
von Roberto de Mattei*
Es gibt Männer, die die tiefsten Tugenden und Werte eines Volkes verkörpern. Das war Kardinal Josyf Slipyj, der Großerzbischof von Halytsch und Lemberg der Ukrainer, dessen Geburtstag sich zum 130. Mal jährt, zu einer Zeit, in der seine Heimat eine neue schreckliche Tragödie erlebt.
Geboren am 17. Februar 1892 in Sasdrist in der heutigen Westukraine1, trat Josef Slipyj im Alter von 19 Jahren in das Priesterseminar von Lemberg ein, promovierte an der Universität Innsbruck in Theologie und wurde in Lemberg am 30. September 1917 zum Priester geweiht. Nach einigen Jahren in der Seelsorge ging er nach Rom, um seine Studien am Päpstlichen Orientalischen Institut und an der Päpstlichen Universität Gregoriana fortzusetzen. 1922 wurde er zum Professor der Dogmatik am Priesterseminar von Lemberg, im Jahr 1925 zu dessen Regens und 1929 zum Rektor der neugegründeten Lemberger Theologischen Akademie ernannt. Lemberg war damals ein Teil Polens, während die übrige Ukraine nach dem Krieg unter das sowjetische Joch gefallen war und Stalin zwischen 1932 und 1933 die gesamte landwirtschaftliche Produktion beschlagnahmte, um die Zwangskollektivierung des Landes durch eine Hungersnot durchzusetzen, die als Holodomor bekannt wurde2.

Als der Krieg näherrückte und die Sowjetunion Ostpolen besetzte, erbat der griechisch-katholische Metropolit der Ukraine Andrej Scheptyzkyj (1865–1944), der Slipyj zum Priestertum geführt hatte, bei Pius XII. seine Ernennung zum Koadjutor mit Nachfolgerecht. So wurde Josyf Slipyj im Dezember 1939 zum Titularerzbischof von Serrae geweiht und nach dem Tod von Metropolit Scheptyzkyj am 1. November 1944 zum Oberhaupt und Vater der ukrainischen katholischen Kirche. Es war eine schreckliche Zeit für sein Land, das im im Würgegriff von Nationalsozialisten und Kommunisten gefangen war. Am 11. April 1945 wurde Metropolit Slipyj von den Sowjets verhaftet und zu acht Jahren Zwangsarbeit in sibirischen Gulags verurteilt. Während seiner Haft wurde eine illegale Synode einberufen, auf der die „Wiedervereinigung“ der ukrainischen katholischen Kirche mit dem orthodoxen Patriarchat von Moskau, das vom Sowjetregime beherrscht wurde, verkündet wurde. Die Kirchen der Griechisch-Katholischen, etwa 3.000 an der Zahl, wurden den Orthodoxen übergeben, und fast alle Bischöfe und Priester wurden getötet oder inhaftiert. 1953 wurde Erzbischof Slipyj vor Haftende zu einer zweiten Strafe von fünf Jahren Sibirien und 1958 zu einer dritten von vier Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Im Jahr 1962, im Alter von siebzig Jahren, wurde er zum vierten Mal, nun zu einer lebenslangen Deportation in ein sehr hartes Lager in Mordwinien verurteilt. Insgesamt verbrachte der heldenhafte Prälat 18 Jahre in Gefängnissen und Gulags.
Der Jesuitenpater Pietro Leoni (1909–1995), ein Überlebender der sowjetischen Lager, beschreibt die Schrecken eines Durchgangslagers Kivov, indem er berichtet, daß eines Tages einige Häftlinge in seine Zelle gebracht wurden.
