Ratzinger: „Abtreibung kann nicht mit der Todesstrafe verglichen werden“

Auch Päpste sollten mit spontanen Stellungnahmen vorsichtig sein


Kardinal Joseph Ratzinger im Escorial (Madrid) bei einem Kurs über den damals neu erschienenen Katechismus der katholischen Kirche.
Kardinal Joseph Ratzinger im Escorial (Madrid) bei einem Kurs über den damals neu erschienenen Katechismus der katholischen Kirche.

Für den demo­kra­ti­schen Sena­tor Dick Dur­bin, bekannt für sei­ne radi­ka­le Abtrei­bungs- und Homo-Posi­ti­on, war ursprüng­lich eine Zere­mo­nie zur Ver­lei­hung eines Prei­ses für sein „Lebens­werk“ vor­ge­se­hen, die von Kar­di­nal Bla­se Cupich, Erz­bi­schof von Chi­ca­go, durch­ge­führt wer­den soll­te. Die­se Ankün­di­gung löste hef­ti­ge Kon­tro­ver­sen unter Katho­li­ken aus. Leo XIV. trug mit einer spon­ta­nen Ant­wort auf eine Jour­na­li­sten­fra­ge nicht zur Klä­rung der Fra­ge bei, son­dern sorg­te durch eine Ver­men­gung von Abtrei­bung und Todes­stra­fe für Ver­wir­rung. Eine kla­re Ori­en­tie­rung gab hin­ge­gen Kar­di­nal Joseph Ratz­in­ger, der spä­te­re Papst Bene­dikt XVI., im Jahr 1993.

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Schar­fe Kri­tik kam vor allem von ande­ren US-Bischö­fen – zuerst von Bischof Tho­mas Paprocki, der in einem Arti­kel für First Things beton­te, daß die Unter­stüt­zung von Abtrei­bung eine katho­li­sche Ehrung aus­schlie­ße, da sie gegen diö­ze­sa­ne Vor­schrif­ten verstoße.

„Ich war schockiert, als ich erfuhr, daß das Erz­bis­tum Chi­ca­go plant, Sena­tor Richard Dur­bin mit einem Preis für sein Lebens­werk aus­zu­zeich­nen“, sag­te Paprocki am 19. Sep­tem­ber in einer Stel­lung­nah­me auf Anfra­ge von The Pil­lar.

In der Fol­ge schlos­sen sich neun wei­te­re Bischö­fe die­ser Kri­tik an, dar­un­ter auch der Erz­bi­schof von San Fran­cis­co, Sal­va­to­re Cordileone.

Die spon­ta­ne Stel­lung­nah­me von Papst Leo XIV. klang mehr danach, als wol­le er Kar­di­nal Cupich und des­sen Kurs in den USA stüt­zen, indem er von der eigent­li­chen Fra­ge abzu­len­ken ver­such­te, indem er auf die Fra­ge nach der Hal­tung zur Abtrei­bung über die Todes­stra­fe zu spre­chen begann.

Der Vor­fall nährt die Sor­ge, daß Leo XIV. sei­nen Vor­gän­ger Fran­zis­kus dar­in nach­ah­men und Gefal­len an Jour­na­li­sten­ge­sprä­chen fin­den könn­te. Genau davon hat­ten sich die Päp­ste vor 2013 ferngehalten.

Doch zurück zu The­ma: Noch am sel­ben Tag kün­dig­te Sena­tor Dur­bin über­ra­schend an, auf die Annah­me des Prei­ses zu ver­zich­ten – er sei „über­rascht vom Aus­maß der Kon­tro­ver­se“ und wol­le Kar­di­nal Cupich nicht schaden.

Um die Dis­kus­si­on bes­ser zu ver­ste­hen und Ori­en­tie­rung zu bekom­men, erscheint ein Blick auf den 9. Juli 1993 wich­tig, als Kar­di­nal Joseph Ratz­in­ger, damals Prä­fekt der Glau­bens­kon­gre­ga­ti­on, wäh­rend eines inter­na­tio­na­len Kur­ses über den neu­en Kate­chis­mus der Katho­li­schen Kir­che im Escori­al ein Inter­view gab. Dar­in äußer­te er sich zu aktu­el­len mora­li­schen Fra­gen, unter ande­rem zu Abtrei­bung und Todesstrafe.

