(Buenos Aires) Seit die Kardinäle im vergangenen März den Erzbischof von Buenos Aires zum Papst wählten, wurde diese und jene Freundschaft bekannt und so mancher, der ihn mehr oder weniger gut kannte, drängte sich etwas ins Rampenlicht. Nicht zuletzt anhand solcher Hinweise gibt es Versuche, das „Rätsel Papst Franziskus“ (Palmaro/Gnocchi) zu entziffern.
Am 11. Dezember veröffentlichte der britische The Guardian den umfangreichen Artikel „Papst Franziskus und die marxistische Desaparecida“. Der Journalist Uki Goni erzählt an einem konkreten Beispiel, wie der Jesuit Jorge Mario Bergoglio während der argentinischen Militärdiktatur (1976–1982) Verfolgte verteidigte und dabei das Menschenmögliche versuchte.
Esther Careaga: Revolutionärin, Marxistin, Feministin
Goni schildert, wie 1953/1954 eine Freundschaft zwischen dem damals erst 17jährigen Jorge Bergoglio und der Biochemikerin Esther Ballestrino de Careaga bestand. Er besuchte eine höhere technische Lehranstalt für Chemiker und war noch weit entfernt davon, in das Noviziat des Jesuitenordens einzutreten. Sie war eine Revolutionärin, Marxistin und Feministin und schon 36 Jahre alt. Die persönlichen Lebensumstände zwischen beiden hätten nicht unterschiedlicher sein können. Goni schildert die Ereignisse anhand von Esther Careagas eigenen Aussagen, von deren Tochter und anderer Zeugen.
Careaga, 1918 als Esther Ballestrino in der paraguayischen Hauptstadt Asuncion geboren, hatte an der dortigen Universität Biochemie und Pharmazie studiert. Sie schloß sich den marxistischen Febreristas an, die 1946 als Teil eines Linksbündnisses an die Regierung gelangten. Careaga war in den 40er Jahren eine der bekanntesten Marxistinnen Paraguays und Gründerin der ersten sozialistischen Frauenbewegung des Landes. Als im Bürgerkrieg, in dem die Febreristas an der Seite von Linksliberalen und Kommunisten kämpften, die Linke unterlag, mußte auch Esther Ballestrino ins Exil gehen. Ihr Weg, wie der zahlreicher anderer Marxisten führte in das Argentinien von Juan Peron, wo sie ihren Mann Raymundo Careaga kennenlernte und heiratete. Den jungen Bergoglio lernte sie in einem chemischen Labor kennen.
Die Desaparecidos – Tag der Ermordung von Bischof Angelelli heute nationaler Trauertag
Während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983, die mit dem verlorenen Falkland-Krieg endete, verschwanden laut der Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas (CONADEP) mindestens 9000 Menschen. Das Schicksal der Desaparecidos (Verschwundenen) umgab eine Mauer des Schweigens. Zu den Verfolgten gehörten Regimegegner aller Art, darunter Marxisten, aber auch Priester und Ordensleute, nicht nur Anhänger der Befreiungstheologie, die Christus mit Marx verwechselten, sondern auch solche, die ihre Stimme gegen Willkür und Unrecht erhoben. Zu den bekanntesten katholischen Opfern gehörte Bischof Enrique Angelelli, der 1976 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, der sich später als Attentat herausstellte. 2006 erklärte der linksperonistische Staatspräsident Nestor Kirchner den Tag von Bischof Angelellis Ermordung zum nationalen Trauertag.
Viele Menschen waren eingeschüchtert. Wer die Stimme erhob, riskierte die Verhaftung. Gefängnis, Mißhandlungen oder auch die Ermordung bildeten das Schicksal. „Staatsfeinde“ wurde über dem Atlantik aus dem Flugzeug geworfen. Der Tod durch den Aufprall an der Wasseroberfläche oder durch Ertrinken war sicher.
Uki Goni arbeitete damals bei der kleinen englischsprachigen Tageszeitung Buenos Aires Herald, dem einzigen Blatt, das bereits damals diese Verbrechen anprangerte. Deshalb wurde es ein Bezugspunkt für die Madres der Plaza de Mayo in Buenos Aires. Die Mütter und Großmütter von Desaparecidos, die Auskunft über das Schicksal ihrer Kinder oder Enkel wollten.
Die Unterstützung der „Madres“ der Plaza de Mayo durch Johannes Paul II.
