Vom naturrechtlichen Gemeinwesen zum demokratischen Rechtsstaat (1613)

Neuzeitliche Kontroversen zu Politik und Kirche (3)


Durch Martin Luther wurde im Protestantismus eine Überhöhung der Staatsmacht angestoßen – mit schwerwiegenden Folgen. Die katholische Seite, wie Kardinal Robert Bellarmin, stellte sich entgegen.
Durch Martin Luther wurde im Protestantismus eine Überhöhung der Staatsmacht angestoßen – mit schwerwiegenden Folgen. Die katholische Seite, wie Kardinal Robert Bellarmin, stellte sich entgegen.

Ein Gast­bei­trag von Hubert Hecker

I. Martin Luther entwickelte aus seinen theologischen Grundsätzen eine theokratische Staatskonzeption.

Anzei­ge

Pro­te­stan­ti­sche Argu­men­te für abso­lu­ti­sti­sche Herrscher

Der Refor­ma­tor lehn­te eine Welt­be­schrei­bung mit säku­la­ren Kate­go­rien von Phi­lo­so­phie und Staats­recht ab. Poli­tik und Staat soll­ten allein aus der Bibel erklärt wer­den (sola scrip­tu­ra). Bei die­sem Ansatz war der Aus­gangs­punkt für Luthers theo­kra­ti­sche Staats­leh­re die Stel­le im Römer­brief 13,1: „Alle (poli­ti­sche) Gewalt geht von Gott aus“. Die Luthe­ra­ner inter­pre­tier­ten die­sen Satz als unmit­tel­ba­re Herr­schafts­über­ga­be. Danach übt jeder Herr­scher von „Got­tes Gna­den“ sei­ne Gewalt als Beauf­trag­ter Got­tes aus. Sie soll­ten die nach dem Sün­der­fall völ­lig ver­derb­te Mensch­heit – natu­ra cor­rupta als anthro­po­lo­gi­sche Grund­an­nah­me Luthers – in Zucht neh­men. Zur Erfül­lung die­ser Auf­ga­be soll­ten die poli­ti­schen Macht­ha­ber sowohl die Straf­ge­walt über die welt­li­chen Hand­lun­gen ihrer bedin­gungs­los abhän­gi­gen Unter­ta­nen haben als auch über deren Gewis­sen und Reli­gi­on bestim­men können.

1598 schrieb der damals noch schot­ti­sche König Jakob IV. (ab 1603 auch eng­li­scher König als James I.) im Sin­ne der luthe­ri­schen Welt­sicht ein staats­recht­lich-theo­lo­gi­sches Werk zum gött­li­chen Recht der Köni­ge.1 Dabei bezog sich der roya­le Autor sowohl auf den soge­nann­ten Unmün­dig­keits­sta­tus des Vol­kes sowie auf die Kör­per­ana­lo­gie von Gemein­we­sen und König als Haupt. Bei­de Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en ver­wen­de­te er, um damit sei­ne vom Volk los­ge­lö­ste Königs­herr­schaft zu bewei­sen: „Die Köni­ge haben ihre abso­lu­te Ver­fü­gungs­ge­walt über das Volk, da die­ses nur einen Kör­per ohne Haupt dar­stellt, der sich nicht selbst regie­ren kann.“2 Wegen des nicht zum Han­deln fähi­gen Volks­kör­pers kön­ne es auch kei­nen Ver­trag des Vol­kes mit dem Haupt und Herr­scher geben. Die Macht des Königs kön­ne daher nicht aus dem Volk kom­men und erst recht nicht vom Volk über­tra­gen wer­den, son­dern sie sei ihm direkt von Gott gege­ben. Dar­aus fol­ge, dass der Herr­scher als Statt­hal­ter Got­tes nur dem Schöp­fer, nicht dem Vol­ke rechen­schafts­pflich­tig sei. Selbst ein dege­ne­rier­ter König, also ein Tyrann, müs­se für das Volk unan­tast­bar blei­ben. Er wür­de sei­ne Stra­fe durch Gott sel­ber erhal­ten. Für die­se Aus­le­gung berief sich James auf den Römer­brief des Pau­lus. Dabei erin­ner­te er dar­an, dass Pau­lus den Gemein­de­brief unter Neros Tyran­nei geschrie­ben habe und damit auch Gehor­sam gegen­über dem Tyran­nen gefor­dert hät­te. Da die Für­sten für die welt­li­chen und geist­lich-mora­li­schen Belan­ge der Unter­ta­nen ein­ge­setzt sei­en, wären sie folg­lich auch Ober­haupt der jewei­li­gen Landeskirchen.Von sei­nen eng­li­schen Unter­ta­nen ver­lang­te König James I. 1604 einen Eid, der sie sowohl in ihren welt­li­chen Belan­gen als auch in ihren Gewis­sens­fra­gen an den König bin­den soll­te.3

