(Rom) Am Samstag wurde ein Dokument aus den vatikanischen Archiven veröffentlicht, das ein neues Licht auf Marcial Maciel Degollado (1920–2008), den Gründer der Legionäre Christi, wirft.
Am 20. Juli publizierte der Corriere della Sera in seiner Kulturbeilage La Lettura einen Entwurf der römischen Congregatio Negotiis Religiosorum Sodalium Praeposita, der Vorläuferin des heutigen Dikasteriums für die Institute geweihten Lebens und für die Gesellschaften apostolischen Lebens. Dieses Dokument aus dem Jahr 1956 wurde in den bereits geöffneten Archiven aus der Zeit des Pontifikats von Pius XII. gefunden.
Völlig unbekannt war es bisher nicht: Bekannt war bereits eine andere, jüngere Fassung. Die Unterschiede in der Ausfertigung erlauben nun aber weitergehende Rückschlüsse.
Der Mexikaner Marcial Maciel gründete 1941 die Legionäre Christi. 1944 wurde er von seinem heiligen Onkel Rafael Guízar Valencia, der Bischof von Veracruz-Jalapa war, zum Priester geweiht. Erst als er sich wegen Mißbrauchsvorwürfen auf Anweisung von Papst Benedikt XVI. 2005 aus seinem Orden zurückziehen mußte, wurde bekannt, daß er in jungen Jahren aus dem Priesterseminar seiner Heimatdiözese und dann auch aus dem Jesuitenorden entlassen worden war. Laut Maciel sei dies geschehen, weil er versucht habe unter den Seminaristen eine Ordensgemeinschaft zu gründen. In Wirklichkeit war offenbar Maciels Homosexualität ruchbar geworden.
Nun wurde ein Dokument entdeckt, das ein neues Licht auf die Biographie Maciels wirft. Gefunden wurde das Dokument in den vorzeitig geöffneten Archiven des Pontifikats von Pius XII. Die schrittweise Öffnung war eine Reaktion auf eine KGB-gesteuerte Kampagne gegen die Kirche, in der das Ansehen des bereits verstorbenen Pius XII. diskreditiert wurde. Die Kampagne machte diesem Papst zum Vorwurf, zu der im Zweiten Weltkrieg erfolgten grausamen Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten geschwiegen zu haben. Zu Lebzeiten dieses Papstes wußten die Zeitgenossen noch, daß das genaue Gegenteil der Fall war. Pius XII. hatte mehr Juden das Leben gerettet als alle anderen Staatsmänner seiner Zeit zusammen. Die wissenschaftliche Auswertung der Archive soll definitive Klarheit schaffen, so die Absicht von Papst Franziskus, der 2019 entschied, die Archive von Pius XII. bis 1958 vollständig zu öffnen. Um genau zu sein: Teile der Archive waren bereits von Paul VI. geöffnet worden, um auf die damalige kirchenfeindliche Kampagne zu reagieren. Johannes Paul II. machte weitere Archivbestände zugänglich. Franziskus setzte den letzten Schritt.
Auf diese Weise wurde nun das Maciel betreffende Dokument in den Beständen des vatikanischen Staatssekretariats entdeckt. Wie es zum Corriere della Sera gelangte, ist weniger klar. Aus diesem Entwurf geht hervor, daß der Heilige Stuhl unter Pius XII. Marcial Maciel hart bestrafen wollte. Dabei wurde auch die Entlassung aus dem Priesterstand als Möglichkeit vorgesehen. Zu einer Umsetzung kam es wegen des Todes von Pius XII. aber nicht mehr.
Associated Press (AP) ist das entdeckte Dokument so wichtig, daß gestern ein Artikel darüber veröffentlicht wurde. Darin heißt es: „Der Tod von Pius 1958 ermöglichte es Maciels Anhängern, das Führungsvakuum zu nutzen, um seinen Namen und seinen Orden zu retten.“ Dies läßt sich auch anders lesen, nämlich, daß die Wendepontifikate von Johannes XXIII. und Paul VI. und der damit einhergehende progressive Umbruch in der Sexualmoral Maciel vor einer Strafe schützten. Nach den 20 Jahren dieser beiden Pontifikate sahen Maciel und sein Werk tatsächlich ganz anders aus und er konnte sich die schützende Hand von Johannes Paul II. sichern, bis nach seinem Tod der Skandal Anfang des 21. Jahrhunderts aufbrach und Papst Benedikt XVI. reinen Tisch machte.