Es ist wichtig daran zu erinnern, daß einige Madres auf Wunsch von Papst Johannes Paul II., der besonders sensibel gegen Unterdrückung war, nach Rom eingeladen wurden. Aus diplomatischen Gründen nicht offiziell vom Heiligen Stuhl, sondern von einer römischen Pfarrei. Johannes Paul II. grüßte sie dann aber ausdrücklich beim sonntäglichen Angelus. Über den Vatikan wurden zudem Pressekontakte vermittelt, wodurch die Madres in Europa bekannt wurden, während in Argentinien noch dazu geschwiegen wurde. Die Militärjunta wußte davon, verzichtete aber sowohl auf eine Polemik gegen den Papst als auch auf ein Vorgehen gegen den Herald. Der Schaden wäre größer als der Nutzen gewesen, das hatten die Generäle schnell verstanden. Und wer las in Argentinien schon eine kleine englischsprachige Zeitung.
Im Juli 1977 kam Esther Careaga in das Büro des Herald und erzählte vom Verschwinden ihrer 16jährigen Tochter Ana Maria, die seit wenigen Wochen schwanger war. Die Redaktion war beeindruckt von der Beherrschtheit und Entschlossenheit dieser Mutter. Die meisten Madres von denen sie wußten, waren einfach verzweifelt und verwirrt. Esther Careaga fiel auf. Der Buenos Aires Herald veröffentlichte die Geschichte. Nach vier Monaten Haft, in denen sie miterlebte, wie in den Kasernen über Lautsprecher Marschmusik und Reden abgespielt wurden, um die Schreie der Gefolterten zu übertönen, wurde Ana Maria plötzlich freigelassen. Sie verließ Argentinien umgehend und fand in Schweden Aufnahme, wo sie ihre Tochter zur Welt brachte. Ana Maria wollte, daß auch ihre Mutter mit nach Schweden kommt, doch Esther Careaga lehnte ab.
Careaga über dem Atlantik in den Tod gestürzt
Als die Tochter in Sicherheit war, erschien sie erneut in der Redaktion des Herald und forderte zum Kampf für die Freilassung „aller verschwundenen Töchter und Söhne auf“. Das war zu gewagt, denn wer Esther Careaga kennenlernte, verstand, daß sie noch viel gefährlicher war als ihre junge Tochter. Am 8. Dezember 1977 wurde die damals 59-Jährige von der Polizei abgeholt. Sie wurde in eines der Lager gebracht und schließlich über dem Atlantik unweit des Hafens von Buenos Aires mit zwei anderen Madres der Plaza de Mayo und zwei französischen Ordensfrauen aus einem Flugzeug geworfen.
Ana Maria erfuhr, laut Guardian, am 11. Dezember von der Verhaftung der Mutter. „Wir wußten, daß das schlimm ist, an das Schlimmste haben wir aber nicht gedacht … Die Hoffnung verliert man als Letztes.“
Careaga und Bergoglio: marxistische Bücher in Sicherheit gebracht
Ana Maria erzählt im Guardian, daß die Mutter kurz vor ihrer Verhaftung ihren alten Freund Bergoglio anrief, der seit Jahren bei den Jesuiten und inzwischen sogar Provinzial war. Sie bat ihn am Telefon, in ihr Haus zu kommen, um einem schwerkranken Verwandten die Letzte Ölung zu spenden. Er sei recht erstaunt gewesen, weil er ja wußte, daß die Familie Careaga Marxisten waren und der Kirche ablehnend gegenüberstanden. Dennoch ging er hin.
In Wirklichkeit hatte Esther Careaga ihn gerufen, weil sich in ihrem Haus zahlreiche politische Bücher befanden, vor allem marxistische Schriften. Wenn sie von der Polizei gefunden würden, wäre das gefährlich geworden. Sie wollte sich aber von ihnen auch nicht trennen. So kam es, daß sie den Jesuitenprovinzial bat, sie an sich zu nehmen und an einem sicheren Ort aufzubewahren. Er akzeptierte und brachte die marxistischen Schriften unter mehreren Malen fort. Die Entfernung der Bücher änderte aber nichts am Lauf der Dinge.
Als Ana Maria nach dem Ende der Militärdiktatur nach Argentinien zurückkehrte, suchte sie Pater Bergoglio auf. An die Details kann sie sich nicht mehr erinnern. „Es gab wichtigere Dinge anzugehen und so haben wir ihn gefragt, wo die Bücher geblieben sind“. Im übrigen, so die Tochter, habe keine Freundschaft zwischen der Familie Careaga und Bergoglio bestanden: „Er war ein persönlicher Freund von meiner Mutter“. Im Laufe der Zeit brachte die Tochter dann die näheren Umstände der Haft ihrer Mutter und auch ihres Todes in Erfahrung.
