Die Wahl des neuen alten Staatspräsidenten vergangene Woche in Italien fand im deutschen Sprachraum nur wenig Aufmerksamkeit. Der nachfolgende Aufsatz von Prof. Roberto de Mattei enthält trotz des vermeintlich innenpolitischen Schwerpunktes einige ebenso interessante wie relevante Aspekte. Durch Fußnoten werden ergänzende Hintergrundinformationen angeboten, um die Lektüre zu erleichtern.
Mario Draghis Niederlage und die Republik der Hinterbänkler
Von Roberto de Mattei*
Seine vielfältigen Erfahrungen als Universitätsprofessor (seit 1975), als Beamter im Finanzministerium (1991–2001), als Manager bei Goldman Sachs (2002–2005), als Präsident der italienischen Zentralbank (2006–2011) und als Präsident der Europäischen Zentralbank (2011–2019) machen den derzeitigen italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi sicherlich zum Besten, was Italien an Fähigkeiten und Kompetenzen zu bieten hat. Ebenso sicher ist, daß Mario Draghi den höchsten Ausdruck jener Finanzmächte und Freimaurerkreise repräsentiert, die das sogenannte internationale Establishment ausmachen.
Sein Wunsch, der dreizehnte Präsident der Republik Italien zu werden, war daher mehr als logisch. Es war auch logisch, daß die Parteien der von ihm geführten Regierungsmehrheit diesen Ehrgeiz befriedigen würden, vor allem nachdem Draghi in der Pressekonferenz vom 22. Dezember 2020 selbst seine Bewerbung bekanntgegeben hatte mit dem Hinweis, seinen Regierungsauftrag, für den er als Ministerpräsident auserkoren worden war, erfüllt zu haben. Und es war ebenso logisch, daß Draghi, um sich selbst zum Kandidaten proklamieren zu können, das Plazet der starken Mächte erhalten hatte, mit denen er verbunden ist. Das alles war so logisch, daß ein umsichtiger politischer Analyst wie Paolo Mieli1 am 27. Januar in der Fernsehsendung Piazza Pulita lapidar feststellte: „Das Ergebnis steht fest: Mario Draghi wird das neue Staatsoberhaupt“.
Doch es kam anders, und Draghis Debakel war nicht nur das eines Mannes, sondern das des Systems, das er vertritt. Die „starken Mächte“ sind also zerbrechlicher, als es den Anschein hat, wenn die Aktion einer obskuren Gruppe von Parlamentariern, die die Zeitungen als „Hinterbänkler“ bezeichnen (siehe z. B. Corriere della Sera, 22. Januar 2022), ausreicht, um ihre Pläne zu durchkreuzen.
Auf seinem Weg zum Quirinal2 wurde Mario Draghi nicht von den Parteiführern versenkt, sondern von einer Gruppe von Abgeordneten und Senatoren, die sich über die Anweisung ihrer Anführer, in den ersten Wahlgängen weiße Stimmzettel abzugeben, hinwegsetzten und beschlossen, für Sergio Mattarella3, den scheidenden Staatspräsidenten, zu stimmen, um mit seiner Wiederwahl die Verlängerung der Legislaturperiode bis zu ihrem natürlichen Ablauf im Jahr 2023 zu sichern, was durch die Wahl Draghis gefährdet worden wäre.4 Die Stimmen der Hinterbänkler für Mattarella häuften sich: 16 im ersten Wahlgang, 39 im zweiten, 125 im dritten, 166 im vierten, 336 im sechsten und 387 im siebten Wahlgang. Um bei der achten Abstimmung nicht das Gesicht zu verlieren, sahen sich die Vorsitzenden der Mehrheitsfraktionen und Draghi selbst gezwungen, zu Mattarella zu pilgern, um ihn zu bitten, eine zweite Amtszeit anzunehmen. So wurde Draghi, der kompetente Mann schlechthin, an der Wahlurne durch geheime Abstimmung von den „Hinterbänklern“, den per definitionem Inkompetenten, besiegt.
Die Bestätigung der Diarchie Mattarella-Draghi friert den Status quo nicht ein, sondern scheint die zentrifugalen Spannungen und Impulse innerhalb der Regierung und den politischen Parteien abzuschmelzen. Das gilt besonders für das Mitte-rechts-Lager, das aus der Präsidentenwahl zerrissen hervorging. Hinter der scheinbaren Stärke des Establishments verbirgt sich eine echte Schwäche, die durch Draghis Niederlage ans Licht gekommen ist.
