Kriegs- und Herrschaftstheorien zu Beginn der Neuzeit

Neuzeitliche Kontroversen zu Politik und Kirche (2)


Schlacht von Zama (heute Tunesien) zwischen Rom und Karthago im Zweiten Punischen Krieg (Ölgemälde des 16. Jahrhunderts)
Schlacht von Zama (heute Tunesien) zwischen Rom und Karthago im Zweiten Punischen Krieg (Ölgemälde des 16. Jahrhunderts)

Ein Gast­kom­men­tar von Hubert Hecker

Anzei­ge

Aus Anlass des Kriegs in der Ukrai­ne sol­len die früh­neu­zeit­li­chen Kon­tro­ver­sen über ethi­sche Berech­ti­gung und Begren­zung von Krieg und Kriegs­füh­rung reflek­tiert werden.

Um die ethi­sche Hal­tung zu Krieg und Kriegs­füh­rung in der frü­h­eu­ro­päi­schen Geschich­te geht es im ersten Teil des fol­gen­den Beitrags.

I. Das klas­si­sche Grie­chen­land war zutiefst von der Über­zeu­gung durch­drun­gen, dass nur den Indi­vi­du­en der dama­li­gen ‚zivi­li­sier­ten Völ­ker‘ der Sta­tus des Mensch­seins zuste­he. Ange­hö­ri­ge der soge­nann­ten Bar­ba­ren gal­ten als unter­mensch­li­che Wesen ohne Rech­te. Aus die­ser Welt- und Men­schen­sicht fol­ger­te der Phi­lo­soph Pla­ton: Bei Angrif­fen unver­nünf­ti­ger Bar­ba­ren sei „nicht nur der Sieg zur Her­stel­lung von gerech­tem Frie­den, son­dern die Ver­nich­tung der Fein­de erfor­der­lich“. Nach Ari­sto­te­les waren bar­ba­ri­sche Völ­ker ent­spre­chend ihrer kör­per­li­chen Kon­sti­tu­ti­on zum Skla­ven­da­sein bestimmt. Daher sei ihre krie­ge­ri­sche Unter­wer­fung gerecht­fer­tigt „als eine natür­li­che Kriegs­kunst wie die Jagd“ auf Tie­re (zitiert aus dem Wiki­pe­dia-Arti­kel zum ‚Gerech­ten Krieg‘).

Die Römer schwäch­ten die Ver­ach­tung gegen­über den Bar­ba­ren ab, gin­gen aber in der Pra­xis gegen ihre Kriegs­geg­ner höchst bar­ba­risch vor: Im Jah­re 146 v. Chr. zer­stör­te ein römi­sches Heer Kar­tha­go als Haupt­stadt des größ­ten Wirt­schafts­kon­kur­ren­ten. Dabei töte­ten die Römer 60.000 Sol­da­ten und Zivi­li­sten, 50.000 Über­le­ben­de wur­den ver­sklavt. Im glei­chen Jahr mach­te ein wei­te­res römi­sches Heer Korinth als Haupt­ort eines grie­chi­schen Bun­des dem Erd­bo­den gleich und nahm alle Ein­woh­ner in die Sklaverei.

Sowohl an den impe­ria­li­sti­schen Kriegs­zie­len der Römer wie auch an ihrer Kriegs­füh­rung gab es zeit­ge­nös­si­sche Kri­tik. Der römi­sche Schrift­stel­ler und Staats­mann Cice­ro ent­wickel­te ein Kon­zept auf natur­recht­li­cher Basis zur Ein­schrän­kung von Krie­gen:
Krie­ge dürf­ten nur geführt wer­den bei erlit­te­nem Unrecht, als Selbst­ver­tei­di­gung oder Not­hil­fe für ande­re, als letz­tes Mit­tel nach geschei­ter­ten Ver­hand­lun­gen, von der poli­ti­schen Zen­tral­macht geführt und zum Ziel, ohne Unge­rech­tig­keit in Frie­den (damals in der pax roma­na) leben zu können.

