prä­si­dent der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on sei­ne Grund­the­se bekräf­tigt: Eine unab­hän­gi­ge Ukrai­ne gibt es nicht, denn Rus­sen und Ukrai­ner sind ein Volk, ver­bun­den durch eine Spra­che, eine Kul­tur und einen Glau­ben, näm­lich den der ortho­do­xen Kir­che. Putins Wider­stand gegen die Gen­der- und LGBT-Ideo­lo­gie scheint mir nichts zu bewei­sen. Die Tat­sa­che, daß Hit­ler Homo­se­xu­el­le in Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger gesteckt hat, ist sicher­lich kein guter Grund, ihn als Ver­fech­ter tra­di­tio­nel­ler und christ­li­cher Wer­te hin­zu­stel­len. Durch die Bom­bar­die­rung zivi­ler Zie­le in der Ukrai­ne, dar­un­ter auch Kran­ken­häu­ser, ver­letzt Putin jeden Tag das Lebens­recht Unschul­di­ger. Die Anschul­di­gun­gen wegen Kriegs­ver­bre­chen, die gegen ihn gerich­tet wer­den, beru­hen auf doku­men­tier­ten Fak­ten, nicht auf Mei­nun­gen. In den Reden, auf die Sie sich bezie­hen, legt Putin viel­mehr klar sein pan­rus­si­sches, auto­kra­ti­sches und streng ortho­do­xes Pro­jekt dar.

Nr. 15

Sil­va­na De Mari: Wel­chen Sinn hat es, das heu­ti­ge Ruß­land, in dem das reli­giö­se Erwa­chen ganz offen­sicht­lich ist, mit den alten heid­ni­schen Bar­ba­ren­völ­kern zu ver­glei­chen, die in das Römi­sche Reich ein­dran­gen?

Rober­to de Mat­tei: Was Sie „reli­giö­ses Erwa­chen“ nen­nen, ist die poli­ti­sche Aus­brei­tung der ortho­do­xen Reli­gi­on, die jeder gute Katho­lik als schis­ma­tisch und häre­tisch betrach­ten muß. Über­all, wo das Mos­kau­er Patri­ar­chat vor­dringt, wird der Katho­li­zis­mus ver­folgt und gewalt­sam ein­ge­glie­dert. Die­se Ver­fol­gung rührt aus der Ver­gan­gen­heit her. Ich emp­feh­le Ihnen, die Enzy­kli­ka von Pius XII. über die Ukrai­ne Ori­en­ta­les omnes eccle­si­as vom 23. Dezem­ber 1945 zu lesen. Die ukrai­ni­sche grie­chisch-katho­li­sche Kir­che ist die­je­ni­ge, die wäh­rend der Sowjet­zeit pro­zen­tu­al gese­hen die mei­sten Mär­ty­rer in der Welt hatte.

Nr. 16

Sil­va­na De Mari: Haben Sie bemerkt, daß es gera­de die christ­li­chen Grund­sät­ze sind, die der Westen mit der Kul­tur der Sub­sti­tu­ti­on ablehnt?

Rober­to de Mat­tei: Erneut ver­wen­den Sie das Wort „Westen“ unan­ge­mes­sen, da die Kul­tur der Sub­sti­tu­ti­on, auf die Sie sich bezie­hen, ein anti­west­li­ches Pro­jekt ist, das von der UNO geför­dert wird, wie Prof. Rena­to Cri­stin in sei­nem Buch „I padro­ni del caos“ (Die Her­ren des Cha­os, Libe­ri­Li­bri, Mace­ra­ta 2017) nach­weist, auf das ich Sie ver­wei­sen möchte.

Nr. 17

Sil­va­na De Mari: Es ist zwei­fel­los wahr, daß die Sün­de die Wur­zel allen Übels und ins­be­son­de­re von Krank­hei­ten und Krieg ist, den­noch fragt man sich, wer das Coro­na­vi­rus und war­um ent­wickelt, wer bio­lo­gi­sche Labors auf der gan­zen Welt und mehr als ein Dut­zend in der Ukrai­ne ein­ge­rich­tet und die Flam­men des Krie­ges durch die Ein­krei­sung Ruß­lands mit Mili­tär­stütz­punk­ten geschürt hat.

Rober­to de Mat­tei: Das Coro­na­vi­rus wur­de höchst­wahr­schein­lich von den chi­ne­si­schen Mili­tär­la­bors in Wuhan ent­wickelt (sie­he mei­ne Stu­die „Die myste­riö­sen Ursprün­ge des Coro­na­vi­rus“, 2021); die ukrai­ni­schen Labors arbei­ten nicht an bio­lo­gi­scher Kriegs­füh­rung; die in eini­gen ehe­ma­li­gen War­schau­er-Pakt-Staa­ten ein­ge­rich­te­ten Mili­tär­stütz­punk­te wur­den von die­sen Län­dern frei­wil­lig ein­ge­rich­tet, um sich gegen eine mög­li­che Aggres­si­on Ruß­lands zu ver­tei­di­gen, kei­nes­falls aber, um es anzu­grei­fen. Die Fak­ten haben gezeigt, daß es rich­tig war, dies zu tun.