(Die abso­lu­ti­sti­sche Staats­leh­re des eng­li­schen Stuart-Königs ent­wickel­te 50 Jah­re spä­ter Tho­mas Hob­bes nach den eng­li­schen Bür­ger­krie­gen wei­ter. Mit sei­ner The­se, dass in natur­wüch­si­gen Gesell­schaf­ten „der Mensch dem Men­schen ein Wolf“ sei, knüpf­te er zwar an die pes­si­mi­sti­sche Anthro­po­lo­gie Luthers an, begrün­de­te sol­ches mensch­li­che Ver­hal­ten aber aus den unsi­che­ren Rechts­ver­hält­nis­sen. Eben des­halb müss­ten die Men­schen durch einen abso­lu­ti­stisch herr­schen­den Mon­ar­chen regiert wer­den, der inner­ge­sell­schaft­li­che Sicher­heit und Frie­den gewähr­lei­ste, auch indem er als geist­li­ches Ober­haupt sei­ner Lan­des­kir­che ein­ge­setzt sei. Neu war Hob­bes‘ Argu­men­ta­ti­on, dass die Men­schen aus Ver­nunft­grün­den in einem Gesell­schafts­ver­trag alle ihre indi­vi­du­el­len und kol­lek­ti­ven Selbst­ver­wal­tungs­rech­te bedin­gungs­los auf den Herr­scher über­tra­gen und damit den abso­lu­ti­sti­schen Herr­scher legi­ti­mie­ren wür­den. Aller­dings bleibt er die Fra­ge schul­dig, wie mit dem Macht­miss­brauch eines „wöl­fi­schen“ Herr­schers als Tyran­nen umzu­ge­hen wäre, da Hob­bes ein Wider­stands­recht der Unter­ta­nen kate­go­risch aus­schließt. Die­ses staats­recht­lich-poli­ti­sche Pro­blem ist erst 40 Jah­re spä­ter von John Locke gelöst wor­den mit sei­ner Leh­re, dass die Men­schen im Gesell­schafts­ver­trag nur die Gewalt­aus­übungs- und Ver­wal­tungs­rech­te an den Herr­scher bzw. Staat abge­ben, aber ihre indi­vi­du­el­len Men­schen­rech­te behal­ten – und somit auch ein Wider­stands­recht gegen tyran­ni­sche Herrscher.)

II. Gegen die theokratische Anmaßung des protestantischen Staatskirchentums …

Der gelehr­te Kar­di­nal Robert Bell­ar­min (+1621) schrieb meh­re­re kon­tro­vers­theo­lo­gi­sche Abhand­lun­gen gegen das pro­te­stan­ti­sche Got­tes­gna­den­tum der Für­sten. Die poli­ti­schen Ver­hält­nis­se stell­te er unter dem Kapi­tel De lai­cis – über die Lai­en – dar und ver­wies damit den Staat in den welt­lich-säku­la­ren Bereich. Bei sei­nen Aus­füh­run­gen stütz­te er sich weit­ge­hend auf die natur­recht­li­che Staats­leh­re des spa­ni­schen Scho­la­sti­kers Fran­cis­co de Vito­ri­as (+1546), um die theo­lo­gi­sche Über­hö­hung der Staats­macht durch die Pro­te­stan­ten zurück­zu­wei­sen: Das Zusam­men­wach­sen der mensch­li­chen Gemein­schaf­ten betrach­te­te er als einen natur­not­wen­di­gen Pro­zess eben­so wie den Macht­trans­fer des Selbst­ver­wal­tungs­rechts auf eine oder meh­re­re Per­so­nen. Gegen den eng­li­schen König und die pro­te­stan­ti­sche Leh­re vom könig­li­chen Got­tes­gna­den­tum stell­te Bell­ar­min fest, dass die Macht des Herr­schers nicht unmit­tel­bar von Gott stam­me, son­dern nur indi­rekt durch das von Gott gege­be­ne Natur­recht und nur in die­sem Sin­ne Röm 13 zu ver­ste­hen sei. Bei der Herr­schafts­be­schrän­kung auf den welt­li­chen Bereich habe der König kein Man­dat über das Gewis­sen und die Reli­gi­on der Men­schen. Die kirch­li­che Macht des Pap­stes als Stell­ver­tre­ter Chri­sti dage­gen stam­me direkt von Gott.