Die Schwä­che von Cice­ros Pro­gramm bestand in dem brei­ten Inter­pre­ta­ti­ons­rah­men, der auch auf die Inter­es­sen des römi­schen Impe­ri­ums anwend­bar blieb. Gleich­wohl soll­te sein Ansatz, den Krieg durch ethi­sche und recht­li­che Prin­zi­pi­en ein­zu­he­gen, weg­wei­send wer­den für die euro­päi­sche Geschichte.

Über den Kir­chen­leh­rer Augu­sti­nus gin­gen die Grund­zü­ge von Cice­ros Kon­zept in die kirch­li­che Leh­re zu Staat und Poli­tik ein. Der scho­la­sti­sche Phi­lo­soph Tho­mas von Aquin syste­ma­ti­sier­te die klas­si­sche Leh­re vom zuläs­si­gen oder gerecht­fer­tig­ten Krieg (bel­lum justum): Gerecht war für Tho­mas ein Krieg nur dann, wenn er

  • von einer dazu legi­ti­mier­ten Regie­rung geführt wurde,
  • aus einem gerech­ten Grund, etwa als Ver­tei­di­gungs­krieg oder zum Erhalt des Gemeinwohls,
  • in der rech­ten Absicht bei der Kriegs­füh­rung und dem Kriegs­ziel zur Friedenswahrung
  • sowie als ulti­ma ratio zur Wie­der­her­stel­lung von Recht und Gerechtigkeit.

Dane­ben skiz­zier­te die Scho­la­stik auch eini­ge Kri­te­ri­en für das Recht im Krieg (jus in bel­lo): Ver­hält­nis­mä­ßig­keit der ange­wand­ten Kriegs­mit­tel, Unter­schei­dung von Sol­da­ten und Zivi­li­sten, Schutz der letzteren.

Der Sinn der Leh­re vom gerech­ten Krieg war und ist die Ein­he­gung von Krieg und Gewalt durch ethisch-poli­ti­sche Regeln. Sie zielt auf Redu­zie­rung und Huma­ni­sie­rung von krie­ge­ri­schem Handeln.

II. Einen gänz­lich ande­ren Ansatz zum The­ma Krieg ver­folg­te der ita­lie­ni­sche Autor Nic­colò Machia­vel­li mit sei­ner poli­ti­schen Schrift Il Prin­ci­pe von 1513, also in der Hoch­zeit der Renais­sance. Der Ver­fas­ser war ein an anti­ken Schrif­ten geschul­ter Diplo­mat der Repu­blik Flo­renz. Nach der Rück­kehr der Medi­ci-Für­sten 1512 ver­lor Machia­vel­li sei­ne Ämter. Im Exil auf einem Land­gut begann er mit der Nie­der­schrift von sei­nem Fürstenbuch.

Ein Ratgeber-Handbuch für autokratische Fürsten

Obwohl über­zeug­ter Repu­bli­ka­ner, ver­fass­te Machia­vel­li mit die­ser Schrift ein Rat­ge­ber-Hand­buch in 26 Kapi­teln für auto­kra­ti­sche Für­sten. Das Werk beschreibt die effek­ti­ven Mit­tel zu Macht­er­obe­rung und Herr­schafts­si­che­rung von Stadt- und Lan­des­her­ren. Zu sei­nen Emp­feh­lun­gen kommt der Autor durch Beob­ach­tung und Refle­xi­on der zeit­ge­nös­si­schen Poli­tik der ita­lie­ni­schen Staa­ten wie auch aus (schlech­ten) Bei­spie­len der Antike.

In einem ersten Zugang stellt sich das Werk als poli­tisch-prak­ti­sches Fach­buch dar. Das lässt sich gut an den Kapi­teln zu Hee­res­we­sen, Volks­be­waff­nung und Festungs­bau auf­zei­gen. Dar­an kann man den kon­di­tio­na­len Cha­rak­ter sei­ner Vor­schlä­ge im Sin­ne der instru­men­tel­len Ver­nunft erken­nen. Machia­vel­lis Fra­gen waren grund­sätz­lich so ange­legt: Wel­che Mit­tel sind bei unter­schied­li­chen Bedin­gun­gen anzu­wen­den, um gege­be­ne Zie­le wie Macht­er­obe­rung und Macht­si­che­rung zu errei­chen? Es geht Machia­vel­li aus­schließ­lich um Mit­tel und Wege für erfolg­rei­che Krie­ge – der Krieg selbst und die Kriegs­zie­le wer­den nicht erör­tert. In die­sem Aus­schluss einer ethi­schen Kriegs­be­hand­lung zeigt sich der Bruch die­ser Schrift mit der dama­li­gen euro­päi­schen Tra­di­ti­on auf ethisch-christ­li­chen Werten.

