
Anfang April veröffentlichte der spanische Journalist Javier Martínez Brocal ein Gesprächsbuch mit Papst Franziskus über die Beziehung zu Benedikt XVI. Dessen langjähriger Sekretär, Msgr. Georg Gänswein, wurde vor zwei Tagen von Franziskus zum Apostolischen Nuntius in Litauen, Lettland und Estland ernannt. Folgt man den Kommentatoren, so wurde der Titularerzbischof aus Riedern am Wald von einem Exil in das nächste geschickt. Da lohnt es sich noch einmal einen Blick in das Buch von Martínez Brocal zu werfen, das soeben in einer italienischen Ausgabe erschienen ist.
Der Autor von „El Sucesor“ (dt. Der Nachfolger) pflegt engen Kontakt mit Santa Marta, was nachvollziehbar ist, da sonst das Gesprächsbuch nie zustande gekommen wäre. Es ist immerhin bereits das dritte Buch von Martínez Brocal über Papst Franziskus. Eine bessere Einschätzung, wie die Inhalte zu bewerten sind, erlauben einige Episoden.
Als Franziskus sich am 11. Januar 2022 in ein römisches Schallplattengeschäft begab, wo er angeblich ein „alter Kunde“ ist, um „einige Schallplatten“ zu kaufen, befand sich „zufällig“ auch Javier Martínez Brocal vor Ort, um hofschranzenhaft Fotos zu machen und darüber zu berichten. Damals war der Spanier noch Leiter der dem Opus Dei nahestehenden Nachrichtenagentur Rome Reports. Natürlich war der „Zufall“ so zufällig wie der tägliche Sonnenaufgang. Daß der aus Granada gebürtige Journalist ein Hofberichterstatter von Santa Marta ist, hatte sich auf deutlich weniger sympathische Weise bereits 2018 gezeigt.
Damals war Franziskus in die größte Bedrängnis seines Pontifikats geraten, als Erzbischof Carlo Maria Viganò, der ehemalige Apostolische Nuntius in den USA, in einem mehrseitigen Dossier detailliert darlegte, daß der argentinische Papst über das homo-päderastische Doppelleben seines Vertrauten Kardinal Theodore McCarrick genau Bescheid wußte und dennoch nichts unternommen hatte, vielmehr den schwer kompromittierten US-Amerikaner förderte, aber dann so tat, als falle er aus allen Wolken, als die New York Times im Juli 2018 McCarricks „Schwuchteleien“ (Papst Franziskus) ans Licht brachte. Javier Martínez Brocal eilte Franziskus mit einem Video zu Hilfe, in dem er „unbegründete Anschuldigungen“, „schwere Verleumdungen“ und „gemeinste Interpretationen“ gegen Erzbischof Viganò verbreitete, wie InfoVaticana damals feststellte: „Die Wahrheit ist jedoch für die Produktionsfirma Rome Reports unerheblich“, sie habe das Video gegen Viganò „in böser Absicht“ veröffentlicht.
Javier Martínez Brocal ist inzwischen nicht mehr bei Rome Reports, sondern seit 2022 Vatikanist von ABC, der führenden bürgerlichen Tageszeitung Spaniens. Als solcher verfaßte er das Gesprächsbuch „El Sucesor. Meine Erinnerungen an Benedikt XVI.“. Gemeint sind die Erinnerungen von Papst Franziskus an seinen Vorgänger. Das „am grünen Tisch konzipierte Buch“, so der römische Priesterblog Silere non possum in seiner Rezension, hat einen Zweck: Es dient dazu, der Welt einen großen Bären aufzubinden über eine angebliche Kontinuität zwischen den beiden Päpsten. Es wärmt das Anfangsnarrativ von 2013 wieder auf, als bergoglianische Haus- und Hofberichterstatter das Märchen in die Welt setzten, daß „kein Blatt“ Papier zwischen Benedikt XVI. und Franziskus passen würde.
Doch warum entstand dieses Auftragswerk? Die Antwort hat mit dem eingangs erwähnten Erzbischof Georg Gänswein zu tun. Dieser hatte am 9. Januar 2023 das Buch „Nichts als die Wahrheit. Mein Leben mit Benedikt XVI.“ veröffentlicht. Die üblichen „Wohlmeinenden“ hatten dem deutschen Prälaten zum Vorwurf gemacht, daß es quasi – warum auch immer – „pietätlos“ sei, nur wenige Tage nach der Bestattung des deutschen Papstes das Buch vorzulegen, wo doch jedem klar sein mußte, daß dessen Druck und Präsentation natürlich schon lange vor dem Tod Benedikts kalendarisiert waren und kein Verlag sich eine solche Gelegenheit entgehen lassen würde. Die deutsche Ausgabe des Gänswein-Buches kam einige Monate später auf den Markt.