aber für das mon­ar­chi­sche Staatsprinzip

Der Jesu­it Bell­ar­min bestä­tig­te und ver­schärf­te die The­se des Domi­ni­ka­ners de Vito­ria, dass die natur­wüch­si­gen Gemein­schaf­ten unfä­hig sei­en zur Selbst­ver­wal­tung, u. a. durch die Kör­per­ana­lo­gie. Bei sei­ner wei­te­ren Aus­füh­rung zur Macht­über­tra­gung begrün­det er die Mon­ar­chie als die beste Regie­rungs­form. Sie kön­ne den Über­gang einer anar­chi­schen, kon­flikt­rei­chen Men­ge (mul­ti­tu­do) in eine geord­ne­te, struk­tu­rier­te socie­tas am besten gewähr­lei­sten, indem nach dem hier­ar­chi­schen Prin­zip die Gesell­schaft von oben nach unten durch­ge­ord­net wer­de. Jeden­falls wäre die Demo­kra­tie wegen der Unmün­dig­keit der Volks­men­ge nicht nur uner­wünscht, son­dern weder effek­tiv durch­führ­bar noch ziel­füh­rend im Sin­ne des Gemeinwohls.

Die Staats- und Kir­chen­leh­re des ange­se­he­nen Kar­di­nals und spä­ter zum Kir­chen­leh­rer erho­be­nen Theo­lo­gen blieb über drei Jahr­hun­der­te bestim­mend für die Kir­che. Erst Papst Leo XIII. führ­te mit sei­ner Enzy­kli­ka ‚Immor­ta­le Dei‘ die soge­nann­te Indif­fe­renz­leh­re ein, nach der die Kir­che kei­ne Staats­form bevor­zugt oder tadelt, sofern sie „das gemein­sa­me Wohl und Gedei­hen wirk­sam för­dert“. Ange­sichts der Tota­li­ta­ris­men des 20. Jahr­hun­derts hob Papst Pius XII. 1944 den posi­ti­ven Wert der Demo­kra­tie als Grund­la­ge für die Nach­kriegs­ord­nung hervor.

III. Muss­te die kirch­li­che Lehr­ge­schich­te in die­sen Bah­nen ver­lau­fen? Ideen­ge­schicht­lich hät­te man sich die drei­ein­halb Jahr­hun­der­te wäh­ren­de Fixie­rung auf die mon­ar­chi­sche Staats­form als Umweg erspa­ren kön­nen, wenn man in der Kir­che die Staats­leh­re eines gro­ßen Gelehr­ten der euro­päi­schen Früh­auf­klä­rung zu Anfang des 17. Jahr­hun­derts beher­zigt hät­te: Der Jesu­it Fran­cis­co Suá­rez ent­wickel­te in sei­ner Schrift von 1613 als logi­sche Fol­ge der Natur­rechts­leh­re die The­se von der

Demo­kra­tie als ver­nünf­ti­ge und natur­ge­mä­ße Form des Staates.

Die argu­men­ta­ti­ve Kri­tik des römisch-katho­li­schen Kar­di­nals Bell­ar­min an der theo­kra­ti­schen Staats­leh­re des eng­lisch-angli­ka­ni­schen König Jakob hat­ten den spa­ni­schen Gelehr­ten her­aus­ge­for­dert, die offen­sicht­li­chen Unge­reimt­hei­ten der neu­scho­la­sti­schen Staats­leh­re auszuräumen.

