Von Roberto de Mattei*
Wird die Medien-„Show“ zwischen Biden und Putin zu einem echten Krieg zwischen Rußland und der Ukraine führen, in den auch Europa verwickelt sein wird? Im Zeitalter des Unvorhersehbaren ist alles möglich. In diesem Fall würde es sich nicht um einen innerukrainischen Bürgerkrieg handeln, sondern um einen internationalen Konflikt zwischen Rußland und dem Westen. Beide Seiten haben jedoch kein Interesse an einer militärischen Konfrontation dieser Art, es sei denn, in dem künstlich geschaffenen Klima der Zuspitzung ändert ein unerwartetes Ereignis die Strategien, die im Spiel sind.
Der Name Ukraine (Ukraïna) ist etymologisch mit dem slawischen Begriff „kraj“ (Grenze) verbunden, der ein „Grenzland“ bezeichnet. In Wirklichkeit ist die Ukraine eine weite Ebene mit unsicheren Grenzen, dicht besiedelt und reich an landwirtschaftlichen Ressourcen und Bodenschätzen. Die geschichtlichen Ursprünge dieses Landes sind uralt: Die Griechen nannten es Skythien und die Römer Sarmatien. Vom Mittelalter bis zum Untergang der österreichischen Monarchie war es im Westen als Ruthenien bekannt, während es in Rußland Kleinrußland genannt wurde, um seine Zugehörigkeit zum Zarenreich zu bekräftigen.
Die Ukraine ist in der Tat die Wiege Rußlands, dessen Geburt auf die Bekehrung zum Christentum von Fürst Wladimir I.1 (980–105), genannt der Heilige, zurückgeht. Das von ihm gegründete Fürstentum Kiew (Kiewer Rus) war der älteste slawisch-christliche Staat, der sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und bis zu den Karpaten erstreckte und einen der wichtigsten Staatenbünde des mittelalterlichen Europas bildete. Im Jahr 1240 wurde dieses riesige Reich jedoch fast vollständig von den Mongolen zerstört, deren Herrschaft über 250 Jahre andauerte.
Das Kiewer Reich folgte zwar dem Morgenländischen Schisma (1054), war aber Teil der abendländischen Christenheit gewesen. Der Moskauer Staat, der im 16. Jahrhundert nach der Befreiung von den Mongolen entstand, entfaltete das Erbe von Byzanz in einem anti-europäischen Sinn. Obwohl Rußland unter Peter dem Großen Teil des europäischen Staatensystems wurde, wurde das Zarenreich von den anderen Staaten der Alten Welt wegen seiner asiatischen Konnotationen und seines autokratischen Charakters stets als Bedrohung empfunden.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Ukraine mehrfach geteilt und zunächst den litauischen Großfürsten und Königen von Polen, dann dem russischen und dem österreichischen Kaiserreich unterworfen, blieb aber kulturell mit dem Westen verbunden, und ihre Bewohner lehnten die von den Zaren verwendeten und nun von Putin wieder vorgeschlagenen Bezeichnungen, die ursprünglich byzantinische Bezeichnung „Kleinrußland“ und „Neurußland“ („Novorossija“), stets ab.2 [Zu den historischen Hintergründen siehe Die “historische“ Begegnung zwischen Franziskus und Kyrill.]
Nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs während des Ersten Weltkriegs zwangen die Mittelmächte mit dem Vertrag von Brest-Litowsk vom 3. März 1918 die Bolschewiki, die Unabhängigkeit der Ukraine anzuerkennen. Die Rote Armee, die die Revolution in den Westen exportieren wollte, griff Polen an, wurde aber im August 1920 von General Józef Piłsudski (1867–1935) an der Weichsel besiegt, der zum Gegenangriff überging und versuchte, die Gebiete der ehemaligen Polnisch-Litauischen Konföderation zurückzuerobern. Der Vertrag von Riga, der am 18. März 1921 von Polen auf der einen und Rußland und der Ukraine auf der anderen Seite unterzeichnet wurde, markierte das Scheitern von Piłsudskis Projekt und kann, wie Graf Emmanuel Malinsky (1875–1938) schrieb, als der eigentliche Geburtstag des bolschewistischen Staates angesehen werden (Les Problèmes de l’Est et la Petite-Entente, Librairie Cervantes, Paris 1931, S. 300). Im Jahr 1922 wurde die Ukraine offiziell Teil der UdSSR, mit Ausnahme von Ostgalizien und Westwolhynien, die Polen zuerkannt wurden. Von da an blieb sie mit Ausnahme der nationalsozialistischen Besetzung von 1941–1943 bis zur Proklamation der Unabhängigkeit am 8. Dezember 1991 sowjetisch.
Die postsowjetische Ukraine strebt den Beitritt zur NATO und zur Europäischen Union an, um sich gegen die russische Hegemonie zu verteidigen, während Moskau seinen Einfluß auf ein Land wahren möchte, mit dem es nicht nur eine mehr als 1500 Kilometer lange Grenze teilt. Der aktuelle Konflikt ist auch ein „Gaskrieg“, in dem die Zukunft der Energie in Europa auf dem Spiel steht. Auf der einen Seite steht Rußland, der Hauptlieferant unseres Kontinents, auf der anderen Seite stehen die Vereinigten Staaten, die mit ihrem Flüssigerdgas (LNG), das per Schiff transportiert wird und teurer ist als das russische Gas, das über Pipelines angeliefert wird, auf den europäischen Markt drängen wollen.
