Von Vigilius*
Der übernatürliche Glaube
Die Rede vom „mystischen Leib Christi“ besagt, dass durch den Tod und die Auferstehung Christi sowie die dadurch ermöglichte Aussendung des Heiligen Geistes von Seiten Gottes eine wirklich neue Schöpfung konstituiert wird, und zwar nicht dadurch, dass, wie es die lutherische Theologie schließlich behauptet, die alte Welt einfachhin vernichtet, sondern die erste Schöpfung in der Gnade Christi in „den neuen Himmel und die neue Erde“ transformiert wird. Deswegen ist das Pfingstereignis die Reproduktion der Ausgießung des Schöpfergeistes auf einer nun höheren, eben übernatürlichen Ebene. Dieser Vorgang besitzt eine tiefe trinitätstheologische Dimension: Während der Schöpfer der Welt nicht der Sohn, sondern der Vater ist, der die Welt „in Christus“ hervorbringt, verdankt sich die neue Schöpfung der aktiven Tat des Sohnes selber. Der, in dem die Dinge sind, wird nun unter einer spezifischen Rücksicht zu deren Neubegründer. Aus Liebe zu seinem Sohn eröffnet der Vater, der der ungegründete Grund überhaupt aller Dinge ist, dem aus ihm ewig hervorgehenden göttlichen Sohn die Möglichkeit, dass der Sohn selber nun dem Menschen gegenüber jener Schöpfergott wird, der den Menschen durch sein Opfer aus der sündigen Abtrennung vom Vater und der drohenden Nichtigkeit der Hölle rettet, indem er uns in seine eigene personale Beziehung zum Vater aufnimmt. Das ist das apriorische Ziel des väterlichen Schöpfungsaktes selbst. Die Welt ist für und auf den Sohn hin hervorgebracht.
Die Aufnahme des Menschen in Christi eigene Beziehung zum Vater konstituiert genau das Sein der Kirche; sie ist die in und durch Christus begründete Gemeinschaft der darin begnadeten Menschen mit dem ewigen Sohn. Die Selbsthingabe des Sohnes an den Vater hat uns in sich integriert, so dass wir „Söhne im Sohn“ werden. Wie der Vater dem Sohn die Welt als sein Geschenk übergibt, legt der Sohn die von ihm erlöste und in ihm umgestaltete Welt dem Vater zu dessen Verherrlichung zu Füßen. Die neue Kreatur wird zur Gegen-Gabe des Sohnes innerhalb seiner eigenen Hingabe an den Vater, der den Sohn wiederum als Weltenrichter einsetzt und zum ewigen Lebensprinzip der neuen Schöpfung ermächtigt: Ihm, Christus, ist alle Gewalt gegeben, im Himmel, auf der Erde und unter der Erde. Es ist kein Zufall, dass die Geheime Offenbarung ab dem 21. Kapitel den neuen Himmel und die neue Erde, die bedeutenderweise als das „neue Jerusalem“ bezeichnet werden, als einen großen liturgischen Zusammenhang schildert, in dem „das Lamm“, also der geopferte Christus, für uns die zentrale Bezugsdimension ist. Der ungegründete Grund allen Lebens vermittelt sich uns einzig und allein in Christus. So ist die gesamte Schöpfungs- und Heilsbewegung ein zwar einheitliches, aber differenziertes Geschehen innerhalb der ewigen Beziehung von Vater und Sohn im Heiligen Geist.
Im Blick auf unsere Diskussion der Probleme der modernen Kirche möchte ich zwei Aspekte des geschilderten Heilsvorganges gesondert betonen. Zum einen ist die übernatürlich erhobene Schöpfung eine substantiell neue Schöpfung. Trotz aller Kontinuität zur ersten Schöpfung bildet sie ontologisch eine unableitbar neue Realität, auf die die Natur des Menschen zu ihrer eigenen Vollendung zwar innerlich hingeordnet ist, die durch Gott aber erst in einem zweiten, wiederum völlig freien Akt hervorgebracht wird. Das Verhältnis von erster und neuer Schöpfung, von Natur und Übernatur ist eigentümlich komplexer Art. Es darf keinesfalls im Paradigma eines Bruches beschrieben werden, obwohl es eine echte Zäsur, ein schöpferisches Neubeginnen kennt: „Ist jemand in Christus, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden.“ (2 Kor 5,17) Der Anfang der neuen Schöpfung ist auf der Zeitachse lokalisierbar: Basal beginnt er mit der Konstitution der „unio hypostatica“ durch den Heiligen Geist im Leib der Jungfrau. In Gott selber gibt es natürlich keine zeitlichen Erstreckungen, alle Ereignisse auf der Zeitachse sind in ihm gleich gegenwärtig. Deswegen sind diese Akte in ihm nur logisch unterscheidbar, aber diese Unterscheidung ist gleichwohl von überragender theologischer Bedeutung.
