Indio-Theologie, Chiapas-Experiment und Amazonassynode

Ein gescheitertes Experiment als Vorbild?


Die Indio-Theologie und das Chiapas-Experiment mit Blick auf die Amazonassynode.

(Rom/­Me­xi­ko-Stadt) In vier­ein­halb Mona­ten wird im Vati­kan die von Papst Fran­zis­kus ein­be­ru­fe­ne Ama­zo­nas­syn­ode begin­nen. Ihre tie­fe­re Agen­da ist die Auf­he­bung des prie­ster­li­chen Zöli­bats und die Zulas­sung ver­hei­ra­te­ter Män­ner zum Prie­ster­tum. Des­halb erstaunt die Zurück­hal­tung in der Fra­ge von Bischof Feli­pe Ariz­men­di, der an „vor­der­ster Front“ gegen „ein ande­res Prie­ster­tum“ stand. Dabei hat­te Papst Fran­zis­kus Ariz­men­dis Bis­tum San Cri­sto­bal de las Casas früh­zei­tig als Bezugs­punkt in Sachen Zulas­sung ver­hei­ra­te­ter Män­ner zum Prie­ster­tum genannt. 

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Blickt man zurück, kann die Audi­enz des öster­rei­chi­schen Mis­si­ons­bi­schofs Erwin Kräut­ler Anfang April 2014 als Aus­gangs­punkt der Ama­zo­nas­syn­ode aus­ge­macht wer­den. Von einer sol­chen war damals zwar noch kei­ne Rede, aber ihre Agen­da wur­de bereits abge­steckt, auf höch­ster Ebe­ne. Als Kräut­ler weni­ge Tage spä­ter gegen­über den Salz­bur­ger Nach­rich­ten die Audi­enz reka­pi­tu­lier­te, erwähn­te er auch „ein mexi­ka­ni­sches Bis­tum“, das Papst Fran­zis­kus als Bezugs­punkt in Sachen Zulas­sung ver­hei­ra­te­ter Män­ner zum Wei­he­sa­kra­ment genannt habe. 

Ein bestimmtes Bistum

Im Febru­ar 2016 besuch­te Papst Fran­zis­kus Mexi­ko, ein Land, das 96 Diö­ze­sen zählt. Fran­zis­kus woll­te aber ein bestimm­tes Bis­tum auf­su­chen, San Cri­sto­bal de las Casas, über das er bereits mit Kräut­ler gespro­chen hatte.

Die Diö­ze­se umfaßt den Chia­pas, den Staat mit dem höch­sten Indio-Anteil in Mexi­ko. Die Gegend war vie­le Jah­re unru­hig und in den 90er Jah­ren das Zen­trum bewaff­ne­ter Kämp­fe einer mao­isti­schen Gue­ril­la­or­ga­ni­sa­ti­on. Das Bis­tum Chia­pas gehört zu den älte­sten Ame­ri­kas. Es wur­de bereits 1539 errich­tet. In ihm setz­te der 2000 ver­stor­be­ne Bischof Samu­el Ruiz Gar­cia das soge­nann­te Chia­pas-Expe­ri­ment um. 

Ruiz Gar­cia stand der mar­xi­sti­schen Befrei­ungs­theo­lo­gie nahe, wes­halb er beste Kon­tak­te zur mar­xi­sti­schen Zapa­ti­sten-Gue­ril­la unter­hielt. Offi­zi­ell trat er als Ver­mitt­ler auf und wur­de dafür inter­na­tio­nal ausgezeichnet. 

Bischof Ruiz Gar­cia (1959–2000)