„Es handelt sich um zwei sehr spezifische Vorgänge. Das erste ist das Buch eines Mannes, Sekretär eines großen Papstes, der seine eigenen Memoiren erzählt. Das ist nichts Neues, das ist auch schon bei früheren Päpsten geschehen. Das zweite ist ein Text des amtierenden Papstes, um um jeden Preis, und ohne sich an seine eigene Rolle zu erinnern, auf das erste Buch zu reagieren und all jene in ein schlechtes Licht zu rücken, die seinem Vorgänger gedient haben“, so der römische Priesterblog Silere non possum.
Ein Buch und seine Absicht
Das Gesprächsbuch von Javier Martínez Brocal mit Papst Franziskus verfolgt klare Ziele:
- Entscheidungen von Franziskus werden präsentiert, als habe sie (auch) Benedikt XVI. gewollt.
- Wo Benedikt XVI. nicht direkt angegriffen werden kann, werden jene diskreditiert, die ihn unterstützt haben.
- Benedikt XVI. wird als fiktive Vaterfigur des regierenden Papstes dargestellt.
- Unangenehme Fragen werden zwar pro forma gestellt, doch nur, um sie mit Hilfe von Martínez Brocal unbeantwortet zu lassen und von ihnen abzulenken.
- Erzbischof Georg Gänswein, dem treuen Sekretär von Benedikt XVI., wird eine besonders „freundliche“ Behandlung zuteil.
Ein Beispiel soll das illustrieren.
So behauptet Franziskus sinngemäß, daß bereits Benedikt XVI. den Vatikandiplomaten Pietro Parolin statt Kardinal Tarcisio Bertone als Kardinalstaatssekretär vorgesehen hatte, doch von mächtigen Zirkeln daran gehindert worden sei. In Wirklichkeit war Parolin 2006 als Untersekretär im vatikanischen Staatssekretariat erst stellvertretender Außenminister und noch nicht einmal Bischof. Parolin wird erst 2009 zum Apostolischen Nuntius und zugleich zum Titularerzbischof befördert. Benedikt XVI. war entschlossen, den Einfluß der Diplomatenriege im Vatikan zurückzudrängen. Allein schon deshalb wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, den vielfach kritisierten Nicht-Diplomaten Tarcisio Bertone durch einen Berufsdiplomaten der Sodano-Riege wie Parolin zu ersetzen. Das brachte Benedikt die dauerhafte Gegnerschaft jener Vatikandiplomaten ein, die sich als Seilschaft um den ehemaligen Kardinalstaatssekretär Kardinal Angelo Sodano gesammelt hatten und das Pontifikat des deutschen Papstes, wo immer möglich, behinderten und boykottierten. Diese Seilschaft unterstützte im Konklave 2013 jenen Kandidaten, der sie in ihre Machtpositionen zurückbringen würde: Jorge Mario Bergoglio. Der Berufsdiplomat Beniamino Stella, 1987 zum Nuntius und Titularerzbischof ernannt, war 2013 Leiter der Päpstlichen Diplomatenakademie, die als Drehscheibe für die Papstwahl diente. Kardinal Bergoglio sei, so der Priesterblog Silere non possum, während der Generalkongregationen im Vorfeld des Konklaves in der Akademie „durch eine Seitentür“ ein und aus gegangen. Stella wurde für seine Dienste mit dem Kardinalspurpur und der für einen Diplomaten untypischen Beförderung zum Präfekten der Kleruskongregation belohnt. Kurzum: Die Geschichte ist schlichtweg erfunden.
Zu Gänswein:
Am 11. Juni 2024 hatte sich Franziskus mit Teilen des römischen Klerus getroffen. Katholisches.info berichtete darüber. Bei dieser Gelegenheit erzählte er von einem „skandalösen“ Umzug „eines Monsignore“, der „zwei Sattelzüge“ voll mitgenommen habe, als er den Vatikan verließ. Diese Anklage von Franziskus im pauperistischen Sinn galt Msgr. Gänswein. Was der Papst nicht erzählte: Es handelte sich um zwei einfache Lastwagen, die nicht nur Gänsweins Habseligkeiten von immerhin 30 in Rom verbrachten Lebensjahren abtransportierten, sondern auch die der vier Memores Domini, die Benedikt XVI. betreut hatten, und auch Sachen des deutschen Papstes, die nicht im Vatikan blieben, so Silere non possum. Da Franziskus kaum den ganzen Tag am Fenster stehen wird, um LKWs zu zählen, wurde ihm die „Information“ hinterbracht. „Wieviel Gerede schenkt der Papst sonst noch sein Gehör?“, fragt sich Silere non possum.
