
(Rom) Die prophetische Enzyklika Humanae vitae, die von Papst Paul VI. im symbolträchtigen Jahr 1968 erlassen wurde, steht unter heftigem Beschuß. Was damals nicht gelang, soll offenbar heute nachgeholt werden. Ihre Neutralisierung. –
Das Schweigen von Papst Franziskus
Der erste Angriff kam von Kardinal Walter Kasper. Die Deutsche Bischofskonferenz ließ bereits 1968 Paul VI. im Regen stehen. Sie fiel dem Kirchenoberhaupt in den Rücken und distanzierte sich in offenem Ungehorsam von einer zentralen Aussage des Dokuments. Die Österreichische Bischofskonferenz und die Schweizer Bischofskonferenz folgten diesem bis dahin unfaßbaren Schritt. Beobachter sehen diesen Dolchstoß, der bis heute nicht korrigiert wurde, als Initialzündung für den rapiden Niedergang der Kirche im deutschen Sprachraum.
Der jetzige Vorstoß von Kardinal Kasper kam deshalb nicht unerwartet. In seinem neuen Buch über Amoris laetitia, das zeitgleich in deutscher und italienischer Ausgabe erschienen ist, lobt er den „Paradigmenwechsel“, den Papst Franziskus mit dem nachsynodalen Schreiben eingeleitet habe. Genau dasselbe Wort Paradigmenwechsel hatte kurz zuvor und im selben Kontext auch Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin gebraucht.
Der Paradigmenwechsel, so Kasper, beschränke sich nicht auf die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion, sondern beziehe sich auf die Moraltheologie insgesamt, weshalb er Auswirkungen auf viele ähnliche Situationen habe. Zu den Situationen, auf die es Auswirkungen gebe, gehören für Kasper auch die künstlichen Verhütungsmethoden zur Geburtenkontrolle.
„Kasper findet in Amoris laetitia nicht die Stelle, die ausdrücklich den Gebrauch von Verhütungsmitteln erlaubt – weil es sie nicht gibt“, so der Vatikanist Sandro Magister.
Ungerührt von diesem „Detail“ schreibt Kasper, daß Franziskus, wenn er die Enzyklika von Paul VI. zitiert, zwar die Fruchtbarkeitszyklen erwähne, aber nichts über „andere Methoden“ der Familienplanung sage und „jede kasuistische Definition vermeidet“. Daraus folgert Kasper, daß in Amoris laetitia auch das, was nicht im Dokument steht, „etwas sage“. Und Kasper weiß auch ganz genau, was das, das gar nicht dasteht, sagen will: grünes Licht für die künstlichen Verhütungsmittel. Die Entscheidung darüber komme einer „bewußten Gewissensentscheidung“ des einzelnen Individuums zu. Genau so hatten es die deutschen Bischöfe bereits 1968 in ihrer Königsteiner Erklärung formuliert.
Das „Schweigen“ von Paul VI.
Magister verweist auf einen zweiten Angriff gegen Humanae vitae dieser Tage. Der Avvenire, die Tageszeitung der Italienischen Bischofskonferenz, veröffentlichte am 4. März eine Besprechung des Buches von Pawel Stanislaw Galuszka: „Karol Wojtyla und ‚Humanae vitae‘. Der Beitrag des Erzbischofs von Krakau und der Gruppe polnischer Theologen zur Enzyklika von Paul VI.“[1]Orig. Titel „Karol Wojtyla e ‚Humanae vitae‘. Il contributo dell’Arcivescovo di Cracovia e del gruppo di teologi polacchi all’enciclica di Paolo VI“., (Verlag Cantagalli, Siena 2018). Das 550 Seiten starke Werk enthält zahlreiche, erstmals veröffentlichte Dokumente, die interessanten Einblick zur Entstehung von Humanae vitae und den Hintergründen bieten.

Rezensent des Buches ist der Chefredakteur der Monatszeitschrift Noi Famiglia & Vita der Tageszeitung Avvenire, Luciano Moia, höchstpersönlich. Er ist auch verantwortlich für die Avvenire-Beilage „Wir Familie Kinder“. Moia pickte sich ein Dokument heraus: einen Brief von Karol Wojtyla, damals Erzbischof von Krakau, an Paul VI. von 1969. Wojtyla war empört darüber, daß verschiedene Bischofskonferenzen, darunter die deutsche, österreichische und schweizerische, mit Ablehnung auf Humanae vitae reagiert hatten. Er forderte Paul VI. auf, dringend eine Instruktion gegen die „schädlichen Meinungen“ zu veröffentlichen, um damit den Inhalt der Enzyklika zu bekräftigen.
