Ein Gastkommentar von Hubert Hecker
Aus Anlass des Kriegs in der Ukraine sollen die frühneuzeitlichen Kontroversen über ethische Berechtigung und Begrenzung von Krieg und Kriegsführung reflektiert werden.
Um die ethische Haltung zu Krieg und Kriegsführung in der früheuropäischen Geschichte geht es im ersten Teil des folgenden Beitrags.
I. Das klassische Griechenland war zutiefst von der Überzeugung durchdrungen, dass nur den Individuen der damaligen ‚zivilisierten Völker‘ der Status des Menschseins zustehe. Angehörige der sogenannten Barbaren galten als untermenschliche Wesen ohne Rechte. Aus dieser Welt- und Menschensicht folgerte der Philosoph Platon: Bei Angriffen unvernünftiger Barbaren sei „nicht nur der Sieg zur Herstellung von gerechtem Frieden, sondern die Vernichtung der Feinde erforderlich“. Nach Aristoteles waren barbarische Völker entsprechend ihrer körperlichen Konstitution zum Sklavendasein bestimmt. Daher sei ihre kriegerische Unterwerfung gerechtfertigt „als eine natürliche Kriegskunst wie die Jagd“ auf Tiere (zitiert aus dem Wikipedia-Artikel zum ‚Gerechten Krieg‘).
Die Römer schwächten die Verachtung gegenüber den Barbaren ab, gingen aber in der Praxis gegen ihre Kriegsgegner höchst barbarisch vor: Im Jahre 146 v. Chr. zerstörte ein römisches Heer Karthago als Hauptstadt des größten Wirtschaftskonkurrenten. Dabei töteten die Römer 60.000 Soldaten und Zivilisten, 50.000 Überlebende wurden versklavt. Im gleichen Jahr machte ein weiteres römisches Heer Korinth als Hauptort eines griechischen Bundes dem Erdboden gleich und nahm alle Einwohner in die Sklaverei.
Sowohl an den imperialistischen Kriegszielen der Römer wie auch an ihrer Kriegsführung gab es zeitgenössische Kritik. Der römische Schriftsteller und Staatsmann Cicero entwickelte ein Konzept auf naturrechtlicher Basis zur Einschränkung von Kriegen:
Kriege dürften nur geführt werden bei erlittenem Unrecht, als Selbstverteidigung oder Nothilfe für andere, als letztes Mittel nach gescheiterten Verhandlungen, von der politischen Zentralmacht geführt und zum Ziel, ohne Ungerechtigkeit in Frieden (damals in der pax romana) leben zu können.
Die Schwäche von Ciceros Programm bestand in dem breiten Interpretationsrahmen, der auch auf die Interessen des römischen Imperiums anwendbar blieb. Gleichwohl sollte sein Ansatz, den Krieg durch ethische und rechtliche Prinzipien einzuhegen, wegweisend werden für die europäische Geschichte.
Über den Kirchenlehrer Augustinus gingen die Grundzüge von Ciceros Konzept in die kirchliche Lehre zu Staat und Politik ein. Der scholastische Philosoph Thomas von Aquin systematisierte die klassische Lehre vom zulässigen oder gerechtfertigten Krieg (bellum justum): Gerecht war für Thomas ein Krieg nur dann, wenn er
- von einer dazu legitimierten Regierung geführt wurde,
- aus einem gerechten Grund, etwa als Verteidigungskrieg oder zum Erhalt des Gemeinwohls,
- in der rechten Absicht bei der Kriegsführung und dem Kriegsziel zur Friedenswahrung
- sowie als ultima ratio zur Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit.
Daneben skizzierte die Scholastik auch einige Kriterien für das Recht im Krieg (jus in bello): Verhältnismäßigkeit der angewandten Kriegsmittel, Unterscheidung von Soldaten und Zivilisten, Schutz der letzteren.
Der Sinn der Lehre vom gerechten Krieg war und ist die Einhegung von Krieg und Gewalt durch ethisch-politische Regeln. Sie zielt auf Reduzierung und Humanisierung von kriegerischem Handeln.