„In der Abenddämmerung hörte ich eine unbekannte Stimme, die mich rief: Ein alter Mann mit Bart stand vor meinem Liegeplatz; er reichte mir die Hand und stellte sich vor: Josyf Slipyj. Es war zugleich eine Freude und ein Schmerz, mich zusammen mit meinem Metropoliten zu wissen.“3
Pius XII. setzte sich wiederholt für die Ukrainer und ihren Metropoliten ein und ermutigte sie trotz Verfolgung standzuhalten, insbesondere mit der Enzyklika Orientales Omnes Ecclesias vom 23. Dezember 1945. Doch 1958, nach dem Tod von Pius XII., begannen sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Vatikan zu verändern. Als Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil ankündigte, wollte er, daß Vertreter des Moskauer Patriarchats daran teilnehmen. Die Kreml-Behörden machten zur Bedingung, daß das Konzil über den Kommunismus schweigt. Im August 1962 wurde in der französischen Stadt Metz ein Geheimabkommen zwischen Kardinal Tisserant, Vertreter des Vatikans, und dem orthodoxen Bischof Nikodim auf russischer Seite unterzeichnet. Die große Kirchenversammlung, die einberufen wurde, um die Probleme ihrer Zeit zu diskutieren, würde über die größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts schweigen.4

In jenen Jahren wimmelte es in den kommunistischen Gulags von Gefangenen aus religiösen Gründen, insbesondere aus der ukrainischen katholischen Kirche. Es wäre ein Skandal gewesen, wenn die Bischöfe, die Opfer der Verfolgung waren, in der Konzilsaula nicht anwesend gewesen wären, während die Vertreter des Moskauer Patriarchats, die die Henker unterstützten, anwesend waren. Zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Kreml fanden daher Verhandlungen statt, um Metropolit Slipyj die Teilnahme am Konzil zu ermöglichen. Das Oberhaupt der ukrainischen Kirche wollte sein Land nicht verlassen, gehorchte aber dem Papst und weihte vor seiner Abreise aus Moskau heimlich den ukrainischen Redemptoristenpriester Wassyl Welytschkowskyj zum Bischof.
Er kam am 9. Februar 1963 in Rom an, schwieg aber nicht. Am 11. Oktober 1963 sprach Slipyj auf dem Konzil über das Blutzeugnis der ukrainischen Kirche und schlug vor, den Sitz von Lemberg in den Rang eines Patriarchen zu erheben. Er erinnert daran, daß er diese Bitte mehrmals an Paul VI. herangetragen hatte, aber immer aus politischen Gründen eine Ablehnung bekam. Die Anerkennung des ukrainischen Patriarchats hätte nämlich die Ostpolitik und den ökumenischen Dialog mit der orthodoxen Kirche von Moskau behindert.5 Am 22. Februar 1965 wurde er jedoch von Papst Paul VI. zum Kardinal kreiert, der die ukrainische griechisch-katholische Kirche in den Rang eines Großerzbistums von Lemberg der Ukrainer erhob.
Zwischen 1968 und 1976 unternahm Kardinal Slipyj trotz seines fortgeschrittenen Alters lange und beschwerliche Reisen zu den Gemeinden der ukrainischen Diaspora in Amerika, Australien und Westeuropa, um seine Aufgabe als Seelsorger seines Volkes weiter zu erfüllen. 1976 richtete er einen Appell an die Vereinten Nationen im Namen der Opfer des Kommunismus, und 1977 prangerte er in einer dramatischen Rede vor dem Sacharow-Tribunal die religiöse Verfolgung in der Ukraine an. Die Welt schaute auf ihn und auf Kardinal József Mindszenty (1892–1975) als zwei große Zeugen des katholischen Glaubens im 20. Jahrhundert.
Um die Zukunft der ukrainischen Kirche zu sichern, schreckte Kardinal Slipyj auch vor extremen Gesten nicht zurück. Peter Kwasniewski erinnerte kürzlich daran, wie Slipyj am 2. April 1977 heimlich drei Bischöfe ohne die Erlaubnis Pauls VI. weihte und sich damit automatisch die Kirchenstrafe gemäß Canon 953 des damals geltenden Codex zuzog. Anders als im Fall von Msgr. Marcel Lefebvre, der 1988 wegen des gleichen Verstoßes gegen das Kirchenrecht exkommuniziert wurde, wurden gegen Kardinal Slipyj jedoch keine Maßnahmen ergriffen. Einer der von ihm geweihten Bischöfe war Msgr. Lubomyr Husar (1933–2017), den Johannes Paul II. nach Slipyj zum Großerzbischof der griechisch-katholischen Kirche der Ukrainer und zum Kardinal ernannte. Dessen Nachfolger als Primas ist Swjatoslaw Schewtschuk, der zur Zeit in der belagerten Stadt Kiew unter Beschuß ist. Im Jahr 2004 wurde der Sitz des Großerzbistums nach Kiew verlegt und in den heutigen Namen Kiew-Halytsch umbenannt.