Erfolgreiche Kriegsführung ohne ethische Beschränkungen

In fünf Kapi­teln gibt Machia­vel­li Rat­schlä­ge, mit wel­chen Mit­teln sich Für­sten neue Gebie­te und Herr­schaf­ten aneig­nen kön­nen. Für die Siche­rung von erober­ten Gebie­ten und Städ­ten gibt Machia­vel­li ver­schie­de­ne Lösungs­mög­lich­kei­ten an – jeweils nach den vor­he­ri­gen Herr­schafts­be­din­gun­gen: Bei unru­hi­gen Völ­kern soll­te der Erobe­rer zumin­dest sei­ne Resi­denz in das neue Gebiet ver­le­gen. Für Städ­te und Repu­bli­ken, die vor­her in Frei­heit und Selbst­ver­wal­tung gelebt haben, „gibt es in der Tat kein siche­re­res Mit­tel“ der Herr­schafts­si­che­rung, „als sie zu zer­stö­ren“. Die­se Emp­feh­lung wie­der­holt Machia­vel­li am Schluss des fünf­ten Kapi­tels noch ein­mal: „Repu­bli­ken ber­gen das Andenken an die ver­lo­re­ne Frei­heit. Am sicher­sten also ist es, sie zu zer­stö­ren“. Indem sich der Autor an des älte­ren Cato Ver­nich­tungs­ur­teil: Car­tha­gi­nem esse del­en­dam (Kar­tha­go ist zu zer­stö­ren) ori­en­tiert, schöpft er aus den schlech­te­ren Tra­di­tio­nen der Anti­ke, die durch die römi­sche Stoa-Ethik und spä­ter das Chri­sten­tum als über­wun­den galt.

Um das Ver­hält­nis von for­tu­na und vir­tù geht es unter der Kapi­tel­über­schrift: „Von neu­en Für­sten­tü­mern, die durch frem­de Unter­stüt­zung und durch Glück­fäl­le erwor­ben wer­den“. Cesa­re Bor­gia, den Machia­vel­li per­sön­lich kann­te, ist in die­sem Fall Il prin­ci­pe. Er ver­dank­te zwar sei­nen Auf­stieg zum Kriegs­herrn und Her­zog der Macht und den Bezie­hun­gen sei­nes Vaters Papst Alex­an­der VI., des­sen unehe­li­cher Sohn er war. Aber er habe mit so viel eige­nem Geschick sei­ne Macht­stel­lung gefe­stigt, dass Machia­vel­li „kei­nen bes­se­ren Rat zu geben weiß, als sei­nem Bei­spiel zu fol­gen“. Sei­ne Herr­schafts­si­che­rung betrieb er einer­seits durch die „Aus­lö­schung aller Geschlech­ter der ihrer Herr­schaft beraub­ten Gro­ßen und indem er ande­rer­seits alle ein­fluss­rei­chen Edel­leu­te von Rom mit Stel­len, Geschen­ken und Ehren auf sei­ne Sei­te zog.“ Er hat­te mili­tä­risch gesiegt „durch Gewalt und List und sich beim Volk beliebt und gefürch­tet gemacht“.