II. Einen gänzlich anderen Ansatz zum Thema Krieg verfolgte der italienische Autor Niccolò Machiavelli mit seiner politischen Schrift Il Principe von 1513, also in der Hochzeit der Renaissance. Der Verfasser war ein an antiken Schriften geschulter Diplomat der Republik Florenz. Nach der Rückkehr der Medici-Fürsten 1512 verlor Machiavelli seine Ämter. Im Exil auf einem Landgut begann er mit der Niederschrift von seinem Fürstenbuch.
Ein Ratgeber-Handbuch für autokratische Fürsten
Obwohl überzeugter Republikaner, verfasste Machiavelli mit dieser Schrift ein Ratgeber-Handbuch in 26 Kapiteln für autokratische Fürsten. Das Werk beschreibt die effektiven Mittel zu Machteroberung und Herrschaftssicherung von Stadt- und Landesherren. Zu seinen Empfehlungen kommt der Autor durch Beobachtung und Reflexion der zeitgenössischen Politik der italienischen Staaten wie auch aus (schlechten) Beispielen der Antike.
In einem ersten Zugang stellt sich das Werk als politisch-praktisches Fachbuch dar. Das lässt sich gut an den Kapiteln zu Heereswesen, Volksbewaffnung und Festungsbau aufzeigen. Daran kann man den konditionalen Charakter seiner Vorschläge im Sinne der instrumentellen Vernunft erkennen. Machiavellis Fragen waren grundsätzlich so angelegt: Welche Mittel sind bei unterschiedlichen Bedingungen anzuwenden, um gegebene Ziele wie Machteroberung und Machtsicherung zu erreichen? Es geht Machiavelli ausschließlich um Mittel und Wege für erfolgreiche Kriege – der Krieg selbst und die Kriegsziele werden nicht erörtert. In diesem Ausschluss einer ethischen Kriegsbehandlung zeigt sich der Bruch dieser Schrift mit der damaligen europäischen Tradition auf ethisch-christlichen Werten.
Erfolgreiche Kriegsführung ohne ethische Beschränkungen
In fünf Kapiteln gibt Machiavelli Ratschläge, mit welchen Mitteln sich Fürsten neue Gebiete und Herrschaften aneignen können. Für die Sicherung von eroberten Gebieten und Städten gibt Machiavelli verschiedene Lösungsmöglichkeiten an – jeweils nach den vorherigen Herrschaftsbedingungen: Bei unruhigen Völkern sollte der Eroberer zumindest seine Residenz in das neue Gebiet verlegen. Für Städte und Republiken, die vorher in Freiheit und Selbstverwaltung gelebt haben, „gibt es in der Tat kein sichereres Mittel“ der Herrschaftssicherung, „als sie zu zerstören“. Diese Empfehlung wiederholt Machiavelli am Schluss des fünften Kapitels noch einmal: „Republiken bergen das Andenken an die verlorene Freiheit. Am sichersten also ist es, sie zu zerstören“. Indem sich der Autor an des älteren Cato Vernichtungsurteil: Carthaginem esse delendam (Karthago ist zu zerstören) orientiert, schöpft er aus den schlechteren Traditionen der Antike, die durch die römische Stoa-Ethik und später das Christentum als überwunden galt.
Um das Verhältnis von fortuna und virtù geht es unter der Kapitelüberschrift: „Von neuen Fürstentümern, die durch fremde Unterstützung und durch Glückfälle erworben werden“. Cesare Borgia, den Machiavelli persönlich kannte, ist in diesem Fall Il principe. Er verdankte zwar seinen Aufstieg zum Kriegsherrn und Herzog der Macht und den Beziehungen seines Vaters Papst Alexander VI., dessen unehelicher Sohn er war. Aber er habe mit so viel eigenem Geschick seine Machtstellung gefestigt, dass Machiavelli „keinen besseren Rat zu geben weiß, als seinem Beispiel zu folgen“. Seine Herrschaftssicherung betrieb er einerseits durch die „Auslöschung aller Geschlechter der ihrer Herrschaft beraubten Großen und indem er andererseits alle einflussreichen Edelleute von Rom mit Stellen, Geschenken und Ehren auf seine Seite zog.“ Er hatte militärisch gesiegt „durch Gewalt und List und sich beim Volk beliebt und gefürchtet gemacht“.