Nr. 18

Sil­va­na De Mari: Wer will sich auf den fet­ten Westen stür­zen und ihn bedro­hen?

Rober­to de Mat­tei: Ich habe kei­nen Zwei­fel: Ruß­land, Chi­na und die isla­mi­sche Welt wol­len sich auf den „fet­ten Westen“ stür­zen, den sie als „tod­krank“ betrachten.

Nr. 19

Sil­va­na De Mari: Wer hat den Ara­bi­schen Früh­ling insze­niert?

Rober­to de Mat­tei: Ich ver­wei­se Sie dies­be­züg­lich auf einen Arti­kel in der Cor­ri­spon­den­za Roma­na vom 3. März 2011.

Nr. 20

Sil­va­na De Mari: Wer hat Ser­bi­en, den Irak, Syri­en, Liby­en usw. unter Vor­wän­den ver­wü­stet, die sich als unbe­grün­det her­aus­stell­ten, wie z. B. dem von Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen?

Rober­to de Mat­tei: Sie wie­der­ho­len die The­sen von Msgr. Car­lo Maria Viganò, auf die Prof. Lucia­no Pran­zet­ti wie folgt ant­wor­te­te: „Der Krieg, der in Jugo­sla­wi­en (1991–1995) aus­brach, war die Fol­ge natio­na­li­sti­scher Span­nun­gen nach dem Tod von Tito. Und war es nicht das Ser­bi­en von Milo­se­vic, das die ‚eth­ni­schen Säu­be­run­gen‘ begann und damit die Inter­ven­ti­on der ver­bün­de­ten NATO-Armeen aus­lö­ste? Oder hät­te man nach der ethi­schen Visi­on des Mon­si­gno­re den Din­gen ihren Lauf las­sen sol­len? Und was ist mit dem Krieg im Koso­vo (1998/​1999)? Ist auch die­ser Kon­flikt, einer von vie­len, die im Bal­kan­krieg aus­ge­bro­chen sind, der Aggres­si­vi­tät der NATO zuzu­schrei­ben? Tsche­tsche­ni­en (2000): Der Beweis für Putins Gräu­el­ta­ten, die er heu­te in der Ukrai­ne ver­brei­tet. Han­delt es sich dabei auch um ein Ein­drin­gen der NATO? Afgha­ni­stan (2003): Ist die­ser Kon­flikt nicht viel­leicht das Erbe des vor­he­ri­gen, von Ruß­land geführ­ten Kon­flikts? Geor­gi­en (2008), Krim (2014), Syri­en (2015), sind das NATO-Krie­ge oder nicht etwa das Macht­stre­ben eines Putin, der nicht ein­mal vor der Hei­lig­keit des Lei­dens Halt macht?

Nr. 21–22

Sil­va­na De Mari: Sind Sie der Mei­nung, wenn es stimmt, daß der Frie­den die Ruhe der Ord­nung ist, daß es ein guter Ansatz ist, den Geg­ner zu ver­teu­feln, indem man ihn mora­lisch dis­qua­li­fi­ziert, sodaß er a prio­ri im Unrecht ist? Oder anders­her­um: Wenn man wirk­lich die rich­ti­gen Vor­aus­set­zun­gen für den Frie­den schaf­fen will, wäre es dann nicht gut, ihn wie einen Men­schen zu behan­deln, sei­ne Grün­de zu ver­ste­hen und den glei­chen Maß­stab anzu­le­gen, der für die Gegen­sei­te gilt?

Rober­to de Mat­tei: Die­se Fra­gen las­sen sich leicht gegen jene rich­ten, die den Westen, die Ukrai­ne und ihren Prä­si­den­ten, der als Clown, Dro­gen­süch­ti­ger und Homo­se­xu­el­ler bezeich­net wird, dämo­ni­sie­ren – und das sind vie­le. Das glei­che gilt für die, wel­che jene, die den Westen auf bestimm­ten „sozia­len“ Platt­for­men ver­tei­di­gen, als „Mario­net­ten“, „Schwach­köp­fe“ oder sogar „Nazis“ bezeich­nen. Die­je­ni­gen, die die Anwe­sen­heit von „Nazis“ unter den ukrai­ni­schen Kämp­fern beto­nen, ver­ges­sen, daß die Zahl der Nazi­kom­mu­ni­sten in den Rei­hen der rus­si­schen Sepa­ra­ti­sten noch grö­ßer ist. Mas­si­mo Intro­vi­gne hat sich in einer Rei­he inter­es­san­ter Arti­kel mit die­sem The­ma befaßt, auf die ich Sie ger­ne hin­wei­sen möchte.

Nr. 23

Sil­va­na De Mari: Glau­ben Sie, daß Wahr­heit, Gleich­heit und Gerech­tig­keit für das Stre­ben nach Frie­den irrele­vant sind und daß es aus­reicht, sich auf eine Sei­te, die „gute“ Sei­te, zu stel­len und sich dar­auf zu beschrän­ken, die ande­re Sei­te zu dämo­ni­sie­ren?

