Giuliano Ferrara, bis 2015 Chefredakteur der italienischen Tageszeitung Il Foglio, war zuvor bereits Minister und Regierungssprecher unter Silvio Berlusconi, unabhängiger Europaabgeordneter in den Reihen der Sozialistischen Fraktion und bis zum 37. Lebensjahr Kommunist. 2008 regte er ein internationales Abtreibungsmoratorium an. Ferrara, einer der bekanntesten Intellektuellen Italiens bezeichnet sich selbst als „frommen Atheisten“. Dem Pontifikat von Benedikt XVI. stand er sehr nahe. Auch für das von Franziskus zeigte er anfangs Sympathie, ging dann aber zunehmend auf Distanz. Il Foglio veröffentlichte in seiner heutigen Ausgabe den nachstehenden Kommentar Ferraras auf der Titelseite:
Dieser Papst ist ganz Moralismus, Ideologismus und Pauperismus.
Von Giuliano Ferrara
Es ist nicht gleichgültig, wie ein Papst spricht. Franziskus hat sich für eine Durchschnittssprache entschieden, der jede Ausstrahlung fehlt, die über keine Ausdrucksstärke verfügt, die nicht bewegt, nicht anrührt, nicht inspiriert. Wer ihm zuhört, wird nicht vor die Herausforderung gestellt, die eigene geistige Trägheit zu überwinden, sieht nicht den Stellvertreter Christi, begegnet keinem Lehrmeister auf dem Berg, sondern wird eingeladen, sich mit dem bereits Gesagten, dem bereits Gesehenen, dem für die Medien Ausgearbeiteten und von diesen jeden Tag Wiedergekäuten zufriedenzugeben, und das alles mit Opfergestus und oberflächlichen Erklärungen, mit korrekten und platten Gefühlen statt mit übernatürlichen Thesen, mit moralistischen statt biblischen Parabeln. Es fehlt jede allegorische Ader: Gott wird zu Weihnachten geboren und steht zu Ostern von den Toten auf, doch für den Rest gibt es sofort UNO, NGOs, marktfeindliche Ideologismen und generalisierten Pauperismus.
Das ist seltsam. Sein Berater Spadaro SJ ist ein Literaturkritiker, der begründetermaßen in Flannery O’Connor verliebt ist, jene Erzählerin des Südamerikanischen, Stylistin des Unvorhergesehenen, des Beängstigenden, der Vorstellungsgabe als religiöse und mystische Ressource. Im soziologischen Stil von Franziskus kann man nicht einmal das Echo der großen christlichen Literatur, weder der Moderne noch der Spätantike, auch nur erahnen. Man erkennt nichts von Paulus, der Patristik, Augustinus, der eremitischen Askese des Ostens, nicht einmal etwas von der jesuitischen Hermetik und der gewagten, schwülstigen Hermeneutik des 17. Jahrhunderts, nichts vom Barock oder generell von den Früchten der christlichen Kunst, jenem grandiosen Kino, das Kathedralen und Kirchen ehrt.
Alles ist Unterscheidung dessen, was andere meinen, alles ist Zuhören, ist identitätslose Hinneigung zum anderen und nichts ist authentisches Verständnis der Unwegsamkeiten der Geschichte. Diese weiche Sprache klingt zwar nach einem ignatianischen Lehrbuch, doch ohne auch nur den Schatten der Kraft und der lehramtlichen Lebendigkeit der großen Prediger. Es gibt weder Dunkelheit noch Licht, weder Tradition gegen die Zeit noch ein Spiel der Vernunft mit der Zeit, wie es im Stil eines Paul VI., eines Johannes Paul II., eines Benedikt XVI. war.
Wegen der Überraschung eines neuen, unbekannten Papstes war es interessant, ihn zu studieren – zumindest anfangs –, zu versuchen, sein sanftes, evangelisierendes Jesuitentum zu verstehen, den Verweis auf Petrus Faber, auf dessen Denkschrift, die möglichen Verknüpfungen mit der Mystik in den geheimnisvollen Mäandern des europäischen 16. Jahrhunderts. Doch bald nach dem Beginn des Pontifikats, nach den ersten Blitzen und Skandalen, ist der Papst, aus welchen Gründen auch immer, in die Allgemeinheit einer katechetischen Grammatik zurückgefallen, die ganz aus Liebe, caritas, und Vergebung besteht. Das sind herausragende Merkmale der Christenheit, nur von ihr, aber sie genügen allein weder dem Mittel noch der Botschaft.
Nun hat er auch noch etwas gegen die Impfstofforschung, die Patente, das Interessen- und Gesundheitssystem, das zu einer Anhebung der Lebenserwartung in ein fast biblisches Alter führte, wie sie noch nie in der Geschichte erreicht wurde. Und er vertraut Carlo „Carlin“ Petrini eine andere seiner gelegentlichen Tiraden gegen die vom wilden Markt geschundene Menschheit an (aber wo denn: Noch nie sind so viele in den Genuß von Welfare-Systemen gekommen, die mit den heutigen vergleichbar sind). Der Papst hat auch etwas gegen die Gespenster der Finanz und der sphärischen Globalisierung, zwei Hebel, um die extreme Armut eindeutig zu reduzieren. Diese Instrumente einer liberalen Welt gefallen dem Papst nicht, weil sie eine Wegwerfkultur praktizieren. Er sieht aber, außer hie und da, und das mehr gezwungenermaßen, nicht das Aussondern und Wegwerfen, das wirklich zählt, das der Abtreibung, das der Eugenik.
Es wurde eine Enzyklika über die Brüderlichkeit angekündigt, und natürlich sind die religiösen und politischen Populismen ein Angriff auf das Herz der christlichen Sichtweise, aber dafür befinden sich neue kraft- und rückgratlose Ökologismen auf dem Vormarsch, die einer szientistischen Ideologie anstatt der Wissenschaft entlehnt sind und vom Mainstream und dem allein vorherrschenden Denken unterstützt werden.
Wie schade.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)
„Dieser Papst ist ganz Moralismus, Ideologismus und Pauperismus.“
Wenn ein Papst in dieser Zeit von den Mächtigen dieser Welt und ihren Medien nicht angegriffen wird dann habe ich überhaupt kein Problem mit der Wahrheit meines Gottes. Eigentlich warte ich seit vielen Jahren genau auf diese Dinge.
Per Mariam ad Christum.