Das Problem ist jedoch nicht nur wirtschaftlicher Natur. Putin will Rußland ein neues imperiales Bewußtsein geben und ist entschlossen, nach dem Beitritt der baltischen Republiken und der Länder des ehemaligen Warschauer Paktes eine weitere Ausdehnung der NATO nach Osten nicht zu dulden. Wie der Politikwissenschaftler Alexandre Del Valle feststellt, „ist die gesamte Außenpolitik Wladimir Putins Teil dieser starken Neigung der russischen Geopolitik, die traditionell auf die territoriale Eroberung der Gebiete rund um seinen historischen europäischen Kern ausgerichtet ist. In diesem System ist die Ukraine offensichtlich der Dreh- und Angelpunkt, der es Rußland ermöglicht, wieder eine eurasische Macht zu werden, denn von diesem Land aus kann sich Rußland sowohl auf das Schwarze Meer und das östliche Mittelmeer als auch auf Mitteleuropa und den Balkan projizieren. Daher die amerikanische Strategie, in der Ukraine, wie in Georgien und anderswo, politische Kräfte zu unterstützen, die Moskau feindlich gesinnt sind“ (La mondialisation dangereuse, L’Artilleur, Paris 2021, S. 99).
Prof. Massimo de Leonardis erinnert an die Worte von Zbigniew Brzezinski (1928–2017), die den Kern des Problems auf den Punkt bringen. „Ohne die Ukraine hört Rußland auf, ein Imperium zu sein, aber wenn es sich die Ukraine unterwirft, wird es automatisch zu einem Imperium“ (Vorwort zu Giorgio Cella: Storia e geopolitica della crisi ucraina, Carocci, Rom 2021, S. 12). In dieser Perspektive verlegt Rußland seine Truppen an die ukrainischen Grenzen, um nicht von der NATO eingekreist zu werden, aber die NATO versetzt ihre Soldaten in Alarmbereitschaft, um die Ukraine vor der Einkreisung durch Rußland zu schützen.
Für jene, die die Dinge mit den Augen des Glaubens sehen, jenseits der gegensätzlichen geopolitischen Interessen von Biden und Putin, stellt sich als erstes die Frage nach dem Wohl der Seelen. Unter diesem Aspekt, der für uns der wichtigste ist, dürfen wir nicht vergessen, daß die Ukraine das Zentrum der Ukrainischen griechisch-katholischen Kirche des byzantinischen Ritus ist, die ihren Sitz in Kiew hat, wo Erzbischof Swjatoslaw Schewtschuk heute den erzbischöflichen Stuhl innehat, der einst dem unerschrockenen Kardinal Jossyf Slipyj (1892–1984) gehörte, der deportiert und 18 Jahre lang in kommunistischen Lagern gefangengehalten wurde. In der ukrainischen Region Transkarpatien gibt es auch die Ruthenische griechisch-katholische Kirche des byzantinischen Ritus, zu deren Märtyrern der Eparch Theodor Romscha gehört, der am 1. November 1947 auf Befehl von Nikita Chruschtschow ermordet und am 27. Juni 2001 von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen wurde. Heute bildet sie die Eparchie von Mukatschewo, die unmittelbar dem Heiligen Stuhl untersteht.
Rußlands Expansionsdrang entspricht nicht nur Putins geopolitischen Ambitionen, sondern auch dem Wunsch des Moskauer Patriarchats, seine religiöse Autorität im gesamten ehemaligen sowjetischen Raum gegen die seiner Meinung nach ungebührliche Einmischung des Patriarchats von Konstantinopel und insbesondere des Vatikans auszuüben. Putin seinerseits ist sich bewußt, daß Rußland nicht auf seine Beziehungen zur orthodoxen Kirche verzichten kann, die dem Regime moralische Legitimität und Unterstützung im Sinne eines Konsenses verleiht. Putins Annexion der Ukraine würde eine Russifizierung des Landes bedeuten, die die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche auf Kosten der katholischen Kirche des byzantinischen Ritus stärken würde. Die politischen Interessen der Katholiken decken sich weder mit denen von Putin noch mit denen von Biden, aber auf religiöser Ebene, die die höchste ist, müssen wir jede Form der Ausdehnung des Moskauer Patriarchats in die slawischen Gebiete und vielleicht morgen in den Westen ablehnen. Die katholische Kirche befindet sich derzeit in einer schweren inneren Krise, aber die Lösung dieser Krise kann nur vom Wort der Wahrheit der Kirche von Rom kommen, sicherlich nicht vom Drang der orthodoxen Autokephalie nach Westen.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung/Fußnoten: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
1 altnordisch Waldamar Sveinaldsson aus dem warägischen Rurikidengeschlecht.
2 Als Kleinrußland galt seit dem 17. Jhdt. das links des Dnjepr gelegene Gebiet in der heutigen nördlichen Ukraine und Weißrußland, das Polen-Litauen im Russisch-Polnischen Krieg 1667 an Rußland verlor. Neurußland war eine Neuschöpfung des Jahres 1764, als Rußland das Osmanische Reich vom Nordufer des Schwarzen Meeres verdrängen und das Khanat der Krimtataren beseitigen konnte, und bezeichnete das beidseitig des Dnjepr gelegene neugewonnene Gebiet in der heutigen südlichen Ukraine mit Taurien, Odessa sowie der Krim. Das Gebiet reichte im Westen bis zum Dnjestr.