Der Machtmensch Cesare Borgia als Vorbild für Nietzsches Übermenschen

Mit die­sem Vor­ge­hen sieht Machia­vel­li Cesa­re Bor­gia als herr­schafts­ef­fek­ti­ves Vor­bild für Macht­er­obe­rung und Macht­si­che­rung. Der Papst-Sohn gilt zwar als Inbe­griff eines skru­pel­lo­sen, grau­sa­men, hin­ter­li­sti­gen, treu­lo­sen und mör­de­risch-unmo­ra­li­schen Macht­men­schen, gewis­ser­ma­ßen das rea­le Gegen­bild zu dem idea­li­sier­ten, all­seits gebil­de­ten und an den mora­li­schen Wer­ten der Anti­ke ori­en­tier­ten Huma­ni­sten. Doch „die gegen Cesa­re vor­ge­brach­ten Anschul­di­gun­gen der Günst­lings­wirt­schaft, der sexu­el­len Aus­schwei­fung und der Grau­sam­keit waren in der Renais­sance typi­sche Begleit­for­men jeder auto­kra­tisch-feu­da­len Herr­schaft“, meint der Histo­ri­ker Ernst Probst. Dem­nach wäre der gebil­de­te Cesa­re Bor­gia eben doch der Grund­typ des ver­brei­te­ten Renais­sance-Men­schen gewe­sen, den die damals herr­schen­den Schich­ten als Vor­bild ansa­hen, wie es ja auch Machia­vel­li macht. Es spricht eini­ges dafür, dass Fried­rich Nietz­sche durch den Macht­men­schen Bor­gia zu sei­ner Phi­lo­so­phie des „Wil­lens zur Macht“ ange­regt wur­de. Jeden­falls schrieb er in sei­nem Buch Ecce homo, dass man sich „den Über­men­schen eher als Cesa­re Bor­gia denn als Par­si­fal vor­stel­len“ müsse.

Der Anschein oder Ein­druck der fürst­li­chen Poli­tik auf die Bevöl­ke­rung spielt für die fünf Kapi­tel eine ent­schei­den­de Rol­le, in denen Machia­vel­li die klas­si­sche Tugend­leh­re für die Für­sten erör­tert. Sein Grund­satz lau­tet: Die mora­li­schen Geset­ze sei­en nur in einer idea­len Welt ein­zu­hal­ten. Die real exi­stie­ren­de Welt sei voll schlech­ter Men­schen und des­halb kön­ne der Fürst sich nur gele­gent­lich an die mora­li­schen Gebo­te hal­ten. Ein Fürst dür­fe sich nie vom Wohl­wol­len des Vol­kes abhän­gig machen, son­dern soll­te mit dosier­ten Grau­sam­kei­ten Furcht erzeu­gen. Die „Furcht vor Züch­ti­gun­gen“ sei Garant für sei­ne Herr­schaft. Der Fürst müs­se aber ver­mei­den, gehasst oder ver­ach­tet zu werden.

Amoralische Politik mit dem Schein der Wohlanständigkeit

Als wei­te­re Begrün­dung für fürst­li­che Amo­ra­li­tät führt Machia­vel­li an: Der Fürst ken­ne kei­nen (mora­li­schen) Gerichts­hof über sich. Sei­ne Ent­schei­dun­gen über den Mit­tel­ein­satz soll­ten allein am End­zweck ori­en­tiert sein, näm­lich sei­ne Herr­schaft und Gewalt zu sichern. Ein Fürst soll­te sowohl die Rol­le des listen­rei­chen Fuch­ses als auch des grau­sa­men Löwen spie­len können.

Der amo­ra­li­sche Cha­rak­ter von fürst­li­chen Hand­lun­gen und Ent­schei­dun­gen müs­se aber unbe­dingt vor dem Volk ver­bor­gen wer­den. Ein Fürst brau­che daher nichts von den klas­si­schen Tugen­den haben, wohl aber das Anse­hen davon. „Es ist sehr nach­tei­lig, stets red­lich zu sein. Aber fromm, treu, mensch­lich, got­tes­fürch­tig und red­lich zu erschei­nen ist sehr nütz­lich. Ein Fürst muss also das Gemüt besit­zen, das dazu fähig ist, sich so, wie es die Win­de und die abwech­seln­den Glücks­fäl­le erfor­dern, zu wen­den“ – schreibt der Autor im 18. Kapitel.

