Der „Große Krieg“ und das „Wunder an der Weichsel“


Polnische Soldaten bei Warschau 1920
Polnische Soldaten bei Warschau 1920

Von Rober­to de Mattei*

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1914 befand sich Euro­pa in der ruhi­gen Üppig­keit der Bel­le Épo­que und ver­trau­te noch auf den strah­len­den Fort­schritt der Mensch­heit. Wer hät­te gedacht, daß die Ermor­dung des öster­rei­chi­schen Erz­her­zogs Franz Fer­di­nand in Sara­je­wo eine Ära des Todes und der Zer­stö­rung auf glo­ba­ler Ebe­ne ein­läu­ten wür­de? Doch nach der Ermor­dung des öster­rei­chisch-unga­ri­schen Thron­fol­gers am 28. Juni 1914 stürz­te Euro­pa inner­halb eines Monats in eine gewal­ti­ge Kata­stro­phe. Eine unauf­halt­sa­me Dyna­mik riß die Prot­ago­ni­sten des Kon­flikts in den Krieg. Am Ende die­ses Wel­ten­bran­des waren neun Mil­lio­nen Män­ner gefallen.

Der hei­li­ge Pius X., der die Kir­che seit 1903 regier­te, hat­te den Aus­bruch des Ersten Welt­kriegs lan­ge vor dem Aus­bruch des Sturms in Euro­pa wie­der­holt vor­aus­ge­sagt. „Die Din­ge ste­hen schlecht“, sag­te er oft, „der Gro­ße Krieg kommt, der ‚Guer­ro­ne‘!“ Er litt unter dem Gemet­zel, vor allem aber wegen der gei­sti­gen und mora­li­schen Umwäl­zung, die der Krieg mit sich brin­gen wür­de. Der Papst hat­te einen gro­ßen Plan für die reli­giö­se Rück­erobe­rung der Gesell­schaft, den er mit sei­nem Kate­chis­mus und der Ver­brei­tung der häu­fi­gen Kom­mu­ni­on, sogar für Kin­der, begon­nen hat­te. Die­ser Plan wur­de zum Teil durch den Ersten Welt­krieg durch­kreuzt, in dem die 1898 und 1899 gebo­re­nen „Jun­gen“, die unter sei­nem Pon­ti­fi­kat auf­ge­wach­sen waren und ganz jung zu den Waf­fen geru­fen wur­den, ihr Blut auf den Schlacht­fel­dern vergossen.

Der Erste Welt­krieg war der erste Krieg, der von einem erbit­ter­ten ideo­lo­gi­schen Haß zwi­schen den Kriegs­par­tei­en getra­gen wur­de. Die katho­li­sche Welt selbst wur­de durch inter­ne Pole­mi­ken zer­rüt­tet. In Ita­li­en waren die Katho­li­ken zwi­schen den Neu­tra­li­sten und den Inter­ven­tio­ni­sten gespal­ten, und letz­te­re wie­der­um zwi­schen den Anhän­gern des „Drei­bun­des“, zu dem Ita­li­en mit Öster­reich-Ungarn und dem Deut­schen Reich gehör­te, und den Anhän­gern der „Tri­ple Entente“, zu der Frank­reich, Ruß­land und Eng­land gehörten.

Deut­sche, öster­rei­chi­sche, ita­lie­ni­sche, fran­zö­si­sche und bri­ti­sche Katho­li­ken stan­den sich auf den Schlacht­fel­dern gegen­über. Es war eine gro­ße Tra­gö­die, aber die Katho­li­ken taten ihre Pflicht als gute Sol­da­ten und ver­such­ten, die Haß­ge­füh­le, die ihnen die Pro­pa­gan­da ein­flöß­te, durch das Mit­leid zu über­win­den, das sie für einen Feind emp­fan­den, dem sie den Tod gaben oder von dem sie ihn empfingen.