Wie de Vito­ria und Bell­ar­min ging auch Suá­rez aber von der natur­recht­li­chen Grund­the­se aus, dass die Men­schen in einem natür­li­chen Pro­zess zu gro­ßen Gemein­schaf­ten zusam­men­wach­sen. Die hät­ten in ihrer Gesamt­heit das Recht zur Selbst­re­gie­rung inne. Denn weder die Bibel noch die Ver­nunft lehr­te, dass ein Ein­zel­ner zur Herr­schaft über die Men­schen bestimmt wäre. Als Begrün­dung führt er aus: „Es liegt in der Natur der Sache, dass alle Men­schen frei gebo­ren sind und des­we­gen kei­ner weder die Juris­dik­ti­on noch die Herr­schaft über den ande­ren hat und es kei­nen natür­li­chen Grund gibt, war­um den einen eher als den ande­ren dies zuge­teilt sein soll­te.“4

Die­ser 1613 von dem Jesui­ten nie­der­ge­schrie­be­ne Satz stand in der Tra­di­ti­on des spa­ni­schen Scho­la­sti­kers de Vito­ria von 1528 und war von Papst Paul III. 1637 in sei­ner Enzy­kli­ka ‚Sub­li­mis Deus‘ bestä­tigt wor­den. Das Theo­rem der von Natur aus frei gebo­re­nen Men­schen bil­de­te zugleich den Aus­gangs­punkt für alle wei­te­ren bür­ger­li­chen Staats­theo­rien, etwa die von Tho­mas Hob­bes (1651) und John Locke (1687) sowie die Prä­am­bel der ame­ri­ka­ni­schen Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung von 1776 und die Men­schen­rechts­er­klä­rung der fran­zö­si­schen Kon­sti­tu­ti­on von 1791, in der es im Arti­kel 1 heißt: „Die Men­schen sind und blei­ben von Geburt an frei und gleich an Rechten.“

Suá­rez macht sich selbst den Ein­wand, ob sei­ne Beweis­füh­rung nicht direkt zur Staats­form der Demo­kra­tie füh­re, also das Volk sich als Selbst­re­gent kon­sti­tu­ie­ren könn­te, was bis dato als die unmög­li­che bzw. schlech­te­ste Regie­rungs­form ange­se­hen wurde.

Ent­ge­gen den Vor­gän­ger­theo­rien, in denen die Herr­schafts­über­ga­be an einen Mon­ar­chen oder meh­re­re Ari­sto­kra­ten als ein qua­si natur­not­wen­di­ger Pro­zess dar­ge­stellt wur­de, beton­te Suá­rez die freie Ent­schei­dung der Men­schen für die­se oder jene Staats­form, „da nichts in der natür­li­chen Ver­nunft deren Not­wen­dig­keit auf­zeigt“ – ein argu­men­ta­ti­ver Affront gegen Bell­ar­min. Eine demo­cra­tia kön­ne sogar ohne eine aus­drück­li­che „posi­ti­ve Ein­rich­tung“ exi­stie­ren, näm­lich als Aus­fluss der ursprüng­li­chen Gemein­schaf­ten. Denn die natür­li­che Ver­nunft lege uns die Annah­me auf, dass die poli­ti­sche Regie­rungs­ge­walt eine natür­li­che Fol­ge der struk­tu­rier­ten mensch­li­chen Gemein­schaf­ten sei.

Bemer­kens­wert ist hier, dass Suá­rez als Früh­auf­klä­rer mit der natür­li­chen Ver­nunft argu­men­tiert und bibli­sche Hin­wei­se nur als Zusatz­be­wei­se her­an­zieht. Die ‚demo­kra­ti­sche Fol­ge­rung‘ war zwar logisch in dem natur­recht­li­chen Ansatz ent­hal­ten, nach dem die aut­ar­ke Gemein­schaft die Macht zur Selbst­re­gie­rung ent­hält, aber die tra­di­tio­nel­le Staats­leh­re hat­te eini­ge Hür­den gegen die demo­kra­ti­sche Kon­se­quenz aufgebaut.

So waren die katho­li­schen Vor­gän­ger Suá­rez‘ zu dem glei­chen Ergeb­nis der Inthro­ni­sie­rung eines Mon­ar­chen gekom­men wie die Pro­te­stan­ten, nur eben von Sei­ten des Vol­kes ein­ge­setzt. Eben­falls waren die Grün­de für den Vor­rang des mon­ar­chi­schen Prin­zips ähn­lich: Der pro­te­stan­ti­schen Ein­schät­zung von dem ver­derb­ten oder wöl­fi­schen Cha­rak­ter der Men­schen ent­sprach auf katho­li­scher Sei­te die vor­herr­schen­de Mei­nung über die Unmün­dig­keit und Unfä­hig­keit zu gemein­schaft­li­chem Aus­tausch, Wil­lens­bil­dung und Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der Men­schen in der ursprüng­li­chen Ansamm­lung (latei­nisch: multitudo).