Rober­to de Mat­tei: Gera­de weil der Frie­den auf Wahr­heit und Gerech­tig­keit beruht, müs­sen wir alle Lügen und Fehl­in­for­ma­tio­nen zurück­wei­sen. Außer­dem müs­sen wir uns sicher­lich für den Frie­den ein­set­zen, aber wir müs­sen auch auf ande­re Mög­lich­kei­ten vor­be­rei­tet sein, unab­hän­gig von unse­ren Wün­schen. Wie Prof. Rena­to Cri­stin erklärt, bedeu­tet „Frie­den“ nicht unbe­dingt Befrie­dung: „Das Gift, das ein bestimm­tes nost­al­gi­sches Ruß­land, das sich nach der Sowjet­uni­on sehnt, so stark und weit über die ukrai­ni­schen Gren­zen hin­aus ver­brei­tet hat, kann nicht so leicht besei­tigt wer­den; und die Res­sen­ti­ments, die die rus­si­schen Macht­ha­ber gegen­über dem Westen emp­fin­den und zei­gen, kön­nen nicht so schnell aus­ge­löscht werden“.

Nr. 24–25

Sil­va­na De Mari: Abschlie­ßend möch­te ich Ihnen die mei­nes Erach­tens wich­tig­ste Fra­ge stel­len: Sie bezeich­nen jeden als Kol­la­bo­ra­teur, der es wagt, Fra­gen zu stel­len, anstatt Putin und Ruß­land ein­fach nur pau­schal zu ver­ur­tei­len. Tech­nisch gese­hen ist ein Kol­la­bo­ra­teur ein Bür­ger, der im Kriegs­zu­stand mit dem Feind zusam­men­ar­bei­tet, der in sein Land ein­ge­drun­gen ist: Ist das unse­re Situa­ti­on? Ist Ruß­land bei uns ein­mar­schiert?

Rober­to de Mat­tei: Wir sind noch nicht mili­tä­risch ange­grif­fen wor­den, aber die Fein­de des Westens, Ruß­land, Chi­na und die isla­mi­sche Welt, haben uns bereits mit ihrem „Soft War“, ihrem „sanf­ten Krieg“, pro­pa­gan­di­stisch, öko­no­misch, infor­ma­tisch und im Fal­le Chi­nas viel­leicht auch bio­lo­gisch ange­grif­fen. Die offi­zi­el­len Berich­te unse­res Geheim­dien­stes an das ita­lie­ni­sche Par­la­ment doku­men­tie­ren die rus­si­schen und chi­ne­si­schen Des­in­for­ma­ti­ons­maß­nah­men. Der Krieg, der auf die­se Wei­se geführt wird, fin­det also inner­halb unse­rer Gren­zen statt, und ich betrach­te jeden als „Kol­la­bo­ra­teur“, der dafür ein­tritt, den Wider­stands­geist des Westens aus­zu­lö­schen oder zu schwä­chen. In die­sem Sin­ne, wenn die Flucht aus Kabul eine beschä­men­de Epi­so­de war, ist der Wider­stand des ukrai­ni­schen Vol­kes gegen die rus­si­sche Inva­si­on eine Lek­ti­on für den fei­gen Westen, der sei­ne Geschich­te verleugnet.

Nr. 26

Sil­va­na De Mari: Oder ist es nicht viel­mehr Ita­li­en, das durch die Bewaff­nung der Ukrai­ne – die weder der EU noch der NATO ange­hört – einen krie­ge­ri­schen Akt gegen Ruß­land began­gen hat und sich damit der Gefahr von Ver­gel­tungs­maß­nah­men aus­setzt?

Rober­to de Mat­tei: Ita­li­en und ande­re west­li­che Staa­ten hel­fen einem Land, das zu Unrecht ange­grif­fen wur­de. Wenn es sich um einen Krieg han­delt, dann ist es legi­ti­me Selbst­ver­tei­di­gung. Die Kir­che und der gesun­de Men­schen­ver­stand ver­ur­tei­len Angrif­fe, leh­ren aber auch, daß es legi­tim ist, sich zu ver­tei­di­gen und den Ange­grif­fe­nen zu hel­fen. Ich kann dar­in kein Pro­blem erkennen.

Nr. 27–28

Sil­va­na De Mari: Haben Sie den Ein­druck, daß wir uns in den Hän­den wei­ser und kom­pe­ten­ter Men­schen befin­den, wenn unser Außen­mi­ni­ster einen Staats­chef als Tier bezeich­net, unser Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster (der frü­her ein noto­ri­scher Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer war, jetzt aber zur Kriegs­trei­be­rei über­ge­gan­gen ist) Dritt­län­der auf­rü­stet, der bri­ti­sche Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster, eine höf­li­che Dame, deren Namen ich mir nicht mer­ken kann, gegen den Anschluß von Rostow an Ruß­land ist (es ist unmög­lich, eine Regi­on zu annek­tie­ren, die bereits Teil einer Nati­on ist) und der Prä­si­dent der größ­ten Welt­macht den Iran mit der Ukrai­ne ver­wech­selt? Füh­len Sie sich beru­higt, sich in so guten Hän­den zu befin­den, wenn man bedenkt, daß ein sol­cher Prä­si­dent über tau­send Mili­tär­stütz­punk­te in der gan­zen Welt ver­fügt, von denen sich mehr als 115 allein in Ita­li­en befin­den?