Kardinal Josyf Slipyj starb am 7. September 1984 im Alter von zweiundneunzig Jahren im Exil in Rom und ist heute in Lemberg in der Krypta der St.-Georgs-Kathedrale neben Metropolit Andrej Scheptyzkyj begraben. Johannes Paul II. beschrieb ihn als „einen Mann von unbesiegbarem Glauben, einen Seelsorger von unerschütterlichem Mut, einen Zeugen von heroischer Treue, eine herausragende Persönlichkeit der Kirche“ 6.
Während die religiöse und politische Identität seines Landes wieder einmal brutal mit Füßen getreten wird, hilft uns die Erinnerung an den heldenhaften Widerstand von Kardinal Josyf Slipyj, auf die Zukunft der Ukraine zu vertrauen. Kiew war der Ort der Bekehrung des russischen Volkes zur katholischen Kirche, und von Kiew, nicht von Moskau, wird die zweite große Bekehrung Rußlands ausgehen, die die Gottesmutter in Fatima angekündigt hat. Kardinal Slipyj war ein großer Verfechter der Botschaft von Fatima. Im Jahr 1980 überreichte er Johannes Paul II. zwei Millionen Unterschriften, die von der Blauen Armee gesammelt worden waren, und betonte in einem langen Gespräch mit dem Papst die Notwendigkeit, Rußland dem Unbefleckten Herzen Mariens zu weihen.7 Diese Weihe hat noch nicht in der Weise stattgefunden, wie sie von der allerseligsten Jungfrau gewünscht wurde, an die sich Kardinal Slipyj in seinem Testament wandte:
„Auf dem Schlitten sitzend und mich auf den Weg in die Ewigkeit machend … spreche ich ein Gebet zu unserer Beschützerin und Königin des Himmels, der allzeit jungfräulichen Mutter Gottes. Nimm unsere ukrainische Kirche und unser ukrainisches Volk unter deinen wirksamen Schutz!“ 8
Indem wir uns seine Worte in diesem tragischen Moment der Weltgeschichte zu eigen machen, können wir nur mit lauter Stimme verkünden: „Ehre gebührt Kardinal Slipyj und seinem gemarterten Volk“.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/Wikicommons
1 Damals im österreichischen Königreich Galizien und Lodomerien.
2 s. Anne Applebaum: Stalins Krieg gegen die Ukraine. Siedler, München 2019.
3 Msgr. Giovanni Choma: Josyf Slipyj, padre e confessore della Chiesa ucraina martire (Josyf Slipyj, Vater und Bekenner der ukrainischen Märtyrerkirche). La Casa di Matriona, Milano 2001, S. 68.
4 s. Roberto de Mattei: Il Concilio Vaticano II. Una storia mai scritta. Lindau, Torino 2010, S. 174–177, dt. Ausgabe: Das Zweite Vatikanische Konzil – eine bislang ungeschriebene Geschichte. Edition Kirchliche Umschau 2011.
5 Сліпий, Йосиф: Спомини [Slipyj, Josyf, Erinnerungen], hrg. v. Дацько, Іван/Горяча, Марія, Львів u. a. 2014, hier zitiert nach Memorie, Università Cattolica Ucraina, Leopoli-Roma 2008, S. 512f.
6 L’Osservatore Romano, 19. Oktober 1984.
7 John Haffert: Dear Bishop! Memoirs of the Author concerning the History of the Blue Army, AMI International Press, Washington 1982, S. 229.
8 Memorie, S. 524f.