Der jesui­ti­sche Gelehr­te ent­wickelt dage­gen eine neue Argu­men­ta­ti­ons­li­nie, nach der das Volk nicht nur die Macht, son­dern auch die Fähig­keit zur Selbst­re­gie­rung habe. Nach sei­nem Trak­tat De legi­bus, einem Kom­men­tar zum gleich­na­mi­gen Kapi­tel aus Tho­mas von Aquins Sum­ma theo­lo­gi­ca, ent­lässt Gott den Men­schen in die Frei­heit, das heißt in letz­ter Kon­se­quenz auch in die selbst­be­stimm­te Regie­rung durch mensch­li­che Geset­ze. Doch die­se müss­ten den Regeln der natur­recht­li­chen Grund­ge­set­ze fol­gen. Die sind dem Men­schen „ein­ge­schrie­ben ins Herz“ (lex natu­ra­lis, vgl. Röm 2,15), anders gesagt soll­ten sich die mensch­li­chen Geset­ze nach den Prin­zi­pi­en der prak­ti­schen Ver­nunft (ratio natu­ra­lis) rich­ten. Für die ursprüng­li­che Gemein­schafts­bil­dung der Men­schen heißt das: „Die natür­li­che Ver­nunft lei­tet die Indi­vi­du­en an, sich zu einer com­mu­ni­tas zu ver­bin­den; die Ver­nunft ist nach katho­li­scher Leh­re durch den Sün­den­fall zwar geschwächt, jedoch nicht ver­lo­ren. Der Mensch bleibt auch nach dem Sün­den­fall ein ver­nünf­ti­ges und damit zur Selbst­be­stim­mung fähi­ges Wesen.“5

Suá­rez erläu­tert das Ent­ste­hen der geord­ne­ten com­mu­ni­tas als Pro­zess in zwei Stu­fen: Er geht mit dem Aus­druck mul­ti­tu­do (Men­schen­men­ge) der tra­di­tio­nel­len Leh­re davon aus, dass die Men­schen­ge­sell­schaft in ihren aller­er­sten Anfän­gen eine unstruk­tu­rier­te Ansamm­lung war, ein „Aggre­gat ohne jeg­li­che Ord­nung“. Die Mit­glie­der bräch­ten weder eine phy­si­sche noch mora­li­sche Ein­heit zustan­de und hät­ten des­halb auch kei­nen Bedarf an einer Füh­rung. Gelei­tet von der Ver­nunft­na­tur der Ein­zel­nen, tre­ten die Men­schen dann in einen Wil­lens­bil­dungs­pro­zess ein, der schließ­lich in einem Kon­sens kon­ver­giert. Dadurch kon­sti­tu­iert sich die com­mu­ni­tas zu einer Kör­per­schaft (per­so­na fic­ta oder mysti­ca). Die­se poli­ti­sche Ein­heit ist hin­ge­ord­net auf den Zweck der gegen­sei­ti­gen Hil­fe­lei­stung und des Gemein­wohls. Erst in die­sem Sta­di­um des Ver­ge­sell­schaf­tungs­pro­zes­ses ent­steht das Bedürf­nis nach einer Füh­rung des Gemein­we­sens: Die poli­ti­sche Kör­per­schaft gibt sich eine Regierung.

Was die spä­te­ren Staats­theo­re­ti­ker wie Hob­bes, Locke und Rous­se­au als punk­tu­el­len Gesell­schafts- oder Herr­schafts­ver­trag (foedus societa­tis) dar­le­gen, hat der jesui­ti­sche Früh­auf­klä­rer viel rea­li­sti­scher und logi­scher als ver­nunft­ge­lei­te­ten Pro­zess der Ver­ge­sell­schaf­tung beschrie­ben, an deren Abschluss dann ein Herr­schafts­ver­trag steht.