Rober­to de Mat­tei: Ich glau­be nicht, daß Ita­li­en oder irgend­ein ande­res west­li­ches Land von beson­ders „klu­gen und kom­pe­ten­ten“ Men­schen regiert wird, und ich hal­te vor allem Joe Biden für einen sehr schlech­ten ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten. Ich füh­le mich also nicht sehr sicher in den Hän­den derer, die uns regie­ren. In den Hän­den von Wla­di­mir Putin wür­de ich mich jedoch weit weni­ger sicher füh­len, und die Fak­ten bestä­ti­gen mei­ne Bedenken.

Nr. 29

Sil­va­na De Mari: Kann Ruß­land ein Aggres­sor sein, wenn sich sei­ne Stütz­punk­te im Aus­land, und selbst die­se nahe sei­nem Ter­ri­to­ri­um, an einer Hand abzäh­len las­sen?

Rober­to de Mat­tei: Die Gefahr, einen Angriff zu erlei­den, ergibt sich nicht so sehr aus der Stär­ke des Fein­des, son­dern aus sei­ner Bereit­schaft, uns anzu­grei­fen. Und dar­an gibt es kaum Zwei­fel. Ruß­land hat am 24. Febru­ar gezeigt, daß es einen Aggres­si­ons­plan nicht nur gegen die Ukrai­ne, son­dern gegen den gesam­ten Westen ver­folgt. Die Bedro­hung betrifft nicht nur die an Ruß­land angren­zen­den Gebie­te, wie heu­te die Ukrai­ne und mor­gen die bal­ti­schen Staa­ten, son­dern den gesam­ten Westen, soll­te die Situa­ti­on eska­lie­ren. Es soll­te nicht ver­ges­sen wer­den, daß Ruß­land über 6.255 Atom­spreng­köp­fe ver­fügt (die USA haben 5.550) und bereits damit gedroht hat, sie ein­zu­set­zen. Sei­ne bal­li­sti­schen Inter­kon­ti­nen­tal­ra­ke­ten kön­nen vom Start­punkt aus mehr als 15.000 Kilo­me­ter weit flie­gen. Es gibt kein Gebiet im Westen, das sich die­ser Bedro­hung ent­zie­hen kann. Und Putin hat gezeigt, daß er in der Lage ist, das zu errei­chen, was er ankündigt.

Nr. 30

Sil­va­na De Mari: Nun, wenn Ita­li­en also ange­grif­fen und kolo­ni­siert wird, mei­nen Sie dann nicht, daß die Kolo­ni­sa­to­ren ande­re sind und die Kol­la­bo­ra­teu­re jene, die mit ihnen zusam­men­ar­bei­ten?

Rober­to de Mat­tei: Kol­la­bo­ra­tio­nis­mus ist, noch bevor er mili­tä­risch ist, kul­tu­rell und mora­lisch und kenn­zeich­net heu­te all jene, die zur Zer­stö­rung oder Abwer­tung des Westens bei­tra­gen. In sei­nem neue­sten Buch schreibt Feder­i­co Ram­pi­ni: „Die vor­herr­schen­de Ideo­lo­gie, die von den Eli­ten an den Uni­ver­si­tä­ten, in den Medi­en, in der Mas­sen­kul­tur und in der Unter­hal­tung ver­brei­tet wird, ver­langt von uns, daß wir jeg­li­ches Selbst­wert­ge­fühl zer­stö­ren, uns stän­dig selbst die Schuld geben und uns gei­ßeln. Nach die­ser ideo­lo­gi­schen Dik­ta­tur haben wir der Welt und den neu­en Gene­ra­tio­nen kei­ne Wer­te mehr zu ver­mit­teln, son­dern nur noch Ver­bre­chen zu süh­nen. Das ist west­li­cher Selbst­mord“.3 Ram­pi­ni ver­weist auf die „Can­cel Cul­tu­re“ und die „Poli­ti­cal Cor­rect­ness“, aber die glei­chen selbst­zer­stö­re­ri­schen Impul­se fin­den sich auch in einem gewis­sen tra­di­tio­na­li­sti­schen und kon­ser­va­ti­ven Den­ken, das sein Heil nicht in der west­li­chen und christ­li­chen Kul­tur, son­dern in Eura­si­en und der ortho­do­xen Reli­gi­on sucht. Der dama­li­ge Kar­di­nal Joseph Ratz­in­ger sprach von „einem Selbst­haß des Westens, der selt­sam ist und nur als etwas Patho­lo­gi­sches ange­se­hen wer­den kann; der Westen ver­sucht zwar in lobens­wer­ter Wei­se, sich für äuße­re Wer­te zu öff­nen, aber er liebt sich selbst nicht mehr; er sieht nur noch das Bedau­er­li­che und Zer­stö­re­ri­sche in sei­ner Geschich­te, wäh­rend er das Gro­ße und Rei­ne nicht mehr wahr­zu­neh­men ver­mag“.4