Die bisher umfangreichste öffentlich zugängliche Dokumentation über Maciel stammte von der römischen Ordenskongregation, die die Legionäre Christi seit ihrer Gründung 1941 wie alle Orden beaufsichtigte.
Im Jahr 2012 veröffentlichten einige von Maciels mexikanischen Opfern mehr als 200 Dokumente aus der Zeit von 1940 bis 2002 im Internet, die ihnen unter der Hand jemand zugespielt hatte, der Zugang zu den Archiven der Ordenskongregation hatte. Diese Dokumente beschreiben detailliert, daß der Vatikan Beweise für Maciels Fehlverhalten hatte, aber gleichzeitig auch zahlreiche Berichte von Bischöfen und auch Kardinälen Rom erreichten, die sich sehr positiv über den Orden äußerten. Da es Maciel gelang, sich in die kirchenpolitischen Frontbildungen einzuklinken, entstand bei Teilen der Kirchenführung der Eindruck, die Anschuldigungen gegen Maciel seien eine Verleumdungskampagne gegen einen konservativen Orden. Dieser Eindruck wurde aus Maciels Umfeld bewußt gefördert, sobald die Gutgläubigkeit einiger Prälaten erkannt wurde, die dachten, Maciel werde zu Unrecht beschuldigt.
Das neuentdeckte Dokument aus dem vatikanischen Staatssekretariat liefert nun ein weiteres Detail zum Gesamtbild. Es handelt sich um den Originalentwurf eines Vermerks vom 1. Oktober 1956 der damaligen Ordenskongregation. Genau an jenem Tag war Maciel in Rom eingetroffen, wohin er zitiert worden war, nachdem er als Generaloberer der Legionäre Christi suspendiert worden war. Grund der Suspendierung, über die Pius XII. unterrichtet war, war Maciels Drogenabhängigkeit.
Aus dem neuen Dokument geht hervor, daß der Heilige Stuhl noch weitergehende, härtere Maßnahmen ergreifen wollte. So sollte Maciel jeder Kontakt mit Seminaristen verboten werden. Alternativ wurde die Suspendierung vom Priestertum angedroht.
Der Vermerk von 1956 stammt von Msgr. Giovanni Battista Graf Scapinelli di Léguigno, der später Kurienbischof und Konzilsteilnehmer wurde. Damals war der Vatikandiplomat noch Untersekretär der Ordenskongregation. Msgr. Scapinelli vermerkte: „Ich werde ihm befehlen, sich heilen zu lassen und jeden Kontakt mit seinen Seminaristen zu unterlassen, bis die Kongregation etwas anderes entscheidet. Wenn er sich nicht innerhalb von zwei Tagen stellt, wird Maciel präventiv angeordnet: Entweder wird er geheilt oder er bleibt a divinis suspendiert.“
Dann starb Pius XII. und während der Pontifikate von Johannes XXIII. und Paul VI. konnte sich Maciel „reinwaschen“ und schließlich Johannes Paul II. mit seinem Orden in einem kirchenpolitischen Kontext als „Verbündeten“ präsentieren. Dazu sind die Archive allerdings noch nicht zugänglich. So kam es, daß Maciel nicht 1956, sondern erst 2006 unter Benedikt XVI. wegen seines Lebenswandels verurteilt wurde.