Anti­ke Paten für den neu­zeit­li­chen Staat von Recht und Gerechtigkeit

Als Bedin­gung des Gesell­schafts- und Staats­wer­dungs­pro­zes­ses setzt Suá­rez vor­aus, dass der Mensch ein ver­nunft­be­gab­tes Wesen ist. Eine ver­nünf­ti­ge Kon­sens­bil­dung ist aber nur mög­lich, weil die Men­schen über die Ein­sicht in das lex natu­ra­lis oder ihre Teil­ha­be an der natür­li­chen Ver­nunft eine gemein­sa­me höch­ste Norm aner­ken­nen. Die besteht nach Suá­rez in Recht und Gerech­tig­keit. Die­se Grund­ge­dan­ken knüp­fen an die römi­sche Staats­de­fi­ni­ti­on von Cice­ro an, der in sei­nem Werk De re publi­ca schreibt: „Das Gemein­we­sen ist Sache des Vol­kes. Aber das (Staats-) Volk ist nicht jede irgend­wie zusam­men­ge­schar­te Ansamm­lung von Men­schen, son­dern eine (struk­tu­rier­te) Men­ge, die in der Aner­ken­nung des Rechts und der Gemein­sam­keit des Nut­zens (Gemein­wohl) ver­ei­nigt ist.“

In Cice­ros Schrif­ten kul­mi­nie­ren die poli­ti­schen Wer­ke Pla­tons, auf die sich Suá­rez erneut und expli­zit bezieht.6 Seit der ita­lie­ni­sche Huma­nist Ficin alle Schrif­ten Pla­tons ins Latei­ni­sche über­setzt hat­te, war des­sen wach­sen­der Ein­fluss auf die klas­si­schen poli­ti­schen Defi­ni­tio­nen der Neu­scho­la­stik nachweisbar.

In der Scho­la­stik war zwar die Unter­schei­dung von geist­lich und welt­lich ange­legt, aber erst bei Suá­rez wird unter dem Ein­fluss Pla­tons und Cice­ros die Tren­nung der bei­den Berei­che Schöp­fung und Offen­ba­rung strikt durch­ge­führt. Das bedeu­tet für ihn: Gott hat sei­ner Schöp­fung, also der Welt und Natur, bestimm­te (ratio­na­le) Geset­ze mit­ge­ge­ben. Inso­fern ist der welt­li­che Bereich der ratio des Men­schen auf­ge­ge­ben, die gesell­schaft­lich-poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen sind auf die natür­li­che Ver­nunft gestützt zu beschreiben.

Bei Pla­ton und Cice­ro fin­det Suá­rez das Modell einer Gesell­schaft, die sich im Rah­men der ver­nunft­ge­lei­te­ten Ein­zel­nen ent­wickelt. Die Gemein­schaft kommt zu einem Kon­sens über ein gemein­sa­mes Gutes, bei Pla­ton die natür­li­che Gerech­tig­keit. Sie kon­sti­tu­iert sich damit als Rechts­ge­mein­schaft und kann so eine mora­lisch-poli­ti­sche Kör­per­schaft (per­so­na fic­ta) werden.

Das aber ist die Vor­aus­set­zung für die logi­sche Ablei­tung des fol­gen­den Herr­schafts­ver­tra­ges mit einer Regie­rung. Der Volks­kör­per unter­wirft sich dabei dem Herr­scher unter der Bedin­gung der von bei­den zu beach­ten­den gemein­sa­men Gerech­tig­keits­norm. Das Volk behält somit das Recht, die Ein­hal­tung der Grund­nor­men zu über­wa­chen und bei schwer­wie­gen­der und dau­ern­der Ver­let­zung Wider­stand zu erheben.

Pla­tons brei­tet in sei­nem Werk ‚Nomoi‘ den Gedan­ken der Volks­sou­ve­rä­ni­tät aus. Dort konn­te Suá­rez das Funk­tio­nie­ren einer „natür­li­chen“ Demo­kra­tie stu­die­ren. Bei dem grie­chi­schen Phi­lo­so­phen fin­det er die Aus­sa­ge, dass das Gesetz als „Beschluss des Vol­kes“ zu gel­ten habe.

Unter dem Ein­fluss Pla­tons ver­än­dern die Staats­theo­re­ti­ker in der zwei­ten Hälf­te des 16. Jahr­hun­derts die Haupt­cha­rak­te­ri­stik des Staa­tes von dem jus gla­dii, dem Schwert­recht nach innen und außen (wie noch bei de Vito­ria vor­herr­schend), zu der pote­stas legis feren­dae, dem Gesetz­ge­bungs­recht: Das Gesetz bestimmt, wer das Schwert tra­gen darf, erklär­te der fran­zö­si­sche Staats­recht­ler Bodin. Auch die­ses für die wei­te­re euro­päi­sche Staats­leh­re wich­ti­ge Theo­rem (vgl. Lockes rule of law) bau­te der gelehr­te Jesu­it in sei­ne Poli­tik-Trak­ta­te ein.

