Am 17. September 1946 empfing Papst Pius XII. die Teilnehmer der XXIX. Generalkongregation des Jesuitenordens, die sich aus aller Welt im Generalhaus des Ordens in Rom versammelt hatten. Die Generalkongregation hatte am 6. September begonnen und sollte noch bis zum 23. Oktober dauern. Zwei Tage zuvor, am 15. September, war von den Delegierten der 27. Generalobere des Ordens gewählt worden. Als Schwarzer Papst trat erstmals P. Jean-Baptiste Janssens an der Spitze des Ordens vor den Papst. Pius XII. ermahnte die Gesellschaft Jesu in seiner Allokution und gab dem Orden die Richtung vor, die er von ihr erwartete. Ein Zeitdokument von besonderer Bedeutung, die zu einem Vergleich mit der heutigen Lage und der seit damals erfolgten Entwicklung herausfordert.
Ansprache unseres Heiligen Vaters Pius XII.
an die Väter der Gesellschaft Jesu der XXIX. Generalkongregation
Obwohl die Zeiten unruhig und schwierig sind, habt ihr, meine Lieben, eure rechtmäßige Vollversammlung oder Generalkongregation in Rom versammelt; und nun sorgt ihr einmütig und aktiv, ruhig und fleißig für die Angelegenheiten eures Ordens, damit er durch die Vereinigung der Kräfte und die Stärkung der Disziplin immer mehr das Lob Gottes fördert und dem Nutzen der Kirche dient. Die Hauptfrucht eurer Versammlung ist bereits gereift: Ihr habt euren neuen Generaloberen gewählt1, den wir hier anwesend mit Unserem Herzen und Unseren Augen umarmen. Möge er jenes würdig sein, dem er nachgefolgt ist: Wladimir Ledóchowski2, der sich unter den Generaloberen durch Frömmigkeit, Klugheit und andere Tugenden auszeichnete, den sowohl Unsere beiden letzten Vorgänger als auch Wir selbst zu Lebzeiten sehr schätzten und dessen Tod Wir nun gemeinsam mit euch mit großem Bedauern beklagen. Möge euer oberster Leiter für das Wohl der Gesellschaft Jesu sorgen und sich ihrer neuen Bedürfnisse mit der gleichen Beständigkeit und Bereitschaft annehmen.
Der verheerende Krieg, der gerade zu Ende gegangen ist, hat auch euren Orden nicht verschont, zumindest viele seiner Provinzen und heilige Missionen nicht. Nicht wenige eurer Mitbrüder starben in den Schlachten und bei den Bombardierungen; viele wurden zu den Waffen gerufen oder zu Zwangsarbeit verurteilt; viele, die zu Gefangenen gemacht wurden, litten unter Kälte, Elend, Schikanen, Schwerstarbeit und vor allem unter den langen Strapazen und der Beklemmung der Gefangenschaft.
Aber die Gesellschaft Jesu, eure Mutter, die Freud und Leid miteinander vermischt, kann sich mit Recht die Worte des Psalmisten zu eigen machen: „Mehren sich die Sorgen des Herzens, so erquickt dein Trost meine Seele“ (Psalm 94,19). Ist es nicht eine einzigartige Gabe und Wohltat Gottes, daß sie trotz stürmischer Zeiten die Zahl ihrer Mitglieder wachsen sieht und ihre Tugenden durch leuchtende Beispiele bezeugt? Wir bewundern mit euch die Zeugnisse des evangelischen Lebens, durch die sich eure Brüder unter den Soldaten und Gefangenen ausgezeichnet haben, und wir bewundern den vielfältigen Fleiß in der Arbeit des Apostolats, mit dem die Priester und andere aus euren Reihen ihren Gefährten in Christus Gesundheit, Frieden und Labsal gebracht haben. Und was soll man von den apostolischen Unternehmungen sagen, die eure Brüder in den von den siegreichen Armeen besetzten Gebieten unternommen haben, manchmal nicht ohne Todesgefahr? Ihre Tugend verdient das höchste Lob, ebenso wie die tätige Nächstenliebe, die eure vom Krieg weniger geschädigten Provinzen zugunsten eurer von Elend und Trübsal bedrängten Brüder walten ließen, die so vieler notwendiger Dinge bedürfen und mit dem Wiederaufbau der beweinenswerten Ruinen beschäftigt sind. Und euer Fleiß ist nicht nur darauf beschränkt. Als dem Kriegsbrand ein Ende gesetzt wurde, habt ihr im Vertrauen auf Gottes Hilfe nicht nur mit verstärktem Einsatz für eure eigenen Angelegenheiten gesorgt, ihr habt die Noviziate und Kollegien wiederhergestellt oder verbessert, sondern ihr habt euch auch im Wettbewerb dem Wiederaufbau und der Korrektur der religiösen, moralischen und sozialen Ordnung gewidmet – eine sehr mühsame Arbeit – und ihr habt euch bemüht, die Gemüter der vom Haß aufgebrachten Menschen so weit wie möglich zu beruhigen.