In der bisher bekannten Fassung, die 2012 veröffentlicht worden war, war das Kontaktverbot zu den Seminaristen durchgestrichen. Das legt nahe, daß Msgr. Scapinelli den Entwurf weitgehend neu formulierte. Unter wessen Einfluß das geschah, ist nicht bekannt. Bekannt ist, daß Kardinal Giuseppe Pizzardo, damals Sekretär des Heiligen Offiziums, eine schützende Hand über die Legionäre Christi hielt. Der konservative Pizzardo hatte in jenen Jahren die nach dem Zweiten Weltkrieg aufbrechende Bewegung der „Arbeiterpriester“, die eine Vereinbarkeit von Sozialismus und Christentum propagierten, bekämpft. Es ist denkbar, daß bereits er sich durch die antikommunistische Ausrichtung von Maciels Werk im revolutionären Mexiko, wo die Kirche unter Druck stand, blenden ließ. Im AP-Artikel wird der Kardinal als „Beschützer“ des Ordens genannt. Der Vermerk von Msgr. Scapinelli sagt allerdings mehr aus. Dort heißt es:
„In Übereinkunft mit RP Larraona hatte der Unterfertigte in geheimer Form S. Em. Kardinal Pizzardo informiert, der in der Vergangenheit Sympathie für das Werk von Maciel gezeigt hatte, damit dieser alles wisse.“
Msgr. Scapinelli ging davon aus, daß die Sympathie von Kardinal Pizzardo nur deshalb bestanden habe, weil dieser nicht über alle Informationen zu Maciel verfügte, die der Ordenskongregation vorlagen: homosexueller Mißbrauch, Drogenabhängigkeit, Verlogenheit. Ob dem tatsächlich so war und Pizzardo seine Unterstützung aufgab, läßt sich derzeit nicht mit Sicherheit sagen. Tatsache ist, daß Maciel sich am 1. Oktober in Begleitung eines mexikanischen Bischofs bei Kardinal Pizzardo gemeldet hatte, der um 17:10 Uhr Msgr. Scapinelli telefonisch darüber informierte:
„Er fragt mich, was er ihm [Maciel] sagen solle.“
Mit RP Larraona war Msgr. Scapinellis direkter Vorgesetzter Pater Arcadio Maria Larraona gemeint, ein spanischer Claretiner, der seit 1950 Sekretär der römischen Ordenskongregation war. Msgr. Larraona wurde 1959 von Johannes XXIII. zum Kardinal kreiert, verließ aber als neuer Generaloberer des Claretinerordens die Römische Kurie für mehrere Jahre. Die Bischofsweihe erhielt Kardinal Larraona erst 1962. Beim Zweiten Vatikanischen Konzil gehörte er der konservativen Richtung an, die sich im Gegensatz zu den Progressiven erst spät im Coetus Internationalis Patrum organisierte.
In der maschinengeschriebenen Endfassung, die vom 2. Oktober 1956 datiert und ebenfalls im Archiv des Staatssekretariats aufliegt, findet sich kein Hinweis mehr auf ein Kontaktverbot mit Kindern und Jugendlichen. Enthalten blieb die Verpflichtung, daß sich Maciel in ärztliche Behandlung zu begeben habe, um von seiner Morphiumabhängigkeit geheilt zu werden. Auch die Suspendierung vom Priestertum wurde bei Zuwiderhandlung nicht mehr angedroht. In anderen Dokumenten heißt es, daß die Ordenskongregation „aufgrund von Empfehlungen und Interventionen hochrangiger Persönlichkeiten nicht weiter gegen Pater Maciel vorgehen konnte“.
Allerdings beauftragte der Heilige Stuhl externe Visitatoren, die nicht aus der Römischen Kurie kamen, eine gründliche Untersuchung vor Ort durchzuführen. Pius XII., so geht es aus dem Vermerk von Msgr. Scapinelli hervor, war über die Affäre des mexikanischen Priesters und Ordensgründers unterrichtet und hatte dessen Suspendierung als Generaloberen der Legionäre Christi gutgeheißen. Scapinelli vermerkte, daß Maciel „aus Gründen, die dem Heiligen Vater bekannt sind“, als Generaloberer suspendiert worden war.