Es ist das Ver­dienst von Fran­cis­co Suá­rez, die natur­recht­li­che scho­la­sti­sche Staats­leh­re mit der Ein­ar­bei­tung von Cice­ros Schrif­ten zu Repu­blik und Geset­zen, aber vor allem mit Pla­tons Wer­ken zum Ver­nunft- und Rechts­ge­mein­schafts­staat zu einer Grund­la­gen­theo­rie für die moder­nen euro­päi­schen Staats­theo­rien gemacht zu haben (sie­he oben).

Der Rück­griff auf die anti­ken Autoren war ein Akt der ‚guten‘ Renais­sance als Rück­griff auf das anti­ke Erbe – im Gegen­satz etwa zu der staats­po­li­ti­schen Schrift Il prin­ci­pe von Nico­lo Machia­vel­li. Der Flo­ren­ti­ner Autor lehn­te in sei­nem Werk eine recht­lich-ethi­sche Herr­schafts­füh­rung zugun­sten einer bedin­gungs­lo­sen Macht­er­obe­rung und ‑siche­rung ab. Dabei stütz­te er sich haupt­säch­lich auf alt­rö­mi­sche Macht­spie­le, Krie­ge und tak­ti­sche Prak­ti­ken. Suá­rez dage­gen steht für den Ansatz, bei der Sich­tung vor­her­ge­hen­der Epo­chen nur das Gute zu über­neh­men (vgl. 1 Thess 5,21). Dadurch ist Euro­pa groß gewor­den, dass es das Beste von grie­chi­scher Phi­lo­so­phie und Poli­tik sowie von Recht und Ver­wal­tung der Römer über­nom­men und mit dem Geist der christ­li­chen Näch­sten­lie­be über­formt hat.

Im Gegen­satz zu sei­ner Wir­kung auf die säku­la­ren euro­päi­schen Staats­theo­rien blie­ben dem gro­ßen spa­ni­schen Gelehr­ten Suá­rez in der Kir­che eine ent­spre­chen­de Wür­di­gung und Auf­nah­me sei­ner Leh­re ver­sagt. In den kirch­lich-aka­de­mi­schen Krei­sen setz­te sich im 17. Jahr­hun­dert die mon­ar­chisch-hier­ar­chi­sche Herr­schafts­auf­fas­sung durch. Im 18. Jahr­hun­dert pass­te man die kirch­li­che Poli­tik­leh­re gänz­lich der auf dem Kon­ti­nent vor­herr­schen­den abso­lu­ti­sti­schen Staats­leh­re an. So war es nicht ver­wun­der­lich, dass Papst und Kir­che in der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on den Über­gang von der abso­lu­ti­sti­schen zur kon­sti­tu­tio­nel­len Mon­ar­chie ablehn­ten und noch 150 Jah­re brauch­ten, um nach dem Ter­ror der tota­li­tä­ren Regimes in Euro­pa den Wert der demo­kra­ti­schen Repu­blik für Gesell­schaft und Gemein­wohl zu erkennen.

Bild: MiL


1 Die fol­gen­den Aus­füh­run­gen ori­en­tie­ren sich weit­ge­hend an der Abhand­lung von Ada Nesch­ke-Hentsch­ke (Lau­sanne): Vom Staat der Gerech­tig­keit zum moder­nen Rechts­staat, in: Inter­na­tio­na­le Zeit­schrift für Phi­lo­so­phie, Heft 2/​2002

2 Über­setz­tes Zitat aus King James IV. Schrift Poli­ti­cal Wri­tin­gs, bei Nesch­ke-Hentsch­ke S. 269f

3 Refe­riert aus der Schrift von Nesch­ke-Hentsch­ke S. 270

4 Zitat aus Fran­cis­co Suá­rez: De legi­bus, 1613, bei Nesch­ke-Hentsch­ke S. 279

5 Kom­men­tar von Nesch­ke-Hentsch­ke S. 279

6 Die fol­gen­den Aus­füh­run­gen refe­rie­ren den letz­ten Abschnitt des Auf­sat­zes von Nesch­ke-Hentsch­ke
S. 273–285

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