Nun gibt es nichts Dringenderes und Drängenderes, meine Lieben, als die Autorität der Religion und die christliche Sittenzucht in gebührender Ehre und Kraft wiederherzustellen. Ach, in welche Zeiten sind wir durch Vernachlässigung der unsterblichen Güter geraten! In jeder Gruppe von Menschen findet man jene, die den katholischen Glauben, ja die Grundlagen der Religion selbst, völlig ignorieren; man findet jene, die in Untaten und Zügellosigkeit nichts Schändliches sehen, jene, die selbst die elementarsten Normen der Moral und der Gerechtigkeit vernachlässigen; es gibt Rasende, die gegen heilige Dinge wüten, und Lethargische, die diese töricht vernachlässigen; in ganzen Regionen und Nationen wird die soziale Ordnung umgestürzt.
Es sind böse Zeiten, weil die Menschen böse sind. Die Menschen müssen gut werden, damit auch die Zeiten gut werden.
Die Kirche nimmt wahr und begreift, daß es vor allem an ihr liegt, eine solche Flut des Bösen abzuwehren und die kranken Völker zu heilen. Und sie unternimmt dieses Werk im Vertrauen auf Gottes Hilfe und Gnade. Denn was der Völkerapostel sagte, läßt sich auch auf unsere Zeit übertragen: „Wo die Sünde mächtig ist, da ist die Gnade im Überfluß“ (Röm 5,20). Auch in unserer Zeit scheint die „Sonne des Heils“, denn Christus lädt auch uns zum Apostolat ein mit den Worten: „Erhebt eure Augen und seht die Felder, die schon reif sind für die Ernte“ (Joh 4,35). Diese Worte des göttlichen Erlösers gelten in erster Linie für die heiligen Missionen und bringen ihnen außerordentliche Bestärkung. Sie gelten aber auch für die Länder und Völker, die seit langem ganz christlich und katholisch sind. Denn überall nimmt durch Ansporn der religiöse Eifer der Christen zu und entzündet sich neu; überall wenden sich die Augen und der Geist der Menschen der Kirche zu und erwarten von ihr mehr als von jedem anderen das Heil; überall gibt es viele, die wirklich „nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten“ (Mt 5,6) und vor Verlangen nach göttlichem Licht und göttlicher Gnade brennen.
Das ist das große Werk, das die Kirche vollbringen muß! Bei der Verwirklichung dieses Ziels vertraut sie auch auf euch, sie vertraut auf euren Eifer, mit dem ihr euch dafür einsetzt, sie vertraut vor allem auf euren religiösen Beruf und eure Doktrin. Wird unsere Hoffnung vergeblich sein? Ganz und gar nicht. Wir wissen aus Erfahrung, wie der Eifer euch bewegt und euren Wunsch zu handeln entfacht. Ihr handelt für Jesus; und die Gesellschaft Jesu wird einen großen Beitrag zur Vorbereitung eines solchen heiligen Triumphs leisten und viele andere durch ihr Beispiel mitreißen.
Aber ihr müßt bestimmte Bedingungen beachten, damit das, was Wir erwarten, gelingen kann und ihr Unsere Erwartungen erfüllen könnt. Zuallererst müßt ihr euren Konstitutionen und allen darin enthaltenen Vorschriften treu bleiben. Die Regeln eures Ordens können, wenn es zweckmäßig erscheint, hier und da den Neuerungen der Zeit angepasst werden; die Hauptsachen darin dürfen jedoch in keiner Weise angetastet werden und müssen unveränderlich bleiben. Zum Beispiel sollen das dritte Jahr der Probezeit, das andere Ordensfamilien durch Nachahmung übernommen haben und dank dessen die Ader des innigen geistlichen Lebens in euch reicher wächst; die Gebräuche der Meditation und des Schweigens und besonders die traditionellen Regeln für die Unterweisung der Schüler unangetastet bleiben. Diese für euch übliche Unterweisung dauert lange und ist deshalb aktiv und wirksam. So wie es langer Zeiträume bedarf, damit die Eichen stark werden, so ist auch immer eine lange Geduld erforderlich, um einen Mann Gottes auszubilden. So soll man den großzügigen Wagemut der jungen Leute im Zaum halten, der sie verleitet, voreilig zu handeln: Eine zu überstürztes Tätigsein zerstreut mehr, als daß es aufbaut, und schadet sowohl dem Handelnden als auch den Werken des Apostolats selbst.