Paul VI. befolgte den Ratschlag des Erzbischofs von Krakau nicht. Das genügt Moia, um gegensätzliche Positionen zu behaupten. Der „Strenge“ Wojtylas stellt Moia das „Schweigen“ Pauls VI. als „Öffnung“ gegenüber. Anders gesagt: Da Paul VI. nicht der Aufforderung Wojtylas folgte, habe er „geschwiegen“, und dieses „Schweigen“ sei eine „Öffnung“ gegenüber den Bischofskonferenzen gewesen, die Vorbehalte zu Humanae vitae geltend machten. Die Haltung des Papstes diesen Bischofskonferenzen gegenüber sei „von Respekt, Annahme und Verständnis geprägt“ gewesen, so Moia.
Was der Chefredakteur der „Zeitung der Bischöfe“ damit bezweckt, hat weniger mit dem zu tun, was 1968/1969 wirklich geschehen ist, sondern damit, was heute geschehen soll: die Neutralisierung von Humanae vitae durch Umdeutung, ohne das Dokument selbst zu ändern, ja vielmehr, indem man es feiert.
Das wertvolle Buch von Galuszka zeigt den wichtigen Beitrag Wojtylas am Entstehen von Humanae vitae und auch an der Formulierung. Als Papst sollte er zwischen 1979 und 1984 mit einer Reihe von Katechesen eine entscheidende, inhaltliche Vertiefung vornehmen, die ihren besonderen Ausdruck in der Enzyklika Veritatis splendor von 1993 fand. Diese Vertiefung wurde von seinem Nachfolger Benedikt XVI. bekräftigt, auch noch nach seinem unerwarteten Amtsverzicht, etwa im Gesprächsbuch mit Peter Seewald.

Das sind alles Etappen, die anderen Teilen der Kirche nicht bequemten. Dabei kann nicht übersehen werden, daß die Angriffe gegen Humanae vitae aus dem direkten Umfeld von Papst Franziskus kommen. Zu diesem gehört Kardinal Kasper, und zu diesem gehört auch Luciano Moia, dessen Stellung als Journalist des Avvenire und Chefredakteur einer mit dem Avvenire ausgelieferten Monatszeitschrift vom Wohlwollen der direkten Vertrauten von Franziskus an der Spitze der Bischofskonferenz abhängen. Für die Medien der Bischöfe ist Bischof Nunzio Galantino zuständig, der vom Papst persönlich ernannte Generalsekretär der Bischofskonferenz.
Papst Franziskus lobte Humanae vitae mehrfach und erstaunlich deutlich. Allerdings blieb er dabei vage. Die entscheidenden Inhalte der Enzyklika erwähnte er im Zusammenhang mit seinem Lob bisher nicht. Überhaupt blieben künstliche Verhütungsmethoden bisher ein von ihm nicht angerührtes Thema.
Zugleich baute er seit dem 15. August 2016 konsequent jene beiden Institutionen im Vatikan ab, die Johannes Paul II. zum Schutz von Ehe, Familie und Lebensrecht errichtet hatte.
Nimmt man diese Elemente zusammen, erhält die Hypothese Plausibilität, daß Franziskus durch sein ungewöhnliches Lob für Humanae vitae die eigentliche Absicht zudecken will, daß dieser Enzyklika der Zahn gezogen werden soll, ohne direkt Hand an sie zu legen. Die Taktik ist seit Amoris laetitia bekannt, indem das, was wirklich beabsichtigt ist, verschwiegen oder nur verborgen und indirekt gesagt wird.
Moia versucht in seiner Buchbesprechung posthum diese Methode sogar Paul VI. unterzuschieben.
Gift des Neo-Gnostizismus
Humanae vitae erfuhr in den vergangenen Tagen aber auch eine kraftvolle Verteidigung. Am 7. März fand an der Päpstlichen Lateranuniversität die Vorstellung von Galuszkas Buch durch Kardinal Gerhard Müller statt. Neben dem Autor sprachen auch der polnische Philosoph Stanislaw Grygiel und der italienische Theologe Livio Melina.