Gestat­ten Sie mir abschlie­ßend die Bemer­kung, daß Ihre drei­ßig Fra­gen haupt­säch­lich geo­po­li­ti­scher Natur sind und mir die über­na­tür­li­che Dimen­si­on zu feh­len scheint, die unse­ren Glau­ben kenn­zeich­nen soll­te. Was vor allem fehlt, ist die christ­li­che Hoff­nung, die durch die Wei­he Ruß­lands und der Ukrai­ne an das Unbe­fleck­te Herz Mari­ens durch Papst Fran­zis­kus am 25. März neue Nah­rung erhal­ten hat. Die­ses Ereig­nis bringt Licht in die Dun­kel­heit unse­rer Zukunft. Ich hof­fe, daß es für uns alle eine Gele­gen­heit für neue Gna­den sein wird, um die dra­ma­ti­schen Ereig­nis­se unse­rer Zeit zu ver­ste­hen. (Rober­to de Mattei)

Einleitung/​Übersetzung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana


1 Chri­sto­pher Daw­son: Il Cri­stia­ne­si­mo e la For­ma­zio­ne del­la Civil­tà Occi­den­ta­le, BUR, Mai­land 1997, S. 15; Ori­gi­nal­aus­ga­be: Reli­gi­on and the Rise of Western Cul­tu­re, 1950; deut­sche Aus­ga­be: Die Reli­gi­on im Auf­bau der abend­län­di­schen Kul­tur, 1953.

2 Samu­el Hun­ting­ton: Lo scon­tro del­le civil­tà, Garz­an­ti, Mai­land 2000, S. 90; Ori­gi­nal­aus­ga­be: The Clash of Civi­li­sa­ti­ons. 1996; deut­sche Aus­ga­be: Kampf der Kul­tu­ren. Die Neu­ge­stal­tung der Welt­po­li­tik im 21. Jahr­hun­dert, 1996.

3 Feder­i­co Ram­pi­ni: Sui­ci­dio occi­den­ta­le, Mond­ado­ri, Mai­land 2021, S. 3.

4 Euro­pa. I suoi fon­da­men­ti spi­ri­tua­li, in Mar­cel­lo Pera, Joseph Ratz­in­ger: Sen­za Radi­ci, Mond­ado­ri, Mai­land 2004, S. 70–71.

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5 Kommentare

  1. Obgleich ich mich nicht in der Lage sehe, den krie­ge­ri­schen Kon­flikt in der Ukrai­ne zu beur­tei­len, scheint es mir doch wich­tig, zwei Punk­te zu unterstreichen:
    1. Als Katho­li­ken sind wir mit der Lage des Westens, unse­rer Hei­mat, äußerst unzu­frie­den, wodurch sich leicht der Impuls ergibt (auch bei mir), Län­der, in denen die­se spe­zi­fi­schen Pro­ble­me des heu­ti­gen Westens nicht vor­herr­schen, all­zu posi­tiv zu sehen. Die Abwe­sen­heit der heu­te im Westen domi­nie­ren­den links­li­be­ra­len Vor­stel­lun­gen garan­tiert jedoch noch nicht für eine wün­schens­wer­te Lage (was Herr Prof. de Mat­tei mit dem Bei­spiel des Drit­ten Rei­ches illustriert).
    2. Aus­ge­spro­chen wich­tig erscheint mir der Hin­weis auf die reli­giö­se Lage Russ­lands, die häu­fig selbst unter sol­chen Katho­li­ken, die nicht dem pro­gres­si­ven Lager zuzu­rech­nen ist, völ­lig ver­klärt wird, so bei­spiels­wei­se kürz­lich von Micha­el Hese­mann bei kath​.net, der davon schreibt, dass aus der anti­christ­li­chen Sowjet­uni­on das christ­li­che Russ­land gewor­den sei, in dem sich heu­te 82% zur ortho­do­xen Reli­gi­on bekenn­ten. Die­se Bege­ben­heit wird zudem nicht sel­ten in Zusam­men­hang gebracht mit dem von der aller­se­lig­sten Jung­frau ange­kün­dig­ten Tri­umph ihres Unbe­fleck­ten Her­zens, der in die­sem Ver­ständ­nis dar­in bestün­de, dass sich ein Land vom athe­isti­schen Kom­mu­nis­mus, der in die Höl­le führt, abwen­det, und einer häre­ti­schen und schis­ma­ti­schen christ­li­chen Gemein­schaft, die in die Höl­le führt, zuwen­det, was mir nicht denk­bar erscheint. Hier ist nichts zu idea­li­sie­ren, son­dern dafür zu beten, dass die Ange­hö­ri­gen der „Ortho­do­xen“ zur wah­ren Kir­che fin­den mögen. Hier­mit soll selbst­ver­ständ­lich nicht gesagt wer­den, dass die Lage im Westen bes­ser sei, die­se ist uns ja all­zu gut bekannt.