Wenn ihr wahre und unerschrockene Apostel sein wollt, dann bemüht euch eifrig, ganz geformt und durchdrungen vom Geist der Übungen eures heiligen Vaters Ignatius (vgl. Epist. Inst. S.J., Nr. 174 bis), solide übernatürliche Tugenden zu erwerben und alle eure Fähigkeiten mit glühendem Glauben in den Dienst Christi, des Herrn, zu stellen; lebendige Glieder des mystischen Leibes Christi, strebt danach, auf diese Weise die Mittel der himmlischen Gnade zu vermehren; bewegt von der Liebe zum göttlichen Erlöser, unterdrückt das verkehrte Gefühl der Eigenliebe, demütigt euch, indem ihr vor allem eure Gefühle zügelt und mäßigt, und durch die Disziplin dieser Enthaltsamkeit werdet ihr euch geeignet und bereit machen, alle Aufgaben zu erfüllen und alle Schwierigkeiten zu ertragen.
Daraus ergibt sich auch, daß die Tugend des Gehorsams niemals auf wackligen Füßen stehen wird. Eure Losung, eure Ehre, eure Stärke ist der Gehorsam, der vor allem darauf gerichtet sein muß, daß ihr euch dem Wink eurer Vorsteher völlig fügt, ohne zu klagen, ohne zu murren, ohne die tadelnswerte Kritik, die als Krankheit unserer Zeit die Kräfte zersetzt und die Initiativen des Apostolats träge und fruchtlos macht. Das Schwere, das euch der strenge Gehorsam auferlegt, wird leicht, wenn er Nächstenliebe atmet; und wenn sie da ist, ist Gott selbst da, denn „Gott ist die Liebe“. So sei in euch „die Liebe, die aus einem reinen Herzen, einem guten Gewissen und einem aufrichtigen Glauben entspringt“ (1 Tim 1,5).
Eure Pflicht ist es, dem Namen und der Tat nach wahrhaft religiöse Männer zu sein, aber auch Männer von großer Bildung. Ihr erfüllt die Aufgabe, in Wort und Schrift die Theologie, die Heiligen Schriften und die anderen kirchlichen Disziplinen, aber auch die Philosophie zu lehren: Diese hohe Ehre steht euch bevor, eine edle Anstrengung, aber auch der erhabene Grund, aus dem ihr dieses Amt übernommen habt. Für alle und für jeden einzelnen, dem diese Aufgabe anvertraut ist, ertönt die laute Stimme des Apostels:
„Timotheus, bewahre, was dir anvertraut ist. Halte dich fern von dem gottlosen Geschwätz und den falschen Lehren der sogenannten «Erkenntnis»“ (1 Tim 6,20).
Deshalb sollen die Mitglieder der Gesellschaft Jesu, um einer solchen Hoffnung treu zu entsprechen, mit aller Sorgfalt ihre Gesetze beachten, die ihnen vorschreiben, der Lehre des heiligen Thomas zu folgen, „als der gesündesten, sichersten, am meisten gebilligten und mit den Konstitutionen übereinstimmenden“ (vgl. Epitom. Nr. 315–318), und sich an das Lehramt der Kirche halten mit der unermüdlichen Beständigkeit, die Ihrer Kohorte eigen ist, indem Sie, um die Worte des heiligen Gründers Ihrer Gesellschaft selbst zu gebrauchen, „einen Geist haben, der bereit und willens ist, in allen Dingen der wahren Braut Christi, unseres Herrn, zu gehorchen, die unsere heilige Mutter, die hierarchische Kirche, ist“, und „in dem Glauben, daß zwischen Christus, unserem Herrn, dem Bräutigam, und der Kirche, Seiner Braut, ein und derselbe Geist ist, der uns zum Heil unserer Seelen regiert und beherrscht; denn durch denselben Geist und unseren Herrn, der die Zehn Gebote gegeben hat, regiert und leitet sich unsere heilige Mutter Kirche selbst“ (Exerzitien. Geist, Regulæ ad sentiendum cum Eccl., 1a und 13a).