Im 16. Kapi­tel erör­tert Machia­vel­li die all­ge­mein erwar­te­te Für­sten­tu­gend der Frei­gie­big­keit. Groß­zü­gig und spen­da­bel zu sein nüt­ze den Herr­schern nur, wenn sie es all­seits bekannt mach­ten. Auch „frem­des, geraub­tes Gut durch­zu­brin­gen, macht kei­nen schlech­ten Namen, son­dern das Gegen­teil“. Nur die ver­schwen­de­ri­sche Frei­gie­big­keit aus dem eige­nen Gut scha­de. Denn auf die Dau­er zeh­re gro­ße Frei­gie­big­keit am Ver­mö­gen, so dass der Herr­scher dann die Unter­ta­nen mit Auf­la­gen und Steu­ern beschwe­ren müsse.

Rationale Elemente in Machiavellis Schrift

In die­sem Kapi­tel erschei­nen ein­zel­ne For­de­run­gen plau­si­bel. Auf die­se Stel­len stütz­ten sich Befür­wor­ter von Machia­vel­lis Schrift in der neu­zeit­li­chen Geschich­te. Aus den sie­ben Kapi­teln über Waf­fen, Festun­gen und Heer­we­sen konn­ten Kriegs­theo­re­ti­ker eben­falls eini­ge ratio­na­le Rat­schlä­ge her­aus­zie­hen – etwa Clau­se­witz. Auch zu bestimm­ten Fol­ge­run­gen in Max Webers Schrift „Poli­tik als Beruf wer­den Lini­en aus Il prin­ci­pe gezo­gen, wobei des­sen Gesamt­kon­zept der poli­ti­schen Ver­ant­wor­tungs­ethik dem Grund­an­satz von Machia­vel­li eher widerspricht.

„Il principe“ war als Wiedergeburt der Antike eine amoralische Missgeburt

Ins­ge­samt über­wiegt aber die Kri­tik an dem Ansatz von Il prin­ci­pe. Schon ita­lie­ni­schen Zeit­ge­nos­sen des Autors fiel auf, dass Machia­vel­li sich vor­wie­gend auf die schlech­te­ren Herr­scher der Anti­ke bezieht und von den grau­sam­sten Kriegs­her­ren und macht­gie­rig­sten Sena­to­ren ler­nen will. Das waren die Über­lie­fe­run­gen aus der grie­chisch-römi­schen Anti­ke, die das christ­li­che Euro­pa bis dato kri­tisch kom­men­tiert bzw. aus­ge­schie­den und über­wun­den hat­te. In der Schrift Il prin­ci­pe jeden­falls war die Wie­der­ge­burt der Anti­ke eine amo­ra­li­sche Miss­ge­burt. Sie soll­te in der gesam­ten Neu­zeit ihre häss­li­che Frat­ze zei­ti­gen und – schlim­mer noch – eine blu­ti­ge Spur von auto­ri­tä­ren Macht- und Gewalt­ex­zes­sen entfalten.

Denn in der Gesamt­be­wer­tung bleibt als kri­ti­sches Resü­mee festzuhalten:

Als Wert­maß­stab für poli­ti­sches Han­deln von Macht­be­stre­bun­gen und Herr­schafts­si­che­rung ersetzt Machia­vel­li die klas­si­sche Ethik des Natur­rechts und der fürst­li­chen Tugend­leh­re durch die ethisch nicht ein­ge­schränk­ten Prin­zi­pi­en der instru­men­tel­len Ver­nunft zur Macht­er­obe­rung und Machtsicherung.

Die ‚Staatsraison‘ rechtfertigt jedes Mittel – unabhängig von ethischen Prinzipien

Was zum Ende des 16. Jahr­hun­derts als Staats­rai­son auf den Begriff gebracht wur­de, hat­te Machia­vel­li grund­ge­legt. Des­sen Ansät­ze erkennt man unschwer in der fol­gen­den Defi­ni­ti­on wie­der, aller­dings mit der Ver­schie­bung von per­sön­li­cher Für­sten­herr­schaft auf insti­tu­tio­nell-staat­li­che Herr­schaft: „Staats­rai­son ist ein Prin­zip, das die Inter­es­sen des Staa­tes über alle ande­ren (par­ti­ku­la­ren oder indi­vi­du­el­len) Inter­es­sen stellt. Nach die­sem abso­lu­ti­sti­schen bzw. obrig­keits­staat­li­chen Prin­zip ist die Erhal­tung der Macht, die Ein­heit und das Über­le­ben des Staa­tes ein Wert an sich und recht­fer­tigt letzt­lich den Ein­satz aller Mit­tel, unab­hän­gig von Moral oder Gesetz.“ So heißt es im Poli­tik­le­xi­kon 5 von 2011.