    • Aber klar, doch. Schon ver­ges­sen wer die Byzan­ti­ner in den Kreuz­zü­gen mehr­fach ver­wü­stet hat­te? Das waren die Glau­bens­brü­der, die EUro­päi­schen Katholiken!
      DIe Euro­pä­er ver­ges­sen sehr oft all­zu schnell , wer sie Jahr­hun­der­te lang vor per­si­schen udn vor mus­li­mi­schen Krie­ger-Hor­den beschütz­te ‚bewahrt hat­te udn wer sie vor Euro­pas Gren­zen unzäh­li­ge Male abwehr­te. Das waren die ortho­dox christ­li­chen Byzan­ti­ner! Das rus­sisch-ortho­do­xe Chri­sten­tum setzt die Tra­di­ti­on des wah­ren ortho­do­xen Chri­sten­tums der Byzan­ti­ner fort!
      Und wer ver­wü­stet in der Gegen­wart seit Jahr­zehn­ten die hal­be Welt? Das sind die pro­te­stan­ti­schen Angel­sach­sen aus den USA…

      Die US Ame­ri­ka­ni­schen Evan­ge­li­ka­len und die Pro­te­stan­ten haben sich eher einer häre­ti­schen und schis­ma­ti­schen christ­li­chen Gemein­schaft, die in die Höl­le führt, zuw­ge­wen­det. Sie haben hier anschei­nend das rus­sisch-ortho­do­xe Chri­sten­tum mit den eng­lisch­spra­chi­gen Pro­te­stan­ten verwechselt!

  2. Es ist nicht so ein­fach, ein kau­sa­les Den­ken mit der Offen­ba­rung des Glau­bens in Ver­ein­ba­rung zu brin­gen. Da fehlt ein Ver­bin­dungs­glied, das Repro­du­zier­bar­keit mög­lich macht. Es scheint wahr zu sein, dass das Gebet und die Wid­mung an die Got­tes­mut­ter eine Wir­kung hat. Und es scheint wahr zu sein, dass die geschicht­li­chen Ereig­nis­se so aus­se­hen, als wür­den sie aus sich selbst entstehen. 

    Das gegen­wär­ti­ge Gesche­hen zeigt ausser­dem eine Ten­denz, die in Rich­tung Läu­te­rung der Men­schen geht. Wir schüt­teln gera­de ver­gan­ge­ne Vor­stel­lun­gen ab. Es bewegt sich viel. 

    So liegt hier ein Gegen­satz vor, obwohl bei­de Strei­ter sich vom Wil­len zur Wahr­heit lei­ten lassen.

  3. Ein Dis­kurs ohne Nar­ra­ti­ve ist nicht denk­bar. Wenn man z.B. die west­ge­steu­er­ten „Farb­re­vo­lu­tio­nen“ im post­so­wje­ti­schen Raum unter­schlägt, den Mai­dan-Putsch und Kampf­ein­hei­ten mit NS-Sym­bo­len igno­riert, die Bezeich­nung „gewähl­ter Prä­si­dent“ nach Gusto zu- oder aberkennt und die hoch­ag­gres­si­ve wie fort­dau­ern­de Kriegs­trei­be­rei der ukrai­ni­schen Polit­eli­te (ins­be­son­de­re der Bot­schaf­ter in der Bun­des­re­pu­blik) unter den Tep­pich kehrt, kre­iert man erfolg­reich den Deu­tungs­rah­men eines rück­sichts­los über­fal­le­nen, völ­lig harm­lo­sen Lan­des. Auch die Tat­sa­che, dass im Osten der Ukrai­ne deren regu­lä­re Streit­kräf­te Kriegs­ein­sät­ze gegen die „eige­ne Bevöl­ke­rung“ durch­führ­ten, bleibt hier aussen vor. Und die Benen­nung eines Plat­zes in Kiew nach einem Kriegs­ver­bre­cher und NS-Kol­la­bo­ra­teur, der sich im NS-Ver­nich­tungs­krieg an der Ost­front „ver­dient“ gemacht hatte.
    Und, und, und.
    Wer dies anführt, weil eine ver­eng­te Sicht­wei­se nur Pro­pa­gan­da her­vor­bringt, gilt hier­zu­lan­de schnell als „Putin-Ver­ste­her“ und damit verdächtig.
    Kei­ne guten Vor­aus­set­zun­gen für einen offe­nen Diskurs…

