
- Ist Jorge Bergoglio ein Stratege? (I)
- Ist Jorge Bergoglio ein Stratege? (II)
- Ist Jorge Bergoglio ein Stratege? (III)
Von Vigilius*
Das Zeitalter des Ausgleichs
Aus den späten 1920er Jahren stammt ein bedeutender Aufsatz des Philosophen Max Scheler, der den Titel „Das Weltalter des Ausgleichs“ trägt.1 Ich erwähne an dieser Stelle den Scheleraufsatz deswegen, weil ich deutlich machen möchte, dass die uns herausfordernde theologische Bewegung der De-Zäsuralisierung keine Kleinigkeit ist, sondern in einem großen und überaus machtvollen Kontext steht, der sich auch in ihr manifestiert. Denn in seiner Schrift prophezeit Scheler die Heraufkunft eines Weltalters, dessen Struktur maßgeblich durch den Ausgleich der bisherigen Gegensätze – der verschiedenen Rassen, von Kapitalismus und Sozialismus, körperlicher und geistiger Arbeit, männlicher und weiblicher Geistesart sowie der verschiedenen Nationen und Kulturkreise mit ihren unterschiedlichen Auffassungen von Mensch, Welt und Gott – bestimmt sein wird.
Eine globale Welt ist nach Scheler also im Entstehen, in der an die Stelle des alten Weltalters mit seinen Spannungsgefügen und Differenzsetzungen die Parameter der umgreifenden Einheit, Vernetzung, Harmonie und Gleichheit treten. Diese weltumspannende Entwicklung wird auch die Religionen massiv betreffen, die sich im Zuge des Ausgleichs viel stärker wechselseitig durchdringen und damit ihre klassischen Profile relativieren werden.
Als ich diesen Text das erste Mal las, war es mir, als ob ich ein Déjà-vu hätte. Denn der von Scheler beschriebene Geist des Ausgleichs, der das neue Weltalter bestimmt, war mir bereits geläufig, nur unter der etwas abgewandelten Bezeichnung „Der Geist des Konzils“. Dieser Geist, der von der linken Revolutionsgarde permanent bemüht wird, durchwirkt das Konzil in der Tat zuinnerst. Es ist meines Erachtens im Wesentlichen dem Bedürfnis des rechten Revolutionsflügels nach Selbstabsolution geschuldet, dass er diesen „Geist des Konzils“ zu einer Erfindung der Linken erklärt und sich mit der „Hermeneutik der Kontinuität“ blind macht für die Unversöhnlichkeit von Widersprüchen, an deren Produktion er selber beteiligt ist.
Man darf sich von der signifikanten Vehemenz nicht beeindrucken lassen, mit der die Ratzingerianer die „Hermeneutik der Kontinuität“ zu einem sakrosankten Dogma erklären. Denn es ist in Wahrheit ziemlich leicht erkennbar, wie sich der Geist des neuen Weltalters auch der theologischen De-Zäsuralisierungsbewegung, dem letzten Konzil sowie den Konzils- und Nachkonzilspäpsten zuinnerst eingeprägt hat. Am schamlosesten stellt sich allerdings das bergoglianische Pontifikat in den Dienst des „Weltalters des Ausgleichs“. Hier liegt auch der Grund für die Allianz, die Bergoglio mit den globalistischen Eliten eingegangen ist. Damit radikalisiert sich in diesem Pontifikat jedoch nur, was in der kirchlichen Vorgeschichte bereits angelegt ist. In Bergoglio kommt jene Revolution der Denkungsart vollends zu sich, die in ihrer philosophischen Substanz darin besteht, einen neuen Identitätsbegriff zu etablieren. Dieser Begriff versteht das, was das klassische Identitätsverständnis als logisch nicht integrierbar betrachtet, als inneres Moment der Identität selber. In all seinen Spielarten geht es diesem Identitätsbegriff um die letztendliche Verflüssigung aller Differenzen.