In die­ser poli­ti­schen Kon­zep­ti­on steht der Staat über allen ethi­schen Prin­zi­pi­en, er nimmt als „sterb­li­cher Gott“ (Tho­mas Hob­bes) die Stel­le ein, selbst die mora­li­schen Geset­ze aus­zu­ge­ben und durch­zu­set­zen. Der abso­lu­ti­sti­sche Sou­ve­rän erkennt kei­nen Gerichts­hof über sich an. Des Wei­te­ren steht die Staats­rai­son prin­zi­pi­ell über allen Inter­es­sen der Ein­zel­men­schen und ein­zel­ner Bevöl­ke­rungs­grup­pen. In dem Begriff Unter­tan kommt zum Aus­druck, dass es gegen­über dem abso­lu­ti­sti­schen Staat – und neben der Staats­rai­son – kei­ne Bür­ger- und Men­schen­rech­te geben kann, die der staat­li­chen Ein­griffs­po­li­tik Schran­ken setzen.

Im 18. Jahr­hun­dert, dem Zeit­al­ter der (instru­men­tel­len) Ver­nunft, wur­den die klas­si­schen gewalt­be­schrän­ken­den Ethik­re­geln zu den Kriegs­be­din­gun­gen in ihr machia­vel­li­sti­sches Gegen­teil umge­formt zu einem ‚frei­en Recht auf Krieg­füh­rung‘ (liber­um jus ad bel­lum). Damit gab man selbst Angriffs­krie­gen den Schein einer grund­sätz­lich legi­ti­men „Fort­set­zung der Poli­tik mit ande­ren Mit­teln“ (Clau­se­witz).

Machia­vel­lis Rat­schlag, als siche­res Mit­tel der Herr­schafts­si­che­rung gege­be­nen­falls poli­ti­sche Fein­de umbrin­gen zu las­sen, auf­müp­fi­ge Städ­te und Repu­bli­ken zu zer­stö­ren und geg­ne­ri­sche Volk­grup­pen zu ver­nich­ten, ist in den impe­ria­li­sti­schen und tota­li­tä­ren Staa­ten der Neu­zeit eben­falls syste­ma­tisch ange­wandt und aus­ge­baut wor­den. Dafür gab der jako­bi­ni­sche Ter­ror­staat die Blau­pau­se ab mit sei­nen Depor­ta­tio­nen von Zehn­tau­sen­den Kle­ri­kern und Staats­fein­den, den 50.000 poli­ti­schen Hin­rich­tun­gen sowie dem Ver­nich­tungs­krieg gegen Hun­dert­tau­sen­de Katho­li­ken in der Vendée.

Für die tota­li­tä­ren Dik­ta­tu­ren des 20. Jahr­hun­derts hat­te der Machia­vel­lis­mus grund­le­gen­de Bedeu­tung. Tref­fen­des schrieb der Schrift­stel­ler Arthur Koest­ler dar­über als Ken­ner des sta­li­ni­sti­schen Kom­mu­nis­mus auf­grund sei­ner Mit­glied­schaft in der KP. In sei­nem Buch Son­nen­fin­ster­nis (1940) ließ er einen hohen KP-Funk­tio­när sagen: „An den kri­ti­schen Wen­de­punk­ten der Geschich­te ist kei­ne ande­re als die alte Regel mög­lich, dass der Zweck die Mit­tel hei­li­ge. Wir haben den Neo-Machia­vel­lis­mus in die­ses Jahr­hun­dert ein­ge­führt; die ande­ren, die kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Dik­ta­tu­ren sind plum­pe Kopien. Wir waren die Neo-Machia­vel­li­sten im Namen der uni­ver­sa­len Ver­nunft – die ande­ren im Namen der natio­na­len Romantik.“

Für den Sowjet­herr­scher Sta­lin gehör­te die Ukrai­ne mit ihrem Bestre­ben zur kul­tu­rel­len und natio­na­len Selbst­be­haup­tung zu jenen Repu­bli­ken, zu denen Machia­vel­li den Rat­schlag gege­ben hat­te, sol­che Ein­hei­ten mit allen ver­füg­ba­ren Mit­teln zu zerstören.