  4. Wer hier etwas zu ver­ste­hen gibt, wel­ches Motiv die Rus­si­sche Staats­füh­rung lei­tet, dan ist das der Ein­druck vom Prä­si­den­ten Putin selbst. Putin iso­liert sich immer mehr, er ist selbst für frü­he­re Mit­ar­bei­ter und Ver­trau­te zum Frem­den gewor­den, etwa Ana­tol­ji Tschub­ais. Es gibt zumin­dest einen Punkt, den die bei­den Debat­tan­ten nicht erwähnt haben, die Zustim­mung Ruß­lands zum Pari­ser Kli­ma­ab­kom­men, die eigent­lich ein Oxy­mo­ron ist. Schon seit län­ge­rem ist in Ruß­land die Erkennt­nis da, daß mit dem Auf­tau­en des Per­ma­f­rost­bo­dens die Hälf­te von Sibi­ri­en unbe­wohn­bar und nicht mehr nutz­bar sein wird. Das hat ihm auch sein Inlands­ge­heim­dienst wohl zu ver­ste­hen gege­ben. Und dann? Dann wer­den sich etwa 50 Mil­lio­nen Rus­sen auf den Weg nach Westen machen, so oder so, die Wirt­schaft Ruß­lands wird zusam­men­bre­chen, weil die Schwer­indu­strie in die­sen Gebie­ten steht, die Roh­stofför­de­rung zum Erlie­gen kommt und das inner­halb der näch­sten zwan­zig bis drei­ßig Jah­ren. Das ist noch ein poli­ti­scher Zeit­raum, nicht ein­mal mehr als eine Gene­ra­ti­on. Man muß dar­aus ler­nen, daß die Ukrai­ne-Inva­si­on der erste Vor­bo­te von Ver­tei­lungs­kämp­fen inner­halb der kli­ma­ti­schen Ver­än­de­run­gen der Zukunft ist.

    Nicht daß man nun irgend­et­was an der Gewalt ent­schul­di­gen darf, aber eine fried­li­che Migra­ti­on soll­te auch in einem sol­chen Fall nicht schei­tern. Und hier hat sich die rus­si­sche Füh­rung es ein­fach gemacht: Ich neh­me das näch­ste freie Land und beset­ze es, sied­le dort mei­ne Kli­ma­flücht­lin­ge an und begrün­de das mit gro­ßem histo­ri­schen Geschwurbel:

    1) Es ist Tat­sa­che, daß sich die rus­si­sche Staats­füh­rung an der Sowjet­uni­on eines Gos­sip Illijtsch Sta­lin ori­en­tiert. Sie begrün­det ihr Han­deln in der Wie­der­auf­nah­me des Gro­ßen Vater­län­di­schen Kriegs, der lei­der noch nicht zu Ende geführt wur­de. Zumin­dest Ruß­land soll­te auf dem Ter­ri­to­ri­um der RSFSR von 1953 wie­der daste­hen. Nur der Haken ist: Wis­sen es die Rus­sen, daß es ein Geor­gi­er war, der Ruß­land in der Uni­on der Sozia­li­sti­schen Sowje­tisch­re­pu­bli­ken im Zwei­ten Welt­krieg, dem Gro­ßen Vater­län­di­schen Krieg geführt hat? Aus­ge­rech­net ein Geor­gi­er? Das weiß die rus­si­sche Bevöl­ke­rung lei­der nicht, denn Sta­lin wird als Rus­se aus­ge­ge­ben und als Rus­si­scher Her­kunft. Wis­sen es die Rus­sen nicht, daß Sta­lin als Semi­na­rist der geor­gisch-ortho­do­xen Kir­che sich ver­sucht hat? Das ver­heim­licht die Pro­pa­gan­da auch der rus­sisch-ortho­do­xen Kir­che. Sta­lin wäre nie­mals auf die Idee gekom­men rus­sisch-ortho­dox zu wer­den. Und trotz­dem wird Sta­lin als Hei­li­ger der rus­sisch-ortho­do­xen Kir­che dar­ge­stellt, mit Dul­dung und inbrün­sti­ger Ver­eh­rung der Bevöl­ke­rung. Der Patri­arch Kyrill schweigt, die Erz­dia­ko­ne schwei­gen, die Groß­erz­bi­schö­fe schwei­gen, weil es der Zar-Ersatz Putin so will.

    2) Weiß es der Westen eigent­lich nicht, daß in der rus­sisch-ortho­do­xen Kir­che immer noch den Pri­mat des Zaren gibt, also des Nach­fol­gers der (ost­rö­mi­schen) Kai­ser? Die Herr­scher Ruß­lands haben sich immer in der Nach­fol­ge der Kai­ser gese­hen, dem (west­rö­mi­schen) Kai­ser sogar die Legi­ti­ma­ti­on abge­spro­chen und dem­entspre­chend die Bevöl­ke­rung gegen jeg­li­che Ein­mi­schung aus dem Westen auf­ge­sta­chelt. Wenn es ein­mal ein rus­si­scher Herr­schar gewagt hat, sich dem Westen zu öff­nen, so muß­te er im Inne­ren die­se Öff­nung oft unter mas­si­ver Gewalt­an­wen­dung durch­füh­ren (Abschnei­den der Bär­te!) Jeg­li­cher Ruf nach Gerech­tig­keit in Ruß­land gilt bis heu­te als gefähr­lich. Und damit zum dritten.