Dass dieser neue Identitätsbegriff das bergoglianische Pontifikat definiert, wird vorzüglich durch die letztjährige Synodalitätssynode und deren Vorbereitungszeit sichtbar. Ich werde mich im Folgenden, verehrter Wanderer, auf Ihren bedeutenden Essay „Die große Umkehrung“ beziehen, in dem die fragliche Synode eine prominente Rolle spielt. Der Essay thematisiert vor allem zwei Texte, nämlich eine kleine biblische Exegese des Jesuiten Pater Spadaro und das erste Vorbereitungsdokument für die Synode. Zuerst zu Spadaro SJ.
Dessen Text interpretiert die Episode aus dem Matthäusevangelium 7, 24–30, in der eine kanaanäische Frau Jesus für ihre Tochter um Hilfe bittet, die von einem Dämon geplagt wird. Jesus weist das Anliegen der heidnischen Frau zunächst mit den Hinweis ab, er sei nur zu den verlorenen Schafen Israels gesandt. Da die Frau sich aber nicht abweisen lässt, sondern dem Herrn vielmehr ihren großen Glauben zeigt, erbarmt sich Jesus schließlich und erfüllt ihre Bitte. Es ist leicht erkennbar, was die Aussageabsicht des biblischen Textes ist: Es geht um eine Theologie des Glaubens, darum, dass die Erfüllung unserer Bitten entscheidenderweise vom Erweis des Vertrauens abhängig ist, das Christus entgegengebracht wird. Korrelierend werden im Neuen Testament die Angehörigen des eigenen Volkes von Jesus wegen ihres mangelnden Glaubens ständig scharf kritisiert; ihnen werden die Heilsakte gerade verweigert.
Was macht Pater Spadaro SJ aus dieser Perikope? Sie wird ihm zu einem Lehrstück der Bekehrung Jesu selber. Erst die kanaanäische Frau, also die Nicht-Dazugehörende, erweicht den hartherzigen Herrn. Er wird durch die Heidin von der ausgrenzenden Starrheit seiner Rechtgläubigkeit zur authentisch religiösen Haltung der Inklusion und zu zärtlicher Menschlichkeit befreit. Im Koordinatensystem des vorhin skizzierten neuen Identitätsbegriffs, der für Spadaro offensichtlich leitend ist, lässt sich die bei Jesus zunächst antreffbare moralisch schlechte Position als das Beharren auf einer unflexiblen Identität beschreiben. Dieses Identitätsverständnis begreift das Fremde noch nicht als das in Wahrheit immer schon Dazugehörige, als das, was die Identität überhaupt erst zu sich selbst bringt.
Diese Erläuterung Spadaros entspricht nun präzise den Aussagen des Vorbereitungsdokumentes der Synodalitätssynode, die zur Gänze die praktische Realisation des geschilderten neuen Identitätsbegriffs ist. In diesem Dokument ist zwar nicht von der Bekehrung Jesu, aber ebenfalls im Bezug auf biblische Dialoge davon die Rede, dass zum heilenden Gespräch Jesu mit den unverzichtbaren Anderen sich unversehens der Widersacher hinzuschleicht. Er ist der teuflische Feind, der vom Dokument als jener rechtgläubigkeitsfanatische Rigorist dechiffriert wird, der mit seinem alten Identitätsverständnis den fruchtbaren Dialog unterbinden will. Das Dokument kennt also zwei Klassen von „Anderen“. Zum einen kennt es „Andere“, die die kirchlich Fremden oder Entfremdeten, auf jeden Fall analog zur kanaanäische Frau irgendwie die Außenstehenden, jedoch gerade deswegen die Dazugehörigen und Bereichernden sind. Und zum anderen identifiziert es jene anderen „Anderen“, die zwar formal dazugehören, aber in der Sache die böse Gruppe der wahren Glaubensfeinde bilden: „die „Antagonisten“, die „Dämonen“ der neuen Kirche sind wir, die Katholiken, die der Lehre der Apostel treu sind, die wir von unseren Vätern gelehrt wurden. Wir sind es, die gekommen sind, um zu spalten und den Dialog zwischen der Kirche und der Welt zu behindern. Wir sind Teufel, und als solche müssen wir verfolgt werden. (…) Dies ist die große Umkehrung. Die Wahrheit ist nicht mehr in der Kirche Christi, sie ist außerhalb von ihr. Sie muss nicht mehr diejenige sein, die lehrt, sondern diejenige, die sich belehren lässt. Sie ist nicht mehr diejenige, die heilt, sondern diejenige, die geheilt werden muss.“2