Zwar muss­ten die Bol­sche­wi­ki die nach der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on aus­ge­ru­fe­nen unab­hän­gi­gen Rand­staa­ten des zer­fal­le­nen Zaren­rei­ches vor­erst im Föde­ra­ti­ons­ver­trag der Sowjet­re­pu­bli­ken von 1922 aner­ken­nen, frei­lich schon damals unter der Herr­schaft der zen­tra­li­sti­schen Struk­tur der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei. Aber bald nach Lenins Tod begann Sta­lin mit einer Ver­däch­ti­gungs­kam­pa­gne gegen „bür­ger­li­chen Natio­na­lis­mus“ gezielt die kul­tu­rel­len Eigen­stän­dig­keits­be­stre­bun­gen mit aller Gewalt zu unter­drücken. In der Ukrai­ne wur­den seit Mit­te der 20er Jah­re 10.000 ortho­do­xe Kle­ri­ker ermor­det und mehr als 100.000 Intel­lek­tu­el­le und Kul­tur­schaf­fen­de nach Sibi­ri­en depor­tiert. Als sich Ende der 20er Jah­re die Kula­ken der sowje­ti­schen Zwangs­kol­lek­ti­vie­rung und rus­si­fi­zie­ren­den Umer­zie­hung wider­setz­ten, wur­den die Straf­ak­tio­nen und Depor­ta­tio­nen auf die Mit­tel­bau­ern aus­ge­wei­tet. Die Ter­ror­po­li­tik Sta­lins, spä­ter als Tötung durch Hun­ger – ‚Holo­do­mor‘ – bezeich­net, führ­te in der Ukrai­ne zu drei Mil­lio­nen Opfern, mehr als in allen ande­ren Lan­des­tei­len der Sowjet­uni­on mit nicht-rus­si­schen Völ­kern. Arthur Koest­ler war Zeu­ge die­ser geno­zi­da­len Unter­drückungs­po­li­tik, die von west­li­chen Jour­na­li­sten und Schrift­stel­lern viel­fach schön­ge­re­det oder gar ver­leug­net wurde.

Die Säu­be­rungs­ak­tio­nen von 1937/​38, Sta­lins Gro­ßer Ter­ror genannt, bestan­den nur zum Teil aus Par­tei- und Mili­tär­säu­be­run­gen. Timo­thy Sny­der, der Autor des Buches Blood­lands, lei­tet sein zwei­tes Kapi­tel mit dem Satz ein: „Sta­lin war ein Pio­nier des eth­ni­schen Mas­sen­mor­des“, haupt­säch­lich an polen­stäm­mi­gen und ukrai­ni­schen Sowjetbürgern.

Der rus­si­sche Prä­si­dent Wla­di­mir Putin ver­tei­digt die groß­rus­si­sche Hege­mo­ni­al- und Kriegs­po­li­tik Sta­lins. Er nennt die Natio­na­li­tä­ten­po­li­tik der frü­hen Sowjet­uni­on einen „schlim­men Feh­ler“, ins­be­son­de­re dass Lenin die Ukrai­ne vom alten Russ­land abge­trennt und ihr eine eige­ne Staat­lich­keit geschenkt habe.

Putin per­sön­lich hat in zwei Auf­sät­zen in den letz­ten Jah­ren den Ukrai­ne­krieg ideo­lo­gisch vor­be­rei­tet. Er recht­fer­tigt dar­in die rus­sisch-sowje­ti­sche Ein­fluss­sphä­ren­po­li­tik des Hit­ler-Sta­lin-Pak­tes sowie die Ober­herr­schaft Russ­lands über die Ukrai­ne als neu­rus­si­sches „Bru­der­volk“, dem er kein Recht auf eige­ne Spra­che, Kul­tur und Nati­on­bil­dung zuge­steht. Sofern sich Poli­ti­ker und Zivi­li­sten dem rus­si­schen Herr­schafts­an­spruch wider­setz­ten, sei­en sie Faschi­sten und als sol­che zu vernichten.