Der Machtmensch Cesare Borgia als Vorbild für Nietzsches Übermenschen
Mit diesem Vorgehen sieht Machiavelli Cesare Borgia als herrschaftseffektives Vorbild für Machteroberung und Machtsicherung. Der Papst-Sohn gilt zwar als Inbegriff eines skrupellosen, grausamen, hinterlistigen, treulosen und mörderisch-unmoralischen Machtmenschen, gewissermaßen das reale Gegenbild zu dem idealisierten, allseits gebildeten und an den moralischen Werten der Antike orientierten Humanisten. Doch „die gegen Cesare vorgebrachten Anschuldigungen der Günstlingswirtschaft, der sexuellen Ausschweifung und der Grausamkeit waren in der Renaissance typische Begleitformen jeder autokratisch-feudalen Herrschaft“, meint der Historiker Ernst Probst. Demnach wäre der gebildete Cesare Borgia eben doch der Grundtyp des verbreiteten Renaissance-Menschen gewesen, den die damals herrschenden Schichten als Vorbild ansahen, wie es ja auch Machiavelli macht. Es spricht einiges dafür, dass Friedrich Nietzsche durch den Machtmenschen Borgia zu seiner Philosophie des „Willens zur Macht“ angeregt wurde. Jedenfalls schrieb er in seinem Buch Ecce homo, dass man sich „den Übermenschen eher als Cesare Borgia denn als Parsifal vorstellen“ müsse.
Der Anschein oder Eindruck der fürstlichen Politik auf die Bevölkerung spielt für die fünf Kapitel eine entscheidende Rolle, in denen Machiavelli die klassische Tugendlehre für die Fürsten erörtert. Sein Grundsatz lautet: Die moralischen Gesetze seien nur in einer idealen Welt einzuhalten. Die real existierende Welt sei voll schlechter Menschen und deshalb könne der Fürst sich nur gelegentlich an die moralischen Gebote halten. Ein Fürst dürfe sich nie vom Wohlwollen des Volkes abhängig machen, sondern sollte mit dosierten Grausamkeiten Furcht erzeugen. Die „Furcht vor Züchtigungen“ sei Garant für seine Herrschaft. Der Fürst müsse aber vermeiden, gehasst oder verachtet zu werden.
Amoralische Politik mit dem Schein der Wohlanständigkeit
Als weitere Begründung für fürstliche Amoralität führt Machiavelli an: Der Fürst kenne keinen (moralischen) Gerichtshof über sich. Seine Entscheidungen über den Mitteleinsatz sollten allein am Endzweck orientiert sein, nämlich seine Herrschaft und Gewalt zu sichern. Ein Fürst sollte sowohl die Rolle des listenreichen Fuchses als auch des grausamen Löwen spielen können.
Der amoralische Charakter von fürstlichen Handlungen und Entscheidungen müsse aber unbedingt vor dem Volk verborgen werden. Ein Fürst brauche daher nichts von den klassischen Tugenden haben, wohl aber das Ansehen davon. „Es ist sehr nachteilig, stets redlich zu sein. Aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig und redlich zu erscheinen ist sehr nützlich. Ein Fürst muss also das Gemüt besitzen, das dazu fähig ist, sich so, wie es die Winde und die abwechselnden Glücksfälle erfordern, zu wenden“ – schreibt der Autor im 18. Kapitel.