Es ist verständlich, dass diese Umkehrung auf viele Gläubige äußerst verstörend, ja verrückt wirkt. Gleichwohl liegt präzise hier die Pointe des großen geschichtlichen Bogens, von dem ich sprach. Das Weltalter des Ausgleichs bringt nämlich eine eigene Moral, die Moral des Ausgleichs hervor: Gut ist all das, was der Synthese, der Gleichheit und Einigung, der integrativen Geschwisterlichkeit und Förderung der Übereinstimmung, der Inklusion dient. Böse ist hingegen all das, was sowohl Zäsuren und Unterschiede formuliert als auch hervorhebt, dass es logisch unversöhnbare, nicht in eine umgreifende Einheit aufhebbare substantielle Differenzen gibt. Böse ist das „Anathema“ der vormaligen Kirche, das heute nur noch von denen reklamiert wird, die sich nach wie vor in jenem unmoralischen Zustand befinden, in dem sich Jesus nach der Lesart des Pater Spadaro SJ vor seiner Bekehrung durch die kanaanäische Frau befunden hat. Entsprechend schreibt Papst Bergoglio an den neu ernannten Präfekten des Glaubensdikasteriums: „Das Dikasterium, dem Sie vorstehen werden, hat in anderen Zeiten unmoralische Methoden angewandt. Das waren Zeiten, in denen man, anstatt theologische Erkenntnisse zu fördern, mögliche Irrtümer in der Lehre verfolgte. Was ich von Ihnen erwarte, ist sicherlich etwas ganz anderes.“3
Das bergoglianische Pontifikat betreibt – nicht zuletzt über personalpolitische Weichenstellungen – die kirchliche Verankerung der Moral des Ausgleichs mit großer Vehemenz. Insofern lässt sich kaum bestreiten, dass Bergoglio ein Stratege ist. Und wer könnte leugnen, dass dieses Projekt in der Kirche bereits gut vorangekommen ist? Wer heute noch das Assisi-Ereignis, die Amazonassynode oder das Dokument von Abu Dhabi zu kritisieren wagt, wer noch immer von konfessionsverschiedenen und nicht von konfessionsverbindenden Ehen spricht, wer überhaupt den Ökumenismus in seinen vielfältigen Erscheinungsweisen problematisiert und darauf beharrt, dass nicht „alle, alle, alle“ zum „Tisch des Herrn“ zugelassen sind, wer eine partikulare Tradition als die allein wahre behauptet, der gilt im Kontext der in der Kirche dominant gewordenen Ausgleichsethik nicht nur als Gegner mit einer anderen Position, sondern als zu eliminierender Feind, als moralisches Ungeheuer.
Nur von hierher ist die Massivität der Konflikte verstehbar, die wir heute in der Kirche erleben. In früheren Zeiten verlief die Konfliktlinie zumeist eindeutiger, sofern etwa die von der atheistischen Aufklärung geprägten Gegner des Christentums den kirchlich artikulierten Glauben als den genuin christlichen akzeptierten, von dem sie sich eben absetzten. Diese klare Gegenüberstellung ist heute zerfallen. Sie sitzt jedoch noch immer in den Köpfen der traditionalen Gläubigen. Das erzeugt viele Beurteilungsfehler des aktuellen Konfliktes. Seine Massivität besitzt der Konflikt also deswegen, weil er ein echter innerkirchlicher Religionskrieg ist. Die Gegner des traditionalen Glaubens treten nicht mehr als Ungläubige, sondern umgekehrt als die ihrem Selbstverständnis nach echten Christen auf, die die Mission zu besitzen meinen, den menschenfeindlichen „Antichristen“ wie Kardinal Burke oder Bischof Strickland entgegentreten zu müssen.
*Vigilius, deutscher Philosoph und Blogger: www.einsprueche.substack.com
Bild: Youtube/Das Video vom Papst
1 Max Scheler, Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, in: Gesammelte Werke, Bd. IX, Bern 1976, 145–170
2 Caminante Wanderer: La gran inversión, 2. Oktober 2023
3 Roberto de Mattei: Einer der beunruhigendsten Akte des Pontifikats von Papst Franziskus, 6. Juli 2023