Der zweite Aspekt hängt damit innerlich zusammen. Aus der Menschwerdung Gottes folgt keineswegs, dass Christus, der die menschliche Natur als seine eigene angenommen und sie darin mit der göttlichen Natur verbunden und übernatürlich erhoben hat, damit auch schon mit jeder einzelnen menschlichen Person vereinigt ist. Auch dieser Punkt ist von nicht überschätzbarer Relevanz. Ich halte es für hochgefährlich, wenn „Gaudium et Spes“ in Nr. 22 formuliert: „Denn er, der Sohn Gottes, hat sich durch seine Fleischwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt.“ Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass das gesamte Wojtyla-Pontifikat einschließlich des im Assisi-Ereignis gipfelnden ökumenischen Furors an diesem Satz hängt. Schon in Wojtylas erster Enzyklika „Redemptor hominis“ hat diese Konzilsaussage Kronzeugencharakter.
Das im Konzilstext eingefügte „gewissermaßen“ indiziert freilich ein gewisses Problembewusstsein. Und in der Tat: Die Formulierung suggeriert, als ließe sich das Verhältnis des menschgewordenen Sohnes als eines solchen zu allen anderen Menschen im Paradigma des Verhältnisses beschreiben, das Christus als die ewige Person des Logos notwendigerweise zu den beiden anderen Personen des einen und selben göttlichen Wesens besitzt. Damit kommen aber die Ebenen durcheinander. Der Satz des Konzilstextes ist viel zu grob, er muss geradezu in die Irre führen. Ohne den komplizierten Sachverhalt an dieser Stelle näher vertiefen zu können, benenne ich nur das Resultat der notwendigen Distinktionen: Christus verbindet seine Menschheit erst in einem zur Inkarnation logisch zweiten, völlig freien Akt, mit anderen Menschen zu einer mystischen Gemeinschaft. Und zwar verbindet er sich mit jenen, die er „aus der Welt erwählt hat“ (Joh 15,19), und die aus diesem Grunde, so lautet der komplette johanneische Satz, von der Welt, also den Nicht-Erwählten, gehasst werden. Diese Verbindung geschieht durch die Vermittlung des Heiligen Geistes, dessen Aussendung ein eigener Heilsakt ist, in dem erst die Kirche konstituiert wird, die sowohl das Werkzeug des Gottesgeistes zur Vereinigung der Menschen mit Christus als auch selber die mystische Gemeinschaft mit Christus ist. In dieser Vereinigung ergießt sich der Reichtum der göttlichen Natur, der Christi heilige Menschheit erfüllt, in die Gläubigen. Aus diesem Grunde kann die Tradition die Menschheit Christi als das eigentliche Sakrament bezeichnen, dessen konkrete Zueignungsmodi für uns die leiblich-sakramentalen Vollzüge der Kirche sind, die uns Christus in der Vermittlung des ihn ontologisch repräsentierenden Weiheamtes selber spendet.
Dem entspricht unmittelbar die anthropologische Seite. Denn in analoger Weise zur freien Selbstgabe des inkarnierten Logos und zum Akt der Gottesmutter, die über ihre menschliche Natur so verfügt, dass sich der göttliche Logos durch den marianischen Hingabeakt die menschliche Natur aneignen kann, müssen auch wir die von uns je einmalig besessene menschliche Natur dem Logos zur Verfügung stellen, damit er sie mit seiner Gnade erfüllen kann. Das heißt: Ob der menschgewordene Gott sich überhaupt mit uns zu vereinigen vermag, hängt wesentlich auch an unserer freiheitlichen Selbstverfügung. Dass unsere Selbstgabe an den Logos mit dessen freier Selbstgabe an uns nicht auf einer Ebene steht, sieht man im Übrigen daran, dass unser freiheitlicher Akt seinerseits schon wieder Ausdruck seiner erwählenden Gnade ist. Die göttliche Erwählungsgnade kommt unserer Freiheit zuvor und vermag unergründlicherweise die Zustimmung unserer Freiheit, ohne die Freiheit zu zerstören, unfehlbar hervorzubringen. Das Sakrament ist dann Gottes Antwort auf unseren verdankten freiheitlichen Glaubensakt, in dem wir uns der „Überschattung durch den Heiligen Geist“ öffnen, damit er unsere Natur mit der verklärten Menschheit Christi verbinden und so in Christus zu einer neuen Schöpfung umgestalten kann. Für sich genommen ist die Inkarnation allererst die Ermöglichungsbedingung für die tatsächliche Verbindung des menschgewordenen Logos mit den einzelnen Menschen. Hier gilt präzise der berühmte Satz des Angelus Silesius:
„Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, doch nicht in dir, du gingest ewiglich verloren.“
*Vigilius, deutscher Philosoph und Blogger: www.einsprueche.com
Bild: Youtube/Das Video vom Papst
Fortsetzung: Ist Jorge Bergoglio ein Stratege? (III)