Im 16. Kapitel erörtert Machiavelli die allgemein erwartete Fürstentugend der Freigiebigkeit. Großzügig und spendabel zu sein nütze den Herrschern nur, wenn sie es allseits bekannt machten. Auch „fremdes, geraubtes Gut durchzubringen, macht keinen schlechten Namen, sondern das Gegenteil“. Nur die verschwenderische Freigiebigkeit aus dem eigenen Gut schade. Denn auf die Dauer zehre große Freigiebigkeit am Vermögen, so dass der Herrscher dann die Untertanen mit Auflagen und Steuern beschweren müsse.
Rationale Elemente in Machiavellis Schrift
In diesem Kapitel erscheinen einzelne Forderungen plausibel. Auf diese Stellen stützten sich Befürworter von Machiavellis Schrift in der neuzeitlichen Geschichte. Aus den sieben Kapiteln über Waffen, Festungen und Heerwesen konnten Kriegstheoretiker ebenfalls einige rationale Ratschläge herausziehen – etwa Clausewitz. Auch zu bestimmten Folgerungen in Max Webers Schrift „Politik als Beruf“ werden Linien aus Il principe gezogen, wobei dessen Gesamtkonzept der politischen Verantwortungsethik dem Grundansatz von Machiavelli eher widerspricht.
„Il principe“ war als Wiedergeburt der Antike eine amoralische Missgeburt
Insgesamt überwiegt aber die Kritik an dem Ansatz von Il principe. Schon italienischen Zeitgenossen des Autors fiel auf, dass Machiavelli sich vorwiegend auf die schlechteren Herrscher der Antike bezieht und von den grausamsten Kriegsherren und machtgierigsten Senatoren lernen will. Das waren die Überlieferungen aus der griechisch-römischen Antike, die das christliche Europa bis dato kritisch kommentiert bzw. ausgeschieden und überwunden hatte. In der Schrift Il principe jedenfalls war die Wiedergeburt der Antike eine amoralische Missgeburt. Sie sollte in der gesamten Neuzeit ihre hässliche Fratze zeitigen und – schlimmer noch – eine blutige Spur von autoritären Macht- und Gewaltexzessen entfalten.
Denn in der Gesamtbewertung bleibt als kritisches Resümee festzuhalten:
Als Wertmaßstab für politisches Handeln von Machtbestrebungen und Herrschaftssicherung ersetzt Machiavelli die klassische Ethik des Naturrechts und der fürstlichen Tugendlehre durch die ethisch nicht eingeschränkten Prinzipien der instrumentellen Vernunft zur Machteroberung und Machtsicherung.
Die ‚Staatsraison‘ rechtfertigt jedes Mittel – unabhängig von ethischen Prinzipien
Was zum Ende des 16. Jahrhunderts als Staatsraison auf den Begriff gebracht wurde, hatte Machiavelli grundgelegt. Dessen Ansätze erkennt man unschwer in der folgenden Definition wieder, allerdings mit der Verschiebung von persönlicher Fürstenherrschaft auf institutionell-staatliche Herrschaft: „Staatsraison ist ein Prinzip, das die Interessen des Staates über alle anderen (partikularen oder individuellen) Interessen stellt. Nach diesem absolutistischen bzw. obrigkeitsstaatlichen Prinzip ist die Erhaltung der Macht, die Einheit und das Überleben des Staates ein Wert an sich und rechtfertigt letztlich den Einsatz aller Mittel, unabhängig von Moral oder Gesetz.“ So heißt es im Politiklexikon 5 von 2011.
In dieser politischen Konzeption steht der Staat über allen ethischen Prinzipien, er nimmt als „sterblicher Gott“ (Thomas Hobbes) die Stelle ein, selbst die moralischen Gesetze auszugeben und durchzusetzen. Der absolutistische Souverän erkennt keinen Gerichtshof über sich an. Des Weiteren steht die Staatsraison prinzipiell über allen Interessen der Einzelmenschen und einzelner Bevölkerungsgruppen. In dem Begriff Untertan kommt zum Ausdruck, dass es gegenüber dem absolutistischen Staat – und neben der Staatsraison – keine Bürger- und Menschenrechte geben kann, die der staatlichen Eingriffspolitik Schranken setzen.
Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der (instrumentellen) Vernunft, wurden die klassischen gewaltbeschränkenden Ethikregeln zu den Kriegsbedingungen in ihr machiavellistisches Gegenteil umgeformt zu einem ‚freien Recht auf Kriegführung‘ (liberum jus ad bellum). Damit gab man selbst Angriffskriegen den Schein einer grundsätzlich legitimen „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz).
Machiavellis Ratschlag, als sicheres Mittel der Herrschaftssicherung gegebenenfalls politische Feinde umbringen zu lassen, aufmüpfige Städte und Republiken zu zerstören und gegnerische Volkgruppen zu vernichten, ist in den imperialistischen und totalitären Staaten der Neuzeit ebenfalls systematisch angewandt und ausgebaut worden. Dafür gab der jakobinische Terrorstaat die Blaupause ab mit seinen Deportationen von Zehntausenden Klerikern und Staatsfeinden, den 50.000 politischen Hinrichtungen sowie dem Vernichtungskrieg gegen Hunderttausende Katholiken in der Vendée.
Für die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts hatte der Machiavellismus grundlegende Bedeutung. Treffendes schrieb der Schriftsteller Arthur Koestler darüber als Kenner des stalinistischen Kommunismus aufgrund seiner Mitgliedschaft in der KP. In seinem Buch Sonnenfinsternis (1940) ließ er einen hohen KP-Funktionär sagen: „An den kritischen Wendepunkten der Geschichte ist keine andere als die alte Regel möglich, dass der Zweck die Mittel heilige. Wir haben den Neo-Machiavellismus in dieses Jahrhundert eingeführt; die anderen, die konterrevolutionären Diktaturen sind plumpe Kopien. Wir waren die Neo-Machiavellisten im Namen der universalen Vernunft – die anderen im Namen der nationalen Romantik.“
Für den Sowjetherrscher Stalin gehörte die Ukraine mit ihrem Bestreben zur kulturellen und nationalen Selbstbehauptung zu jenen Republiken, zu denen Machiavelli den Ratschlag gegeben hatte, solche Einheiten mit allen verfügbaren Mitteln zu zerstören.
Zwar mussten die Bolschewiki die nach der Oktoberrevolution ausgerufenen unabhängigen Randstaaten des zerfallenen Zarenreiches vorerst im Föderationsvertrag der Sowjetrepubliken von 1922 anerkennen, freilich schon damals unter der Herrschaft der zentralistischen Struktur der Kommunistischen Partei. Aber bald nach Lenins Tod begann Stalin mit einer Verdächtigungskampagne gegen „bürgerlichen Nationalismus“ gezielt die kulturellen Eigenständigkeitsbestrebungen mit aller Gewalt zu unterdrücken. In der Ukraine wurden seit Mitte der 20er Jahre 10.000 orthodoxe Kleriker ermordet und mehr als 100.000 Intellektuelle und Kulturschaffende nach Sibirien deportiert. Als sich Ende der 20er Jahre die Kulaken der sowjetischen Zwangskollektivierung und russifizierenden Umerziehung widersetzten, wurden die Strafaktionen und Deportationen auf die Mittelbauern ausgeweitet. Die Terrorpolitik Stalins, später als Tötung durch Hunger – ‚Holodomor‘ – bezeichnet, führte in der Ukraine zu drei Millionen Opfern, mehr als in allen anderen Landesteilen der Sowjetunion mit nicht-russischen Völkern. Arthur Koestler war Zeuge dieser genozidalen Unterdrückungspolitik, die von westlichen Journalisten und Schriftstellern vielfach schöngeredet oder gar verleugnet wurde.