Und wenn sie vor allem anderen den Glauben pflegen müssen, so müssen sie sich auch eine sorgfältige und vollendete Kultur aneignen und nach dem glorreichen Vorbild ihrer Regel das Voranschreiten der Lehren betreiben, so viel sie können und wie sie können, in der Überzeugung, daß sie auf diesem Weg, so mühsam er auch sein mag, viel zur größeren Ehre Gottes und zur Erbauung der Kirche beitragen können. Darüber hinaus müssen sie sich mündlich und schriftlich so an die Menschen ihrer Zeit wenden, daß sie verstanden und bereitwillig gehört werden. Daraus folgt, daß sie bei ihren Vorschlägen und Äußerungen, bei der Darlegung von Argumenten und auch bei der Wahl ihres Stils ihre Reden klugerweise an den Charakter und die Tendenz ihres Jahrhunderts anpassen müssen. Was aber unveränderlich ist, das soll niemand stören oder entfernen. Viel wurde gesagt, aber wie man sieht, nicht genug, über die „Nouvelle Théologie“, die sich zusammen mit allen Dingen bewegt, die in ständiger Bewegung sind, und daher immer auf dem Weg sein und nie ankommen wird. Wenn es so schiene, daß eine solche Ansicht akzeptiert werden müßte, was würde dann aus den katholischen Dogmen werden, die sich niemals ändern dürfen? Was würde aus der Einheit und Stabilität des Glaubens werden?
Da ihr die Verehrung der unfehlbaren Wahrheit als heilig und feierlich erkennt, bemüht euch, die Probleme, die die Wankelmütigkeit der Zeit aufwirft, mit Eifer zu erforschen und zu lösen, besonders wenn sie den gelehrten Christen Hindernisse und Schwierigkeiten bereiten können; vielmehr, indem ihr sie erhellt und das Hindernis in eine Hilfe umwandelt, bestärkt ihr auf diese Weise ihren Glauben. Wenn aber neue oder gewagte Fragen geprüft werden, sollen die Grundsätze der katholischen Lehre immer vor dem geistigen Auge leuchten; was in der Theologie ganz neu klingt, soll mit wachsamer Vorsicht abgewogen werden; was sicher und fest ist, soll von dem unterschieden werden, was durch Vermutungen gesagt wird, von dem, was ein labiler und nicht immer rühmlicher Gebrauch sogar in die Theologie und Philosophie einführen kann; denen, die irren, soll eine freundliche Hand gereicht, aber den Irrtümern der Meinungen durch nichts nachgegeben werden.
Nachdem wir euch, meine Lieben, ermahnt haben, erteilen wir euch in Liebe den apostolischen Segen und bitten euch mit vielen Gebeten um die Hilfe Gottes, ohne den wir nichts tun können und mit dem wir alles tun können, damit ihr euch und eure Mittel dem alten Weg und mit neuem Eifer der heiligsten Sache des Evangeliums weiht. Seid stark, tut starke Taten.
„Wachset in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilands Jesus Christus! Ihm gebührt die Herrlichkeit, jetzt und in Ewigkeit. Amen“ (2 Petr 3,18).
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons
1 Am 15. September 1946 wurde der aus Flandern stammende P. Jean-Baptiste Janssens (1889–1964) zum 27. Generaloberen der Gesellschaft Jesu gewählt. Dieses Amt sollte er als vorläufig letzter Jesuitengeneral bis zu seinem Tod 1964 innehaben. Janssens war 1907 in den Jesuitenorden eingetreten. Für seinen Einsatz während des Zweiten Weltkriegs für Juden in Belgien wurde ihm von jüdischer Seite der Ehrentitel eines Gerechten unter den Völkern verliehen.
2 Wladimir Graf Ledochowski (1866–1942), als Sohn eines polnischen Grafen und einer Bündner Gräfin in Niederösterreich geboren, trat 1889 dem Jesuitenorden bei. 1914 wurde er zum 26. Generaloberen des Ordens gewählt, den er im Ersten Weltkrieg von Zizers, dem Heimatort seiner Mutter in Graubünden, aus leitete. Ledochowski war nicht der Antisemit, als der er in jüngeren Publikationen gezeichnet wird, aber ein überzeugter Antikommunist. Er starb am 13. Dezember 1942 in Rom.