In sei­nem Bis­tum setz­te er eine beson­de­re Vari­an­te der Befrei­ungs­theo­lo­gie um, die Teo­lo­gia india die soge­nann­te „Indio-Theo­lo­gie“. In ihr fin­den sich vie­le Ele­men­te, die auch ande­ren latein­ame­ri­ka­ni­schen Links-Strö­mun­gen welt­li­cher oder kirch­li­cher Rich­tung eigen sind und in den ein­zel­nen Vari­an­ten in unter­schied­li­cher Inten­si­tät auf­tre­ten: Mar­xis­mus, Anti­ame­ri­ka­nis­mus und Anti­im­pe­ria­lis­mus. Dar­aus fol­gen irra­tio­na­le, anti-iden­ti­tä­re Res­sen­ti­ments, die sich gegen die eige­ne Geschich­te und Kul­tur der ver­gan­ge­nen 500 Jah­re rich­ten. Die Ent­deckung Ame­ri­kas durch Chri­stoph Kolum­bus und die His­pa­ni­sie­rung sei impe­ria­li­stisch und aus­beu­te­risch gewe­sen. Dar­aus resul­tiert in einem Teil die­ser Strö­mung auch eine Ableh­nung der Chri­stia­ni­sie­rung. Als Ersatz wird eine mythi­sche, indi­ge­ne Kul­tur und teil­wei­se auch eine Rück­kehr zu heid­ni­schen Reli­gio­nen pro­pa­giert. Die­se Rich­tung wur­de nach dem Zwei­ten Welt­krieg von der sowjet­hö­ri­gen Lin­ken geför­dert, um die sozia­li­sti­sche Revo­lu­ti­ons­be­we­gung über eine latein­ame­ri­ka­ni­sche Vari­an­te der Ent­ko­lo­nia­li­sie­rung aus­zu­brei­ten und den Ein­fluß der USA und des Westens ins­ge­samt zurück­zu­drän­gen. Die Aus­wir­kun­gen auf bestimm­te christ­li­che Krei­se, die von einer Alli­anz zwi­schen Sozia­lis­mus und Chri­sten­tum träum­ten, blie­ben nicht aus.

Die Befrei­ungs­theo­lo­gie schien mit dem Zusam­men­bruch des kom­mu­ni­sti­schen Ost­blocks 1989 end­gül­tig erle­digt zu sein. In Wirk­lich­keit ver­la­ger­te sie sich und tritt unter dem der­zei­tig regie­ren­den Papst wie­der ver­stärkt an die Öffentlichkeit.

Von der Befreiungstheologie zur Indio-Theologie

Das Schei­tern der Sowjet­uni­on mach­te eine Neu­ori­en­tie­rung not­wen­dig. Sie wur­de im Zuge der 500-Jahr­fei­ern der Ent­deckung Ame­ri­kas 1992 gefun­den und kon­sti­tu­ier­te sich als erkenn­ba­re Denk­rich­tung in der „Indio-Theo­lo­gie“. An die­ser Stel­le soll nur mehr indi­rekt dar­auf ein­ge­gan­gen wer­den, denn der Blick gilt dem Bis­tum San Cri­sto­bal de las Casas und der Ama­zo­nas­syn­ode. Der Brücken­schlag fin­det sich in der vor­syn­oda­len Beto­nung der indi­ge­nen Bevöl­ke­rung Ama­zo­ni­ens, womit die ver­streut leben­den Urein­woh­ner gemeint sind, die selbst nach opti­mi­sti­schen Schät­zun­gen nur 250.000–300.000 Per­so­nen umfassen.

Im Bis­tum San Cri­sto­bal de las Casas amtier­te ab 1959 Bischof Samu­el Ruiz Gar­cia. Er ver­such­te seit den 80er Jah­ren in sei­nem Bis­tum schlei­chend und unbe­ach­tet den Prie­ster­zö­li­bat abzu­schaf­fen. Statt zöli­ba­t­ä­rer Prie­ster weih­te er nur mehr ver­hei­ra­te­te Dia­ko­ne. Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil hat­te zwar nicht den prie­ster­li­chen Zöli­bat auf­ge­ho­ben, wie es eine bestimm­te Grup­pe anstreb­te, aber mit den soge­nann­ten „viri pro­ba­ti“ ver­hei­ra­te­te Dia­ko­ne zuge­las­sen. Ein „Kom­pro­miß“, mit dem die Zöli­bats­geg­ner zwar nicht ihr eigent­li­ches Ziel erreich­ten, aber den Fuß in der Tür hatten. 