Mit Melina schließt sich gewissermaßen der Kreis. Der namhafte Moraltheologe und Bioethiker war zehn Jahre Direktor des Päpstlichen Instituts Johannes Paul II. für Studien zu Ehe und Familie. Papst Benedikt XVI. hatte ihn berufen, der ihn bereits als Mitarbeiter an der Glaubenskongregation kannte. Von Papst Franziskus wurde er im Sommer 2016 entlassen, als dieser mit dem Umbau dieses Instituts und der Päpstlichen Akademie für das Leben begann. Kein Zufall, sagen Vatikanisten, darunter Sandro Magister, sondern Signale einer Kursänderung, die Papst Franziskus in Sache Moraltheologie und Bioethik seit Beginn seines Pontifikats betreibe
Magister veröffentlichte die vollständige Rede, die Melina am Mittwoch an der Lateranuniversität hielt. Den Schlußteil veröffentlichte er wegen seiner Bedeutung heute ein zweites Mal. Melina ist nicht irgendwer, sondern gilt als einer der international bedeutendsten Moraltheologen und Bioethiker der katholischen Kirche. Am Ende seiner Rede reagierte Melina auch auf die Angriffe gegen Humanae vitae durch Kardinal Kasper und den Avvenire-Journalisten Moia und auf das Schreiben Placuit Deo, das vor wenigen Tagen mit Zustimmung von Papst Franziskus von der Glaubenskongregation veröffentlicht wurde.
Wer Paul VI. manipuliert
von Livio Melina
Heute hört man mißverständlich von einem epochalen „Paradigmenwechsel“ sprechen, der notwendigerweise auf die katholische Sexualmoral anzuwenden sei. Um ihn durchzusetzen, ist auch ein zweifelhafter Versuch einer historischen Neubewertung im Gange, die Paul VI. Johannes Paul II. entgegensetzt und in letzterem einen unnachgiebigen und strengen Traditionalisten sieht, der die offene und flexible Haltung des ersteren kompromittiert habe.
In Wirklichkeit zielt diese plumpe und willkürliche Fälschung auf eine ideologische Manipulation des Lehramtes von Papst Paul VI. ab. Indem die Lehre des heiligen Johannes Paul II. über die Theologie des Leibes und die Fundamente der Moral, in seinen Katechesen und Veritatis splendor, im Namen des neuen pastoralen Paradigmas der „Von Fall-zu-Fall“-Unterscheidung in Klammern gesetzt wird, machen wir keinen Schritt vorwärts, sondern vielmehr einen Schritt rückwärts Richtung Kasuistik, und das mit dem Nachteil, daß diese zumindest von einem soliden kirchlichen und kulturellen Kontext des christlichen Lebens getragen war, während sie sich heute nur in einer totalen Subjektivierung der Moral auflösen könnte.
Papst Franziskus hat jüngst die Veröffentlichung des Schreibens Placuit Deo durch die Glaubenskongregation gebilligt, die unter anderem vor einem Wiederaufleben des Neo-Gnostizismus warnt. Steckt nicht vielleicht dieses verborgene Gift hinter diesen angeblichen Neubewertungen und Aktualisierungen von Humanae vitae, die hinter dem überwundenen Buchstaben den Geist erfassen wollen, oder durch die vermessene Leugnung der normativen Zuständigkeit („Das Problem von Humanae vitae ist nicht Pille ja oder Pille nein“) ihr ein vages und leeres anthropologisches Prophetentum zuschreiben und verherrlichen, eine Bekräftigung der Werte, die aber einer subjektiven Interpretation je nach Umständen überlassen wird?
Gegen diese Tendenzen stellt das Buch von Pawel Galuszka ein starkes Medikament dar, das es uns erlaubt, die gute Moraltheologie von Karol Wojtyla zu atmen zuerst als frommer und treuer Sohn von Papst Paul VI. und dann als sein großer Nachfolger auf dem Stuhl des Petrus.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Avvenire/istututogp2 (Screenshots)
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↑1 | Orig. Titel „Karol Wojtyla e ‚Humanae vitae‘. Il contributo dell’Arcivescovo di Cracovia e del gruppo di teologi polacchi all’enciclica di Paolo VI“. |
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G. Nardis Beitrag zeigt die ganze Verlogenheit des gegenwärtigen Pontifikats auf: die Verlogenheit einiger maßgeblicher Herren an der hierarchischen Spitze, die Verlogenheit listiger Einflüsterer, die Verlogenheit bereitwilliger Adepten. – „Allein den Betern kann es noch gelingen / Das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten …“ (Reinhold Schneider)