Ein Teil der Geschichte dieses Establishments wurde von einem Intellektuellen, der ihm angehörte, Professor Carroll Quigley (1910–1977) von der Georgetown University, in einem beeindruckenden Werk mit dem Titel Tragedy and hope: A history of the world on our time (Mac Millan Company, New York 1966) erzählt. Quigley beschreibt, wie sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts eine Reihe internationaler Bankiersfamilien zu riesigen und geheimen Machtzentren entwickelten:
Ihr Ziel war „nichts Geringeres als die Schaffung eines weltweiten Systems der Finanzkontrolle, das mit feudalen Methoden verwaltet und in private Hände gelegt wird und in der Lage ist, das politische System eines jeden Landes und die Wirtschaft der ganzen Welt zu beherrschen. Wie kann dies in der Praxis erreicht werden? Entweder durch gemeinsames Handeln der verschiedenen Zentralbanken, oder durch geheime Vereinbarungen, die im Rahmen häufiger privater Treffen und Konferenzen getroffen werden“ (Tragedy and Hope, S. 324).
Unter diesen privaten Treffen, bei denen die starken Finanzmächte geheime Absprachen treffen, gibt es ein wichtiges, an dem der damalige Direktor des Finanzministeriums, Mario Draghi, beteiligt war. Es fand vor dreißig Jahren auf der Jacht Britannia von Königin Elisabeth II. statt, die vor der Küste von Civitavecchia vor Anker lag.
Das Ereignis wird von Ferruccio Pinotti im Kapitel „Draghi, der von der Freimaurerei und vom Vatikan gesegnete Mann“ in seinem Buch Potere massonico („Freimaurerische Macht“, Chiarelettere, Mailand 2021, S. 241–257) rekonstruiert. Am 2. Juni 1992 organisierte eine Gruppe britischer Bankiers ein Treffen hochrangiger Vertreter der internationalen Finanzwelt auf der königlichen Jacht. Thema des Treffens waren die schwierige Wirtschaftslage in Italien und die mögliche Privatisierung öffentlicher Unternehmen. Damals kontrollierte der Staat Wasser, Strom und Gas sowie Eisenbahn, Flugverkehr (Alitalia-Monopol) und Autobahnen in vollem Umfang, doch der am 7. Februar 1992 von der Regierung Andreotti unterzeichnete Vertrag von Maastricht sah die neoliberale Umstrukturierung Italiens und Europas vor. Draghi spielte eine zentrale Rolle bei dem Treffen und hielt eine politische Rede, über die Il Fatto Quotidiano am 22. Januar 2020 berichtete. Den Worten folgten Taten: Draghi leitete die Privatisierungen, die der ehemalige Staatspräsident Francesco Cossiga in einem Interview mit Unomattina am 24. Januar 2008 als „Ausverkauf “ bezeichnete.
Die gegen Draghi erhobenen Vorwürfe scheinen nicht ungerechtfertigt zu sein. Selbst wenn man davon ausgeht, daß die Liquidation von Unternehmen zum Abbau der Staatsverschuldung beigetragen hat, scheint es zu einfach, die wirtschaftliche Situation durch den Verkauf der Familienjuwelen wiederherzustellen, wie es Draghi getan hat, indem er Autobahnen an Benetton verschenkte und Enel-Aktien 1999 durch das Finanzministerium an 3,8 Millionen Sparer verkaufte, die in den folgenden drei Jahren 50 Prozent ihrer Investitionen verloren. Es sollte nicht vergessen werden, daß im September 1992 eine Gruppe von Finanziers, darunter George Soros, einen Angriff auf die Italienische Lira startete, der zu einer Abwertung um 30 Prozent führte und die Reserven der von Carlo Azeglio Ciampi5 geleiteten italienischen Zentralbank aushöhlte, die in einem vergeblichen Versuch, die Spekulation einzudämmen, 48 Milliarden Dollar verbrannte.