Nur weni­ge Mona­te zuvor, am 11. Okto­ber 1992, war unter sei­ner Lei­tung und im Auf­trag von Papst Johan­nes Paul II. der neue Kate­chis­mus der Katho­li­schen Kir­che ver­öf­fent­licht worden.

Die Ant­wort von Kar­di­nal Ratz­in­ger, der von 2005 bis 2013 als Bene­dikt XVI. die Kir­che lei­ten soll­te, zeigt, wie er zwi­schen dem nicht ver­han­del­ba­ren Schutz des unschul­di­gen Lebens und legi­ti­men gesell­schaft­li­chen Debat­ten über Straf­ge­rech­tig­keit unter­schei­det. Hier sei­ne Ant­wort in der deut­schen Über­set­zung, die von Kar­di­nal Ger­hard Mül­ler stammt. Die deut­sche Über­set­zung wur­de in der Mün­che­ner theo­lo­gi­schen Zeit­schrift, Jg. 45, Heft 4 (1994), Sei­ten 445–449, veröffentlicht:

Fra­ge: Was ist Ihre per­sön­li­che Mei­nung zur Todes­stra­fe? War­um zeigt sich die Kir­che beim The­ma Abtrei­bung so rigo­ros und bei der Todes­s­stra­fe so »groß­zü­gig«? Ist die Kir­che hier nicht inkonsequent?

Kar­di­nal Ratz­in­ger: Ich möch­te mit der zuletzt gestell­ten Fra­ge begin­nen. Man kann Abtrei­bung nicht mit der Todes­stra­fe ver­glei­chen, als ob es sich hier um das glei­che han­deln wür­de. Bei der Abtrei­bung tötet man offen­sicht­lich eine völ­lig unschul­di­ge Per­son, indem man eige­ne begrenz­te Lebens­zie­le über das Lebens­recht eines ande­ren Men­schen stellt. Ganz anders ver­hält es sich bei der Todes­stra­fe. Sie setzt ein schwe­res Ver­bre­chen vor­aus, das von der Gesell­schaft geahn­det wird. In bezug auf den ersten Teil Ihrer Fra­ge möch­te ich sagen, daß ich per­sön­lich die Abschaf­fung der Todes­stra­fe und die ent­spre­chen­de gesell­schafts­po­li­ti­sche Ziel­set­zung befür­wor­te. Aber so weit will ich nicht gehen, zu sagen, daß sie abso­lut und für immer und unter allen Umstän­den aus­ge­schlos­sen sein muß. Ich den­ke hier an ein so fürch­ter­li­ches Bei­spiel wie Eich­mann und die ande­ren Schwerst­kri­mi­nel­len im Ver­nich­tungs­la­ger Ausch­witz. Kön­nen wir sagen, daß ein Rechts­staat völ­lig im Unrecht ist, wenn über­legt wird, ob sol­che Ver­bre­cher die Todes­stra­fe ver­dient haben? In der kon­kre­ten Poli­tik heu­te wün­sche ich mir die Abschaf­fung der Todes­stra­fe. Aber die­ser per­sön­li­che Wunsch und die­se gemein­ge­sell­schaft­li­che Ziel­set­zung kann sich nicht auf eine Glau­bens­leh­re stüt­zen in dem Sinn, daß die Kir­che zu jeder Zeit und unter allen Umstän­den die Todes­stra­fe für unver­ein­bar mit dem Glau­ben zu erklä­ren und damit zu unter­sa­gen hät­te. Die Fra­ge der Todes­stra­fe ist nicht unmit­tel­bar ein Inhalt oder Gegen­stand des christ­li­chen Glau­bens­be­kennt­nis­ses. Es geht hier um ein Mit­tel der Rechts­pfle­ge im Staat, zu dem man vom Glau­ben und von der Sit­ten­leh­re als Christ und als Kir­che eine Stel­lung­nah­me abge­ben kann. Die For­de­rung eines bedin­gungs­lo­sen und abso­lu­ten Ver­bo­tes der Todes­stra­fe ergibt sich nicht zwin­gend aus dem christ­li­chen Glaubensbekenntnis.

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: MiL

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