Silere non possum macht noch auf eine andere im Buch von Javier Martínez Brocal präsentierte und gegen Msgr. Gänswein gerichtete Unfreundlichkeit aufmerksam. Auch hierbei handelt es sich um eine Geschichte, die so plausibel klingt wie Nilpferd auf dem Mond. Als Benedikt XVI. erkrankte, besuchte ihn Franziskus im Kloster Mater Ecclesiae:
„Unmittelbar danach geschah jedoch etwas sehr Schlimmes. Als ich das Kloster verließ, sagte einer der Ärzte in einem verächtlichen Ton zur Krankenschwester, die mich begleitete: ‚Sie sind ein Spion.‘ Was ich hier erzähle, ist die reine Wahrheit. Die Ärzte sagten, daß nichts nach außen dringen dürfe. Irgendwie kam mir der Gedanke, daß sie Benedikt quasi ‚in Gewahrsam‘ hielten. Ich meine natürlich nicht gefangen oder eingesperrt, sondern ‚überwacht‘.“
Man beachte die Wortwahl: „die reine Wahrheit“, die frappierend an den Gänswein-Buchtitel „Nichts als die Wahrheit“ erinnert. Ist es überhaupt eines Papstes würdig, sich einer solch saloppen Wortwahl zu bedienen? Sie provoziert geradezu Gegenfragen. Die Anspielung, nur „ein Gedanke“, ist natürlich gegen Gänswein, den persönlichen Sekretär, gerichtet, denn wer sonst sollte Benedikt XVI. „in Gewahrsam“ halten und „überwachen“? Benedikt wird von Franziskus als Opfer von Machenschaften und Manipulation und Gänswein, zwangsläufig, „als unzuverlässig und kalkulierend“ (Silere non possum) karikiert. Doch, wie die Ernennung Gänsweins zum Nuntius in den baltischen Staaten zeigt, scheint es hier vor allem einen Kalkulierer zu geben: Franziskus, der seine Gegenspieler erniedrigt, um einige dann gönnerhaft aufzufangen. Alles scheint für ihn eine Frage des Images zu sein, seines Images. Und überhaupt: Wie kommt ein Papst dazu, den Vatikan als ein Natternnest der Intrigen zu verzerren, wie es hundertfach Kirchenfeinde taten und dabei logen, daß die Balken nur so krachten?
Gänswein ertrug das alles geduldig und schweigend, auch dann, als Franziskus sich über das Aufheben um den Tod von Benedikt XVI. ärgerte und selbst im Vatikan nicht nur die Staatstrauer, sondern insgesamt eine offizielle Trauer unterband. Seine Begründung? Eine offizielle Trauer komme nur regierenden Oberhäuptern zu, bestenfalls in Nordkorea werde das anders gehandhabt. Die Anspielung, die von Silere non possum berichtet wurde, dessen Mitarbeiter zum Teil im Vatikan tätig sind, war ebenso beißend wie ungerecht. Franziskus wußte natürlich, daß es seit mehr als 700 Jahren keinen Tod eines ehemaligen Papstes mehr gegeben hatte und ohnehin nie Protokolle für eine solche Eventualität existierten. Noch heute heißt es in Rom, daß die Ehren, die Franziskus seinem Vorgänger im Tod zukommen ließ, „schäbig“ waren. Dazu gehört die Tatsache, daß Franziskus’ Predigt am Sarg Benedikts nicht nur für bergoglianische Verhältnis erstaunlich kurz war, sondern der argentinische Pontifex das „Kunststück“ schaffte, den Verstorbenen, dessen Leben und Werk mit keinem Wort zu erwähnen.
Oder die Weigerung, obwohl ihn mehrere Kardinäle darum baten, die Totenmesse nicht am Donnerstag zu halten, sondern auf den Samstag zu verlegen, um ihnen die Anreise zu ermöglichen.
Ebenso die Tatsache, daß Franziskus, nachdem er den Segen gespendet hatte, nicht wartete, bis der Sarg mit dem Leichnam Benedikts in die Papstgruft getragen wurde – dorthin wollte er ihn ohnehin nicht begleiten –, sondern ihm sofort den Rücken zudrehte und den Petersdom verließ.
„Diejenigen, die vor und nach der Messe in der Sakristei waren, können bezeugen, wie verärgert Franziskus an diesem Tag war“, so der römische Priesterblog Silere non possum.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: VaticanMedia (Screenshot)
Wenn man mich fragt, wessen Buch ich Glauben schenke, dem des Papstes oder dem Gänsweins, dann ist meine Antwort eindeutig. Der Versuch des Papstes sein Handeln selber zu legitimieren, ist derart durchsichtig, dass er Bände spricht.