Pius X. starb vol­ler Trau­er am 20. August 1914, wäh­rend in Euro­pa die Kano­nen don­nern. Sein Nach­fol­ger, Kar­di­nal Gia­co­mo Del­la Chie­sa, wur­de am 3. Sep­tem­ber gewählt und erhielt den Namen Bene­dikt XV. Wie Pius X. sah auch Bene­dikt XV. die tie­fe­ren Grün­de für den Krieg in der mora­li­schen Unord­nung, aber da er der „poli­ti­schen“ Schu­le Leos XIII. ange­hör­te, glaub­te er, daß die Waf­fen der Diplo­ma­tie den Kon­flikt been­den könn­ten. Sein wich­tig­ster diplo­ma­ti­scher Akt war die am 1. August 1917 an die Füh­rer der krieg­füh­ren­den Mäch­te gesand­te Exhorta­ti­on Dès le début, in der er sie zur Auf­nah­me von Frie­dens­ver­hand­lun­gen auf­for­der­te, um dem „sinn­lo­sen Gemet­zel“ ein Ende zu set­zen. Zu die­sem Zweck schlug der Papst die Ver­mitt­lungs­tä­tig­keit des Hei­li­gen Stuhls vor, um die mate­ri­el­le Kraft der Waf­fen durch die mora­li­sche Kraft des Rechts zu erset­zen. „Daher eine gerech­te Über­ein­kunft aller in der gleich­zei­ti­gen und gegen­sei­ti­gen Ver­rin­ge­rung der Rüstun­gen nach fest­zu­le­gen­den Nor­men und Garan­tien, in dem Maß, das not­wen­dig und aus­rei­chend ist, um die öffent­li­che Ord­nung in den ein­zel­nen Staa­ten auf­recht­zu­er­hal­ten; und anstel­le der Waf­fen die Insti­tu­ti­on der Schieds­ge­richts­bar­keit mit ihrer hohen Befrie­dungs­funk­ti­on, nach den zu ver­ein­ba­ren­den Nor­men und der zu ver­ein­ba­ren­den Sank­ti­on gegen den Staat, der sich wei­gert, inter­na­tio­na­le Fra­gen dem Schieds­rich­ter zu unter­brei­ten oder sei­ne Ent­schei­dung zu akzep­tie­ren.

Der Vor­schlag stieß auf tau­be Ohren. Im sel­ben Jahr 1917 erschien die Got­tes­mut­ter in Fati­ma in Por­tu­gal, in einem vom Krieg ver­schon­ten Teil Euro­pas, zwi­schen Mai und Okto­ber drei Hir­ten­kin­dern und offen­bar­te ihnen, daß die Ursa­che des Krie­ges die Sün­den der Mensch­heit und daß die ein­zi­gen Mit­tel, um Frie­den in der Welt zu errei­chen, Gebet und Buße sei­en. Die Got­tes­mut­ter bat den Papst auch, Ruß­land dem Unbe­fleck­ten Her­zen Mari­ens zu wei­hen und die Ver­brei­tung der Andacht der Herz-Mariä-Süh­ne­sams­ta­ge an den ersten Sams­ta­gen des Monats zu för­dern. Der Welt­krieg ende­te, aber er öff­ne­te den Weg für die Tota­li­ta­ris­men des 20. Jahr­hun­derts und einen zwei­ten Krieg, der noch schreck­li­cher war als der vor­he­ri­ge. Ruß­land ver­brei­te­te, wie die Got­tes­mut­ter in Fati­ma ange­kün­digt hat­te, sei­ne Irr­tü­mer in der gan­zen Welt. Schwe­ster Lucia, die ein­zi­ge Über­le­ben­de der drei Hir­ten­kin­der, ging in das Klo­ster und erhielt wei­te­re himm­li­sche Bot­schaf­ten, in denen die hei­li­ge Jung­frau ihre Bit­ten erneu­er­te, um wei­te­re Gei­ßeln abzu­wen­den. Die Wei­he­ak­te und das Anver­trau­en Ruß­lands durch Pius XII. im Jahr 1942 und Johan­nes Paul II. im Jahr 1984 ent­spra­chen nur teil­wei­se den Bit­ten der Got­tes­mut­ter, und so waren auch die Ergeb­nis­se nur par­ti­ell: die Ver­kür­zung des Zwei­ten Welt­kriegs und der Fall der Ber­li­ner Mau­er, was jedoch nicht das Ende des Kom­mu­nis­mus bedeu­te­te. Die Wei­he Ruß­lands und der Ukrai­ne an das Unbe­fleck­te Herz Mari­ens, die Papst Fran­zis­kus am 25. März 2022 vor­nahm, scheint gül­tig gewe­sen zu sein, aber sie wur­de nicht von einem Auf­ruf zur Buße und zur Ver­brei­tung der Süh­ne­sams­ta­ge beglei­tet. Eini­ge Wir­kun­gen blie­ben jedoch nicht aus.