Ruiz Gar­cia mit Guerillaführer

Am Ende der Amts­zeit von Ruiz Gar­cia war der Prie­ster­stand in sei­ner Diö­ze­se heil­los über­al­tert. Die Gewichts­ver­la­ge­rung war ein­deu­tig: Auf jeden Prie­ster kamen sechs ver­hei­ra­te­te Dia­ko­ne. Zieht man die Ordens­prie­ster ab, gab es im Jahr 2000 in dem süd­me­xi­ka­ni­schen Bis­tum nur mehr 24 Diö­ze­san­prie­ster, aber 336 ver­hei­ra­te­te Dia­ko­ne. Jedem der meist betag­ten Diö­ze­san­prie­ster stan­den 14 ver­hei­ra­te­te Dia­ko­ne gegen­über. Ruiz Gar­cia sprach von „indi­ge­nen Dia­ko­nen“ und begrün­de­te deren Ein­füh­rung mit beson­de­ren kul­tu­rel­len Not­wen­dig­kei­ten: Der indi­ge­nen Bevöl­ke­rung sei das zöli­ba­t­ä­re Prie­ster­tum näm­lich nicht zu ver­mit­teln. Gemeint war aber ein mar­xi­sti­scher Kul­tur­kampf: die För­de­rung des „Indi­ge­nis­mus“ gegen den „euro­päi­schen Kul­tur­im­pe­ria­lis­mus“. Die Aus­bil­dung die­ser stän­di­gen Dia­ko­ne erfolg­te über ein Schmal­spur­pro­gramm außer­halb der bestehen­den Bil­dungs­ein­rich­tun­gen. Zudem nahm Ruiz Gar­cia mit der Wei­he der ver­hei­ra­te­ten Män­ner auch eine Seg­nung ihrer Frau­en vor. Es blieb unklar, inwie­weit Ruiz Gar­cia eine Ein­bin­dung der Frau­en in das Wei­he­amt ver­such­te. Der Wei­he­akt ver­mit­tel­te jeden­falls einen sol­chen Eindruck.

Zugleich begann Bischof Ruiz Gar­cia eine anschwel­len­de Kla­ge über einen drücken­den Prie­ster­man­gel in sei­nem Bis­tum. Daß er ihn maß­geb­lich selbst ver­ur­sacht hat­te, sag­te er nicht. Par­al­lel begann er Vor­be­rei­tun­gen zu tref­fen, wegen des herr­schen­den „Not­stan­des“ ver­hei­ra­te­te Dia­ko­ne zu Prie­stern zu weihen. 

Roms Eingreifen

Dazu kam es nicht mehr, weil die Sache nicht unbe­ob­ach­tet blieb, und Rom spät aber doch ein­schritt. Nach­dem Ruiz Gar­cia ein Koad­ju­tor zur Sei­te gestellt wor­den war (der ein Kapi­tel für sich ist), wur­de 2000 mit Msgr. Feli­pe Ariz­men­di Esqui­vel, der aus einem ande­ren Bis­tum her­bei­ge­ru­fen wur­de, der Bischofs­stuhl neu besetzt und die Wei­he von stän­di­gen Dia­ko­nen untersagt. 

Bischof Ariz­men­di mit Papst Franziskus

Bischof Ariz­men­di begann wie­der mit der För­de­rung von Prie­ster­be­ru­fun­gen. Die Zahl der stän­di­gen Dia­ko­ne sank bis 2014 leicht auf 316, wäh­rend die Zahl der Prie­ster auf 108 ver­dop­pelt wer­den konn­te. Davon waren 67 Diö­ze­san­prie­ster. Anders als von sei­nem Vor­gän­ger Ruiz Gar­cia behaup­tet, war es durch­aus mög­lich, ein ein­hei­mi­sches, indi­ge­nes Prie­ster­tum auf­zu­bau­en. Und noch ein wich­ti­ger Punkt: Das Prie­ster­se­mi­nar des Bis­tums, das unter Ruiz Gar­cia leer stand, war nun wie­der gut belegt.