Bergoglio als Zeuge im Careaga-Prozeß
1998 wurde Pater Bergoglio, schon seit einigen Jahren Weihbischof, von Johannes Paul II. zum Erzbischof von Buenos Aires ernannt. 2010 wurde auch er als Zeuge vor Gericht geladen, um über den Fall Esther Careaga und andere ähnliche Fälle auszusagen. Bei dieser Gelegenheit erkannten auch die Richter an, daß er das Mögliche getan hatte. Ein schwerwiegender Versuch, Verwirrung zu stiften, konnte aufgeklärt werden. Im Mittelpunkt stand eine zweifelhafte Gestalt, Alfredo Astiz, genannt Blonder Engel, der sich zunächst bei den Madres als Spitzel eingeschlichen und deren Vertrauen gewonnen hatte, indem er erzählte, auch einen Bruder zu haben, der verschwunden sei, um sie dann zu verraten. Später setzte er sich nach Großbritannien ab, wurde schließlich aber ausgeliefert, vor Gericht gestellt und 2011 zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Prozeß kam heraus, daß er es war, der die Polizisten, die Esther abholten, hingeführt hatte. Ebenso auch zu den beiden französischen Ordensschwestern, die dann mit Careaga in den Tod gestürzt wurden.
2005 war es möglich geworden, einige Leichenteile, die der Atlantische Ozean südlich von Buenos Aires an die Küste von Santa Terista gespült hatte, mittels DNS-Test zu identifizieren. Tatsächlich handelte es sich dabei unter anderem um sterbliche Überreste von Esther Careaga und der beiden Ordensfrauen. Der Sohn einer der ermordeten Frauen bat darum, daß seine Mutter gemeinsam mit den aufgefundenen Resten von Careaga und der beiden Ordensschwestern im Garten neben der Kreuzkirche begraben werde, die von der irischen Gemeinschaft in Buenos Aires genützt wird.
Erzbischof Bergoglios Zustimmung zur Bestattung Careagas
Dazu bedurfte es der Zustimmung des Erzbischofs. Dieser schien in einem ersten Augenblick unsicher, wie in dieser Sache zu entscheiden sei. Luis Bianco, der Sohn einer der getöteten Mütter, die gemeinsam mit Esther Careaga gefunden worden waren, flüsterte Erzbischof Bergoglio am Rande des Gesprächs zu, daß „eine der Mütter Careaga war“. Nach einem Augenblick habe der Erzbischof sichtlich bewegt gesagt: „Careaga war eine gute Freundin, und eine große Frau. Ich bin sicher, daß deine Mutter genauso war“. Eine Woche später kam die schriftliche Erlaubnis für die Bestattung.
Inzwischen ist das Buch „Bergoglios Liste“ des Journalisten Nello Schiavo erschienen. Der Titel ist ein Anspielung auf die berühmte Geschichte des deutschen Unternehmers Oskar Schindler im Zweiten Weltkrieg. Schiavo geht darin Bergoglios Einsatz für die Verfolgten der Militärdiktatur nach und dem geheimen Netz, das der argentinische Jesuit dafür aufgebaut hatte und damit Leben retten konnte, die sonst das Ende von Esther Careaga genommen hätten. Inzwischen haben auch einige kirchenferne Medien Besprechungen dieses Buches veröffentlicht. Der bekannte Lateinamerika-Kenner und kein Kirchenfreund, Maurizio Chierici schrieb am vergangenen Samstag in der Tageszeitung Fatto, daß selbst der langjährige, berühmt-berüchtigte Ankläger gegen den einstigen Erzbischof von Buenos Aires, der Marxist Horacio Verbitsky inzwischen den „Irrtum“ seiner „Böswilligkeit eingesehen“ hat (zu Verbitsky siehe den Bericht Homo-Angriff auf Papsteintrag bei Wikipedia – Wenn Bilder lügen: Papst Franziskus mit Diktator Videla).
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Info Argentinas
Es ist gut, daß sich der heilige Vater damals gegen die Militärdiktatur in seiner Heimat gestellt hat. In der jetzigen Situation wäre es umso schöner, wenn er sich gegen die Diktatur der Relativisten und Gottlosen auflehnen würde.
Richtig.
Dies erklärt vielleicht diese – unmißverständliche – Geste:
http://www.vatican.va/phome_en.htm
Das ist eine traurige Geschichte… Bergoglio hat sich menschlich verhalten. Das ist gut. Aber es kann das, was er jetzt tut, nicht rechtfertigen.