Putins Krieg gegen die unab­hän­gi­ge Ukrai­ne und sein Kampf gegen die dor­ti­ge Zivil­be­völ­ke­rung ste­hen in der unter­drücke­ri­schen Tra­di­ti­on des sta­li­ni­sti­schen Sowjet­im­pe­ria­lis­mus. Auf lan­ge Sicht sind sie eine spä­te Frucht der amo­ra­li­schen Herr­schafts­si­che­rungs­re­geln von Machia­vel­li, der den Rat­schlag gege­ben hat­te, wider­stän­di­ge Repu­bli­ken gege­be­nen­falls zu zer­stö­ren und geg­ne­ri­sche Volk­grup­pen zu vernichten.

Bild: Wiki­com­mons

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3 Kommentare

  1. Dan­ke für die­sen exzel­len­ten Aus­flug in die Geschich­te und detail­lier­te Dar­stel­lung der Zusammenhänge…!

  2. So ein­fach ist der Ukrai­ne­krieg im Lich­te der Leh­re vom gerech­ten Krieg nicht zu beur­tei­len. Aus rus­si­scher Sicht stellt sich der Kon­flikt so dar: Auf dem Stats­ge­biet der Ukrai­ne haben sich rus­si­sche Repu­bli­ken als sou­ve­rän erklärt, weil sie als eth­ni­sche Min­der­heit in der Ukrai­ne dis­kri­mi­niert, nicht mehr im Ukrai­ni­schen Staat leben woll­ten. Ruß­land erkann­te die­se Repu­bli­ken an, die Ukrai­ne sah es als ihr Recht an, sie durch mili­tä­ri­sche Gewalt in den Staat zu reinte­grie­ren. Seit dem herrscht Krieg in der Ukrai­ne zwi­schen der Ukrai­ne und die­sen Repu­bli­ken. Die­se nun baten im letz­ten Jahr Ruß­land um eine mili­tä­ri­sche Hil­fe wider die ukrai­ni­sche Aggres­si­on. Die ist aus rus­si­scher Sicht legi­tim, da sie die­se neu­ge­grü­de­ten Staa­ten aner­kannt hat. Aus ukrai­ni­scher Sicht aber ist das eine uner­laub­te Ein­mi­schung in eine inne­rukrai­ni­sche Ange­le­gen­heit, da die Ukrai­ne das Recht habe, Krieg gegen die Sepa­ra­ti­sten zu füh­ren. Das Haupt­pro­blem liegt in der Fra­ge der Rech­te natio­na­ler Min­der­hei­ten: Dür­fen die sich aus einem Staats­ge­biet los­lö­sen, wenn sie in ihm sich dis­kri­mi­niert sehen! Darf die Ukrai­ne Krieg gegen die sepe­ra­ti­sti­schen Pro­vin­zen füh­ren und durf­ten die Pro­vin­zen eine rus­si­sche Mili­tär­hil­fe gegen die Ukrai­ne erbit­ten? Das sind nicht leicht respon­dier­ba­re Fragen.

    • Es gibt hier Unterschiede.
      Der Westen aner­kennt sehr wohl sepa­ra­ti­sti­sche Bewegungen.
      (Sie­he das Koso­vo im Jugo­sla­wi­e­krieg – Koso­vo woll­te sich von Ser­bi­en lösen,
      was auch mit Hil­fe des Westens gesche­hen ist)
      In der Ukrai­ne ist das natür­lich was ande­res, obwohl seit 2014 der Donbass
      von der ukrai­ni­schen Armee beschos­sen wurde.
      Es wird im Westen also mit zwei­er­lei Maß gemessen.
      Die Kata­lo­nen woll­ten sich auch vom spa­ni­schen Staat lösen.
      Dies wur­de vom spa­ni­schen Staat mit ille­ga­len Mit­teln unterbunden.
      Also, alles in Ordnung.

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