So wie 2000 ein Wen­de­jahr war, wur­de aber auch 2014 zu einem Wen­de­jahr. Nun setz­te Papst Fran­zis­kus Bischof Ariz­men­di einen Koad­ju­tor zur Sei­te und hob das Wei­he­ver­bot für ver­hei­ra­te­te Dia­ko­ne wie­der auf. Die Zahl der Diö­ze­san­prie­ster wuchs zwar wei­ter, weil Kan­di­da­ten geweiht wur­den, die bereits im Prie­ster­se­mi­nar stu­dier­ten, zugleich wur­de aber auch die Wei­he von stän­di­gen Dia­ko­nen wie­der­auf­ge­nom­men. 2017, als Fran­zis­kus Bischof Ariz­men­di eme­ri­tier­te, stan­den 125 Prie­ster (davon 78 Diö­ze­san­prie­ster) 450 stän­di­gen Dia­ko­nen gegenüber.

Nach­dem Papst Fran­zis­kus das Bis­tum San Cri­sto­bal de las Casas als Bezugs­punkt nann­te, war erwar­tet wor­den, daß sich Bischof Ariz­men­di zur Ama­zo­nas­syn­ode äußern und eine Stim­me gegen den Ver­such der Zöli­bats­auf­wei­chung erhe­ben wür­de (sie­he Die „Ama­zo­nas-Kir­che“ als Neu­auf­la­ge des geschei­ter­ten „Chia­pas-Expe­ri­men­tes“). Der Bischof, der am 1. Mai 79 wur­de, hielt sich aber trotz sei­ner Erfah­rung an einem Brenn­punkt bedeckt.

„Indio-Theologie auf dem Vormarsch“

Gestern mel­de­te er sich nun doch zu Wort, aller­dings auf eine ganz uner­war­te­te Wei­se, die auch sein bis­he­ri­ges Schwei­gen erklärt. Die mexi­ka­ni­sche Tages­zei­tung Dia­rio de Yuca­tan druck­te eine Kolum­ne von ihm mit der viel­sa­gen­den Überschrift:

„Die Indio-Theo­lo­gie auf dem Vormarsch“

Aus dem aus­führ­li­chen Text, den auch der spa­ni­sche Zenit-Dienst über­nahm, soll nur die aus­sa­ge­kräf­tig­ste Stel­le wie­der­ge­ge­ben werden:

„Jene, die die­se Theo­lo­gie nicht ken­nen und jene, die ihr miß­trau­en oder sie gering­schät­zen, ersu­chen wir um Offen­heit, um das geheim­nis­vol­le Wir­ken des Gei­stes in den ursprüng­li­chen Kul­tu­ren, wie auch in den aktu­el­le und den kom­men­den zu unterscheiden.“

Die Befrei­ungs­theo­lo­gie oder Indio-Theo­lo­gie, wie sie im Chia­pas und ande­ren Gegen­den seit den frü­hen 90er Jah­ren genannt wird, die Bischof Ariz­men­di nach lan­gem Schwei­gen nun ver­tei­digt und als geist­ge­wirkt dar­stellt, hat im Chia­pas noch ande­re, bis­her nicht erwähn­te Fol­gen pro­vo­ziert. Der Anteil der Katho­li­ken ist in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten mas­siv eingebrochen. 

Als Gar­cia Ruiz sein Bis­tum über­nahm, bekann­ten sich fast 98 Pro­zent der Bevöl­ke­rung zum katho­li­schen Glau­ben. Als er eme­ri­tiert wur­de, waren es nur mehr 65 Pro­zent. Die­se Ent­wick­lung ent­sprach kei­nes­wegs der gesamt­me­xi­ka­ni­schen Ent­wick­lung. Mexi­ko ist das ein­zi­ge Land Latein­ame­ri­kas, wo die katho­li­sche Kir­che dem Vor­drin­gen evan­ge­li­ka­ler Gemein­schaf­ten stand­hielt. Im Chia­pas ver­lief es anders. Dort wan­der­te ein Vier­tel, man­che Quel­len spre­chen sogar von bis zu 40 Pro­zent der Katho­li­ken zu pro­te­stan­ti­schen Frei­kir­chen ab, und das nicht, weil die Kir­che „zu rück­wärts­ge­wandt“ sei, son­dern weil sie zu mar­xi­stisch, zu „indi­ge­ni­stisch“ ist und zu wenig auf die reli­giö­sen Bedürf­nis­se der Men­schen eingeht.

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Wikicommons/​Rede Cristianas/Vatican.va (Screen­shots)

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