    3) Wis­sen es die Rus­sen und der Westen nicht, daß es hier ein mas­si­ves Sprach­li­ches Pro­blem gibt? Месть gilt immer noch als Weg der Gerech­tig­keit und als sprach­li­cher Aus­druck für Stra­fe. Das ist ein sprach­li­cher Son­der­weg in der Ost­sla­wi­schen Sprach­fa­mi­lie. Das Ukrai­ni­sche und das Weiß­rus­si­sche haben hier im Kon­takt mit dem Pol­ni­schen, also west-/mit­tel­eu­ro­päi­schen und ande­ren Spra­chen (auch dem Deut­schen) eine ande­re Ent­wick­lung genom­men und eher dem grie­chisch-latei­ni­schen Sprach­duk­tus sich angelehnt.

    Man kann nur einen Schluß aus alle dem zie­hen: Ruß­land befin­det sich in der schwer­sten Staats­kri­se seit der Unab­hän­gig­keit von 1991. Eine zum Selbst­mord ent­schlos­se­ne Staats­füh­rung wei­gert sich, der eige­nen Bevöl­ke­rung die Wahr­heit über den Zustand des eige­nen Lan­des zu sagen, sie auf här­ter Zei­ten ein­zu­stim­men, sie man­che Illu­sio­nen einer gol­de­nen Zukunft zu berau­ben. Statt­des­sen beginnt sie das Aus­land für alles zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen und letzt­lich den mora­li­schen Kriegs­grund zu schaf­fen. Bis­lang hat hier­bei der Staats­prä­si­dent eine sehr geris­se­ne Poli­tik betrie­ben, er hat die aus­län­di­schen Staats­len­ker zu Feh­lern im Inne­ren wie auch im Äuße­ren gezwun­gen, gezielt des­in­for­miert und sich als Hüter der mora­li­schen Wer­te des Chri­sten­tums geriert. In Wahr­heit hat er hin­ter­rücks die West­ver­schie­bung Ruß­lands geplant, die Umsied­lung von Ost nach West. Das erste Ziel war die Ukrai­ne, das zwei­te Geor­gi­en, das drit­te Mol­da­vi­en, schließ­lich Bela­rus. Und das wäre die erste Pha­se. Und dann steht die NATO im Weg.

    Nein es gab einen ein­zi­gen Feh­ler, qua­si ein Ver­spre­cher Selenskjis: Er mein­te wohl nur, ob es das der Dank wäre für das Buda­pe­ster Memo­ran­dum. Dann kön­ne man es ja gleich kün­di­gen. Ds war für die rus­si­sche Staats­füh­rung ein Grund, Rache zu neh­men. Und das hat die Rus­si­sche Staats­füh­rung im schlimm­sten Rache­sinn (Gen 4.54 – „Einen Kna­ben für mei­ne Wun­de!“) ja getan.
    Und wir sehen ent­setzt, wie die­ser Rache­durst sich ver­selb­stä­digt, zum Haß wird. Und selbst die schlimm­sten Feh­den im vor­scho­la­sti­schen Mit­tel­al­ter Mit­tel­eu­ro­pas ende­ten mit dem Ein­zug scho­la­sti­schen Rechts­emp­fin­dens in unse­re Regio­nen. Und damit zum vierten.

    4) Der Westen hat wohl ver­ges­sen oder will es nicht wahr­ha­ben, daß es in der rus­sisch-ortho­do­xen Kir­che weder eine Peri­ode der Scho­la­stik noch gar eine Refor­ma­ti­on und eine Neo­scho­la­stik über­haupt nicht gege­ben hat. Damit fehlt eine ratio­na­le Ver­tie­fung oder auch eine nomi­na­li­sti­sche Skep­sis der dog­ma­ti­schen und asze­ti­schen Fröm­mig­keit der Rus­sisch-Ortho­do­xen. Sie sind immer noch auf dem Stand der Zeit ste­hen geblie­ben, die nach Kai­ser Leo von Ost­rom gegol­ten hat. Da haben es die grie­chisch-ortho­do­xen Chri­sten leich­ter gehabt, indem sie im Kon­takt zu den katho­li­schen Staa­ten gestan­den haben, ja sogar noch von ihnen bis jen­seits der Zeit der Hoch­scho­la­stik und zu Beginn des Nomi­na­lis­mus mili­tä­risch und poli­tisch gedul­det wur­den, was im Uni­ons­de­kret von 1439 des Kon­zils von Basel-Fer­ra­ra-Flo­renz mün­de­te. Die­ses wur­de zwar spä­ter wider­ru­fen, aber von den Rus­sisch-Ortho­do­xen nie aner­kannt, sogar als Apo­sta­sie ver­ur­teilt. Und seit­dem han­gelt sich die Rus­sisch-Ortho­do­xe Kir­che mit dem For­mel­len Ober­haupt des Zaren durch die Geschich­te. Und die­se beginnt in Kiew.

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