Die Säuberungsaktionen von 1937/38, Stalins Großer Terror genannt, bestanden nur zum Teil aus Partei- und Militärsäuberungen. Timothy Snyder, der Autor des Buches Bloodlands, leitet sein zweites Kapitel mit dem Satz ein: „Stalin war ein Pionier des ethnischen Massenmordes“, hauptsächlich an polenstämmigen und ukrainischen Sowjetbürgern.
Der russische Präsident Wladimir Putin verteidigt die großrussische Hegemonial- und Kriegspolitik Stalins. Er nennt die Nationalitätenpolitik der frühen Sowjetunion einen „schlimmen Fehler“, insbesondere dass Lenin die Ukraine vom alten Russland abgetrennt und ihr eine eigene Staatlichkeit geschenkt habe.
Putin persönlich hat in zwei Aufsätzen in den letzten Jahren den Ukrainekrieg ideologisch vorbereitet. Er rechtfertigt darin die russisch-sowjetische Einflusssphärenpolitik des Hitler-Stalin-Paktes sowie die Oberherrschaft Russlands über die Ukraine als neurussisches „Brudervolk“, dem er kein Recht auf eigene Sprache, Kultur und Nationbildung zugesteht. Sofern sich Politiker und Zivilisten dem russischen Herrschaftsanspruch widersetzten, seien sie Faschisten und als solche zu vernichten.
Putins Krieg gegen die unabhängige Ukraine und sein Kampf gegen die dortige Zivilbevölkerung stehen in der unterdrückerischen Tradition des stalinistischen Sowjetimperialismus. Auf lange Sicht sind sie eine späte Frucht der amoralischen Herrschaftssicherungsregeln von Machiavelli, der den Ratschlag gegeben hatte, widerständige Republiken gegebenenfalls zu zerstören und gegnerische Volkgruppen zu vernichten.
Bild: Wikicommons
Danke für diesen exzellenten Ausflug in die Geschichte und detaillierte Darstellung der Zusammenhänge…!
So einfach ist der Ukrainekrieg im Lichte der Lehre vom gerechten Krieg nicht zu beurteilen. Aus russischer Sicht stellt sich der Konflikt so dar: Auf dem Statsgebiet der Ukraine haben sich russische Republiken als souverän erklärt, weil sie als ethnische Minderheit in der Ukraine diskriminiert, nicht mehr im Ukrainischen Staat leben wollten. Rußland erkannte diese Republiken an, die Ukraine sah es als ihr Recht an, sie durch militärische Gewalt in den Staat zu reintegrieren. Seit dem herrscht Krieg in der Ukraine zwischen der Ukraine und diesen Republiken. Diese nun baten im letzten Jahr Rußland um eine militärische Hilfe wider die ukrainische Aggression. Die ist aus russischer Sicht legitim, da sie diese neugegrüdeten Staaten anerkannt hat. Aus ukrainischer Sicht aber ist das eine unerlaubte Einmischung in eine innerukrainische Angelegenheit, da die Ukraine das Recht habe, Krieg gegen die Separatisten zu führen. Das Hauptproblem liegt in der Frage der Rechte nationaler Minderheiten: Dürfen die sich aus einem Staatsgebiet loslösen, wenn sie in ihm sich diskriminiert sehen! Darf die Ukraine Krieg gegen die seperatistischen Provinzen führen und durften die Provinzen eine russische Militärhilfe gegen die Ukraine erbitten? Das sind nicht leicht respondierbare Fragen.
Es gibt hier Unterschiede.
Der Westen anerkennt sehr wohl separatistische Bewegungen.
(Siehe das Kosovo im Jugoslawiekrieg – Kosovo wollte sich von Serbien lösen,
was auch mit Hilfe des Westens geschehen ist)
In der Ukraine ist das natürlich was anderes, obwohl seit 2014 der Donbass
von der ukrainischen Armee beschossen wurde.
Es wird im Westen also mit zweierlei Maß gemessen.
Die Katalonen wollten sich auch vom spanischen Staat lösen.
Dies wurde vom spanischen Staat mit illegalen Mitteln unterbunden.
Also, alles in Ordnung.