In jenen Jahren hatte Draghi die postkeynesianischen Positionen von Prof. Federico Caffè (1914–1987), dessen Schüler er gewesen war, aufgegeben, um sich den neoliberalen Theorien anzuschließen, auf denen der Maastrichter Vertrag beruhte. Das Projekt von Maastricht, das die Liberalisierung der Märkte und die Schaffung der europäischen Einheitswährung vorsah, befindet sich jedoch in der Krise, trotz der Bemühungen von Draghi, als er Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) war, den Euro zu retten, „whatever it takes“ („koste es, was es wolle“). Der nunmehrige italienische Ministerpräsident scheint daher zu seinem ersten wirtschaftlichen Ansatz zurückzukehren, um die ernsten wirtschaftlichen Probleme Italiens zu lösen (siehe Ludovico Festa, Giulio Sapelli: Draghi o il caos. La grande disgregazione: l’Italia ha una via d’uscita?6, Guerini e Associati, Mailand 2021, S. 116–139).
Tatsache ist, daß das „kurze Jahrhundert“, wie das zwanzigste Jahrhundert auch genannt wird, das Scheitern und nicht den Triumph der neuen Weltordnung darstellte, deren Vorläufer der Vertrag von Maastricht sein sollte. Das politische, wirtschaftliche und mediale Establishment hält seine Macht durch Trägheit aufrecht, aber die Coronavirus-Pandemie 2020–2021 hat die Widersprüche und die Strategielosigkeit des politisch-finanziellen Systems, das den Westen führt, ans Licht gebracht. Italien ist nach den Präsidentschaftswahlen keine Gesundheitsdiktatur, sondern eine Republik der Hinterbänkler mit ungewissem Schicksal. Das Versinken im Chaos oder die Rückkehr zur Ordnung bleibt der unausweichliche Scheideweg für unsere Zukunft. Und da die Ordnung, von der wir sprechen, natürlich und göttlich ist, wer kann da an ihrem endgültigen Triumph zweifeln, trotz der immensen Schwierigkeiten, denen wir gegenüberstehen?
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
1 Paolo Mieli, geb. 1949 in Mailand, Journalist, Buchautor und Kommentator, „100 Prozent Jude“, aber nicht praktizierend, ist Sohn eines jüdischen Vaters, der auch Journalist war, und einer katholischen Mutter. Sein Vater gründete nach dem Krieg die staatliche Presseagentur ANSA, schloß sich der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) an und war Chefredakteur der Mailänder Ausgabe der kommunistischen Parteizeitung L’Unità. Der Sohn war 1968 in gewaltbereiten trotzkistischen Gruppen aktiv und solidarisierte sich öffentlich mit Gewalttaten. Als Journalist arbeitete er unter Eugenio Scalfari beim linken Wochenmagazin L’Espresso. Durch sein Studium der Geschichte, vor allem bei Renzo de Felice, dessen Assistent er wurde, mäßigte er seine Ansichten und näherte sich dem Umfeld der Sozialistischen Partei (PSI) von Bettino Craxi an. Er wurde Chefredakteur von Tageszeitungen, 1990 von La Stampa, dann 1992 des Corriere della Sera, beide Ausdruck des liberalen Großbürgertums. Mieli selbst brachte diese Positionierung mit dem Selbstbekenntnis zum Ausdruck, zu „99 Prozent Mitte-links“ zu stehen.
2 Der Quirinalspalast auf dem gleichnamigen römischen Hügel, ein ehemaliger päpstlicher Palast, ist Amtssitz und Residenz des italienischen Staatspräsidenten.
3 Sergio Mattarella wurde 2015 auf Vorschlag der Linksdemokraten (PD) zum Staatspräsidenten gewählt. Der einstige Christdemokrat (DC) gehörte dem linken Flügel der DC an, der sich in den 90er Jahren mit dem Mehrheitsflügel der ehemaligen Kommunistischen Partei zum neuen linksdemokratischen PD zusammenschloß. Die Analogie im Parteinamen zur Demokratischen Partei in den USA bringt den Zusammenschluß des linken und linksliberalen Spektrums zum Ausdruck und ist durchaus gewollt. Vor seiner Wahl zum Staatspräsidenten war Mattarella auf Vorschlag der Linksdemokraten Richter am Verfassungsgerichtshof.
4 Bei Neuwahlen, spätestens im März 2023, reduziert sich gemäß Verfassungsänderung die Zahl der Mandatare in beiden Häusern des Parlaments deutlich. Viele amtierende Abgeordnete haben keine Aussicht, wiedergewählt zu werden, weshalb sie an einer vorzeitigen Auflösung des Parlaments nicht interessiert sind.
5 Carlo Azeglio Ciampi war dann von 1999 bis 2006 italienischer Staatspräsident.
6 „Draghi oder das Chaos. Die große Auflösung: Hat Italien einen Ausweg?“