Ende des Jahres 1956 legte die Ordenskongregation dem Papst eine umfangreiche Dokumentation mit den Berichten der Visitatoren vor. Die Rede ist von „reichhaltigen Unterlagen“. Im Begleitschreiben dazu heißt es, daß die Ordenskongregation die Gründung von Maciel nicht als Orden päpstlichen Rechts anerkennen wollte, weil sie „ernste“ Bedenken gegen Maciel hege. So konnte der amtierende Präfekt der Ordenskongregation, Kardinal João Braz de Aviz, 2019 erklären, daß seine Behörde nichts mit der Vertuschung von Maciels homosexueller Mißbrauchstäterschaft zu tun hatte.
Der Tod von Pius XII. befreite Maciel und sein Werk offenbar von dem römischen Druck. Als Nachfolger wurde Johannes XXIII. gewählt. Msgr. Scapinelli wurde als Unterstaatssekretär an die Kongregation für die außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten (heute die Zweite Sektion des Staatssekretariats) versetzt und Maciel 1959 wieder als Generaloberer der Legionäre Christi eingesetzt. 1965 erfolgte unter Paul VI. die päpstliche Anerkennung von Maciels Orden.
Maciel starb 2008, wenige Jahre nach seiner Verurteilung durch Papst Benedikt XVI. Der Orden wurde für einige Jahre vom Heiligen Stuhl unter kommissarische Verwaltung gestellt, um einen von Rom verordneten „Reinigungsprozeß“ durchzuführen. 2010 distanzierte sich die Ordensleitung von ihrem Gründer Marcial Maciel. 2012 wurde der damalige Generalobere vom Päpstlichen Delegaten entlassen und 2014 auf einem Ordenskapitel unter römischer Aufsicht eine neue Ordensleitung gewählt. Seit 2020 ist Pater John Connor Generaloberer der Legionäre Christi. Obwohl mit dem Generalkapitel von 2014, der Wahl eines neuen Generaloberen und der Annahme der neuen Ordenskonstitutionen die Aufgabe des päpstlichen Kommissars, wie sie Benedikt XVI. gedacht hatte, abgeschlossen war, befinden sich die Legionäre Christi noch heute unter kommissarischer Aufsicht, indem Papst Franziskus dem Orden Pater Gianfranco Ghirlanda SJ als „Päpstlichen Assistenten“ zur Seite stellte. Pater Ghirlanda wurde von Franziskus bereits mehrfach und zeitgleich als päpstlicher Kommissar eingesetzt.
Den Legionären Christi gehörten 2020 975 Priester an. 2006, als Maciel bereits durch Rom verurteilt war, waren es erst 642 Priester. Ein gutes Drittel der heutigen Ordenspriester wurde erst nach Maciels Entfernung aus dem Orden geweiht.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: AAV/Wikicommons (Screenshot)
In den letzten Jahrzehnten ist – jedenfalls in Europa – eine Überalterung und ein (oft auch moralischer) Niedergang der „alten“ Orden zu beobachten.
Zugleich sind zahlreiche neue geistliche Gemeinschaften und „Werke“ entstanden.
Wie kann es sein, daß sich so oft nach Jahren schwerwiegende Verfehlungen, wie Machtmißbrauch, geistlicher Mißbrauch, sexuelle Übergriffe der Gründerpersönlichkeiten herausstellen, die die Gemeinschaften in schwere Krisen führen können und in einen Prozeß der Reinigung und Neu – Findung, wenn sie denn überhaupt weiter existieren ?
Wie soll man als Gläubiger damit umgehen, wenn wieder so eine „Ent-täuschung“ eingetreten ist ?
ich möchte vorweg bemerken, dass ich traditionelle Christin bin, die strenge katholische Sexualmoral bejahe, und mit den Legionären Christi nichts zu tun habe. Trotzdem stört mich bei diesem Artikel,dass einvernehmliche (wenn auch sündhafte ) Beziehungen zwischen erwachsenen Männern, Beziehungen zwischen Höhergestellten und Erwachsenen, Päderastie ( Sexualität mit Jugendlichen) und Kindern in einen Topf geworfen werden, zuerst heisst es, es wurde der Kontakt zu erwachsenen Seminaristen verboten, und im nächsten Satz, das Kontaktverbot zu Minderjährigen wurde wieder aufgehoben, das ist nicht ganz kohärent.