In sei­ner Video­an­spra­che am 13. Mai 2023 auf der Kon­fe­renz der Lepan­to-Stif­tung sag­te Sei­ne Selig­keit Swja­to­slaw Schewtschuk, Groß­erz­bi­schof der ukrai­ni­schen grie­chisch-katho­li­schen Kir­che, daß sein Volk seit Beginn der rus­si­schen Inva­si­on die Schirm­herr­schaft der hei­li­gen Jung­frau Maria und ihres Unbe­fleck­ten Her­zens erfah­ren habe. „Als rus­si­sche Trup­pen am 25. März 2022 die Stadt Kiew bela­ger­ten, prak­tisch nur weni­ge Dut­zend Kilo­me­ter von unse­rer Kathe­dra­le ent­fernt, weih­te der Hei­li­ge Vater Fran­zis­kus die Ukrai­ne und Ruß­land dem Unbe­fleck­ten Her­zen Mari­ens. Weni­ge Tage spä­ter ver­trieb die ukrai­ni­sche Armee die rus­si­sche Armee aus unse­rer Haupt­stadt. Ich möch­te dies als das ‚Wun­der am Dnjepr’ bezeich­nen und es mit einem ähn­li­chen histo­ri­schen Ereig­nis vom 16. August 1920 ver­glei­chen, näm­lich der Schlacht bei War­schau. Genau die­se Schlacht spiel­te eine ent­schei­den­de Rol­le im pol­nisch-bol­sche­wi­sti­schen Krieg. Der außer­ge­wöhn­li­che Zeu­ge des­sen, was von einem der Prot­ago­ni­sten, Gene­ral Hal­ler, als ‚Wun­der an der Weich­sel‘ bezeich­net wur­de, war der Apo­sto­li­sche Nun­ti­us in Polen, Achi­le Rat­ti, der spä­te­re Pius XI: einer der weni­gen Diplo­ma­ten, die die pol­ni­sche Haupt­stadt ange­sichts der vor­rücken­den Roten Armee nicht im Stich ließen.“

Am 10. März 1920 fand in Smo­lensk ein Tref­fen der Füh­rer der Roten Armee statt, bei dem der Angriff auf Polen und die Inva­si­on West­eu­ro­pas beschlos­sen wur­de. Nun­ti­us Achil­le Rat­ti, der Bene­dikt XV. ver­trat, ver­ließ War­schau trotz der ern­sten Bedro­hung nicht: Er nahm an den Gebe­ten teil, die wäh­rend der Schlacht orga­ni­siert wur­den, und begab sich an die Front­li­nie. Als er 1922 unter dem Namen Pius XI. Papst wur­de, ließ er die päpst­li­che Kapel­le in Castel Gan­dol­fo mit einem Gemäl­de des Wun­ders an der Weich­sel schmücken, auf dem Pater Igna­cy Sko­rup­ka, Kaplan eines Infan­te­rie­re­gi­ments, in der Sou­ta­ne und mit dem Kreuz als ein­zi­ger Waf­fe in der Hand dar­ge­stellt ist, wie er die jun­gen Frei­wil­li­gen zum Gegen­an­griff führt und dabei tap­fer den Tod fin­det. Das Wun­der an der Weich­sel hat nicht nur Polen, son­dern den gesam­ten Westen geret­tet und Est­land, Lett­land und Litau­en die Unab­hän­gig­keit gebracht. Heu­te ist der Westen immer noch bedroht, ein neu­er „Krieg“ steht vor der Tür, und das Leid, das Pius X. ertra­gen muß­te, muß auch das unse­re sein. Die Ver­ant­wor­tung für die her­an­na­hen­de Kata­stro­phe liegt in erster Linie bei den Sün­den und der Untreue des christ­li­chen Abend­lan­des. Aber wenn der Krieg immer eine Stra­fe ist, bleibt es die Pflicht der Katho­li­ken, ihre Natio­nen und ihre Zivi­li­sa­ti­on mutig zu ver­tei­di­gen, wie es an der Weich­sel geschah, und die Got­tes­mut­ter zu bit­ten, die Zei­ten des Lei­dens zu ver­kür­zen und die des Tri­umphs ihres Unbe­fleck­ten Her­zens zu beschleunigen.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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